Urteil des BVerfG vom 22.09.2011

mitgliedstaat, körperliche unversehrtheit, anerkennung, psychologisches gutachten

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Alexander Seifert,
in Sozietät Rechtsanwälte Dr. Bader & Partner,
An der Fleischbrücke 1-3, 90403 Nürnberg -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 947/11 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn K...,
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 30. März 2011 - 1
St OLG Ss 42/11 -,
b) das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8. November 2010 - 15
Ns 915 Js 140982/2010 -,
c) das Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom 20. Mai 2010 - 6 Ds 915 Js
140982/10 -
und
Antrag auf Festsetzung des Gegenstandswerts
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Di Fabio,
Gerhardt
und die Richterin Hermanns
am 22. September 2011 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 30. März 2011 - 1 St OLG
Ss 42/11 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht
aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache
wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
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Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird im Hauptsacheverfahren
auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro) und im Verfahren auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung auf 4.000 € (in Worten: viertausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof
der Europäischen Union (Europäischer Gerichtshof) hinsichtlich der Auslegung der
Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
20. Dezember 2006 über den Führerschein (3. Führerscheinrichtlinie - ABl L 403/18).
I.
1. Das Amtsgericht Erlangen verhängte gegen den Beschwerdeführer im Jahr 2007
eine isolierte Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis von neun Monaten (§ 69a
Abs. 1 Satz 3 StGB). Nach Ablauf und vor Tilgung der Sperre im
Verkehrszentralregister erwarb der Beschwerdeführer in der Tschechischen Republik
e i n e Fahrerlaubnis, in welcher der tschechische Zweitwohnsitz des
Beschwerdeführers eingetragen ist.
2. Das Amtsgericht Erlangen verurteilte den Beschwerdeführer mit angegriffenem
Urteil vom 20. Mai 2010 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei
Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten und verhängte eine erneute
isolierte Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis von zwölf Monaten. Das
Landgericht Nürnberg-Fürth verwarf die dagegen gerichtete Berufung des
Beschwerdeführers mit angegriffenem Urteil vom 8. November 2010 und änderte auf
die Berufung der Staatsanwaltschaft das Urteil des Amtsgerichts dahingehend ab,
dass die Gesamtfreiheitsstrafe zu Lasten des Beschwerdeführers auf sechs Monate
erhöht wurde.
Das Oberlandesgericht Nürnberg verwarf die dagegen gerichtete Revision des
Beschwerdeführers
mit angegriffenem Beschluss vom 30. März 2011 als
unbegründet. § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 der Verordnung über die Zulassung von
Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung - FeV) versage das Recht,
von einer ausländischen EU-Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, wenn
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eine isolierte Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis im Inland verhängt worden
sei. Zwar sei die Sperre zu dem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer die
tschechische Fahrerlaubnis erworben habe, und zu den jeweiligen Tatzeiten bereits
abgelaufen gewesen. Dies ändere jedoch nichts, weil die Sperre noch im
Verkehrszentralregister eingetragen und nicht tilgungsreif sei (vgl. § 28 Abs. 4 Satz 3
FeV i.V.m. § 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVG).
Diese Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV sei mit
Unionsrecht, insbesondere mit Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der 3. Führerscheinrichtlinie,
vereinbar (mit Hinweis auf VGH München, Beschluss vom 7. Oktober 2010 - 11 CS
10.1380 -, NJW 2011, S. 1380). Der Beschwerdeführer habe wegen Alkoholdelikten
im Straßenverkehr wiederholt belangt werden müssen. Er habe sich dadurch in
hohem Maße zum Führen von Kraftfahrzeugen als ungeeignet erwiesen. Angesichts
der Gefahren, die vom motorisierten Straßenverkehr für das menschliche Leben und
die körperliche Unversehrtheit insbesondere dann ausgingen, wenn charakterlich
ungeeignete Personen wie der Beschwerdeführer zum Führen von Kraftfahrzeugen
zugelassen würden, sei der europäische Normgeber gehalten gewesen, diesem
Schutzauftrag bei der Ausgestaltung der 3. Führerscheinrichtlinie gerecht zu werden.
3. Auf den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
setzte die Kammer die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des
Amtsgerichts Erlangen vom 20. Mai 2010 in Form des Urteils des Landgerichts
Nürnberg-Fürth vom 8. November 2010 mit Beschluss vom 30. Mai 2011 einstweilen
für die Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens, längstens für die Dauer von
sechs Monaten aus.
II.
Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen
Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 3 Abs. 1
und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.
Das Oberlandesgericht Nürnberg habe seinen Beurteilungsspielraum für eine
Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV in
unvertretbarer Weise überschritten. Gegenüber der vom Oberlandesgericht Nürnberg
vorgenommenen Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3
FeV sei die Gegenauffassung eindeutig vorzuziehen. Verschiedene Verwaltungs-
u n d Oberverwaltungsgerichte hätten § 28 Abs. 4 FeV als unionsrechtswidrig
bezeichnet und nicht angewendet, § 28 Abs. 4 FeV unionsrechtskonform ausgelegt
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oder
dem Europäischen
Gerichtshof
Fragen
zur
Auslegung
der
3. Führerscheinrichtlinie vorgelegt (vgl. VG Koblenz, Beschluss vom 22. September
2009 - 5 L 970/09 -, juris; VGH Kassel, Beschluss vom 4. Dezember 2009 - 2 B
2138/09 -, juris; OVG Saarlouis, Beschluss vom 16. Juni 2010 - 1 B 204/10 -,
SVR 2010, S. 392). Es sei davon auszugehen, dass der Europäische Gerichtshof
Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der 3. Führerscheinrichtlinie ebenso wie Art. 8 Abs. 4 der
Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein
(2. Führerscheinrichtlinie - ABl L 237/1) eng auslegen werde und auch nach
Inkrafttreten der 3. Führerscheinrichtlinie allein ein Wohnsitzverstoß es rechtfertige,
die Anerkennung einer gültigen EU-Fahrerlaubnis abzulehnen.
III.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hält die
Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
Eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter nach
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liege nicht vor. Es bestünden keine Zweifel hinsichtlich des
inhaltlichen Verständnisses von Art. 11 Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie, so dass
die Vereinbarkeit von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV mit
Unionsrecht von dem Oberlandesgericht Nürnberg klar und ohne Vorlage an den
Europäischen Gerichtshof habe beantwortet werden können. Art. 11 Abs. 4 UAbs. 1
und 2 der 3. Führerscheinrichtlinie bestimmten sprachlich eindeutig, dass ein
Mitgliedstaat einen Führerschein nicht ausstellen dürfe, wenn der betreffenden
Person zuvor in einem anderen Mitgliedstaat ein Führerschein entzogen worden sei,
und dass ein unter Verstoß gegen dieses Verbot gleichwohl erteilter Führerschein
von dem Mitgliedstaat, der den Führerscheinentzug angeordnet habe, nicht anerkannt
werden dürfe. Jedenfalls habe sich das Oberlandesgericht Nürnberg nicht willkürlich
über die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV hinweggesetzt.
IV.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c
Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt, soweit sich der
Beschwerdeführer gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom
30. März 2011 wendet. Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits
entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 82, 159 <192 ff.>; 126, 286
<315 ff.>), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des
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grundrechtsgleichen Rechts des Beschwerdeführers aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist
insoweit offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Das Oberlandesgericht Nürnberg hat den Beschwerdeführer entgegen Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG seinem gesetzlichen Richter entzogen.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der
Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Unterlässt es ein deutsches Gericht, ein Vorabentscheidungsersuchen an den
Europäischen Gerichtshof zu richten, obwohl es unionsrechtlich dazu verpflichtet ist,
werden die Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsverfahrens ihrem gesetzlichen
Richter entzogen (BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>; 126,
286 <315 ff.>). Allerdings stellt nicht jede Verletzung der sich aus Art. 267 Abs. 3
AEUV ergebenden Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar.
Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von
Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das
Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen oder
offensichtlich unhaltbar sind. Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine
Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht (BVerfGE 82, 159 <194 f.>; 126,
286 <316>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 - 1 BvR
1741/09 -, NJW 2011, S. 1427 <1431>).
Im Rahmen dieser Willkürkontrolle haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen
herausgebildet, in denen die Vorlagepflichtverletzung zu einer Verletzung des Rechts
auf den gesetzlichen Richter führt. Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage
des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch
nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche
Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine
Fortentwicklung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als
entfernte Möglichkeit, wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das
letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig
zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl.
BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats
vom 25. Januar 2011, a.a.O., S. 1431). Dies kann nach der Rechtsprechung des
Zweiten Senats (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 126, 286 <317>) insbesondere dann
der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen
Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig
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vorzuziehen
sind. Zu verneinen ist in Fällen der Unvollständigkeit der
Rechtsprechung ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG deshalb bereits dann,
wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer
Weise beantwortet hat.
Dies setzt voraus, dass sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts hinreichend
kundig gemacht hat. Dabei umfasst der Begriff des Unionsrechts nicht nur
geschriebenes und ungeschriebenes Recht in seiner Auslegung durch den
Europäischen Gerichtshof, sondern auch die in der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für das Unionsrecht entwickelten Auslegungsmethoden
und -grundsätze (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom
9. Januar 2001 - 1 BvR 1036/99 -, NJW 2001, S. 1267). Das Gericht beantwortet die
entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts in nicht mehr vertretbarer Weise,
wenn keine tatsächlichen und rechtlichen Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass
die eigene Auslegung und Anwendung des Unionsrechts mit der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs und den herkömmlichen Auslegungsmethoden und -
grundsätzen übereinstimmt.
b) Gemessen an diesem Maßstab hat das Oberlandesgericht Nürnberg den
Beschwerdeführer
seinem gesetzlichen Richter entzogen, indem es davon
abgesehen hat, ein eigenes Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen
Gerichtshof zu richten oder das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des
Europäischen Gerichtshofs über das Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs (Beschluss vom 16. August 2010 - 11 B 10.1030 -, DAR
2010, S. 596 = Rs. C-419/10, Hofmann, ABl 2010 Nr. C 301/12) auszusetzen.
aa) Die Frage, ob die Auslegung von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit
Satz 3 FeV, wonach eine ausländische Fahrerlaubnis im Inland ungültig ist, wenn die
Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis abgelaufen, aber nach wie vor noch im
Verkehrszentralregister eingetragen und nicht getilgt ist, mit Unionsrecht,
insbesondere mit Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 der 3. Führerscheinrichtlinie, vereinbar ist, ist
entscheidungserheblich. Denn ihre Beantwortung entscheidet darüber, ob sich der
Beschwerdeführer wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis strafbar gemacht hat.
bb) Das Oberlandesgericht Nürnberg hat als letztinstanzliches Hauptsachegericht
den ihm bei der Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie zukommenden
Beurteilungsrahmen überschritten. Es hat unter Verweis auf den Beschluss des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2010 (a.a.O.) eine Auslegung
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der 3. Führerscheinrichtlinie vorgenommen, die im Widerspruch zu der ihm bekannten
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Unvereinbarkeit von § 28 Abs. 4
Nr. 3 FeV a.F. mit Art. 1 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie steht,
ohne sich hierfür auf vertretbare tatsächliche und rechtliche Anhaltspunkte stützen zu
können. Darauf beruht die Auffassung, dass § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung
mit Satz 3 FeV, wonach eine ausländische Fahrerlaubnis im Inland ungültig ist, wenn
die Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis abgelaufen, aber nach wie vor noch
im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht getilgt ist, mit Unionsrecht vereinbar
ist.
(1) Es bestehen begründete Zweifel daran, dass § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in
Verbindung mit Satz 3 FeV mit Unionsrecht, insbesondere mit Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2
d e r 3. Führerscheinrichtlinie, vereinbar ist (vgl. VG Koblenz, Beschluss vom
22. September 2009, a.a.O, Rn. 13 ff.; OVG Koblenz, Beschluss vom 17. Februar
2010 - 10 B 351/09 -, juris, Rn. 6 ff.; VGH Kassel, Beschluss vom 4. Dezember 2009,
a.a.O., Rn. 2; OVG Saarlouis, Beschluss vom 16. Juni 2010, a.a.O., S. 393 ff.; Blum,
NZV 2008, S. 176 <181>; Hailbronner, NZV 2009, S. 361 <366 f.>;
Dyllick/Lörincz/Neubauer, LKV 2010, S. 481 <486> m.w.N.; Pießkalla/Leitgeb, NZV
2010, S. 329 <335>).
(a) Es liegt noch keine Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur
Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie vor.
(b)
Nach
der
Rechtsprechung
des
Europäischen Gerichtshofs zur
2. Führerscheinrichtlinie sind die Mitgliedstaaten nach deren Art. 1 Abs. 2 verpflichtet,
die Führerscheine anderer EU-Mitgliedstaaten ohne jede Formalität anzuerkennen
(EuGH, Urteil vom 19. Februar 2009, Rs. C-321/07, Schwarz, Slg. 2009, S. I-1113,
Rn. 75).
Es ist Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats, zu prüfen, ob die im Unionsrecht
aufgestellten Mindestvoraussetzungen, insbesondere diejenigen hinsichtlich der
Fahreignung und des Wohnsitzes, erfüllt sind und ob somit die Erteilung einer
Fahrerlaubnis gerechtfertigt ist (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, verb. Rs. C-329/06
und C-343/06, Wiedemann/Funk, Slg. 2008, S. I-4635, Rn. 52). Wenn die Behörden
eines Mitgliedstaats einen Führerschein ausgestellt haben, sind die anderen
Mitgliedstaaten somit nicht befugt, die Beachtung der in dieser Richtlinie aufgestellten
Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem
Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist nämlich als Nachweis dafür anzusehen,
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dass der Inhaber dieses Führerscheins am Tag der Erteilung des Führerscheins
diese Voraussetzungen erfüllte (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, Wiedemann/Funk,
a . a . O . , Rn. 53). Dies gilt auch dann, wenn der Führerschein im
Aufnahmemitgliedstaat wegen Drogen- oder Alkoholkonsums entzogen wurde und
der
Ausstellungsmitgliedstaat
nicht dieselben
Anforderungen
an
den
Eignungsnachweis
stellt, insbesondere auf eine medizinisch-psychologische
Untersuchung verzichtet (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, Wiedemann/Funk, a.a.O.,
Rn. 73). Der Aufnahmemitgliedstaat ist nur im Hinblick auf ein Verhalten, das nach
dem Erwerb des von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins eingetreten ist,
zur nachträglichen Eignungsüberprüfung befugt.
Ausnahmen von dem in Art. 1 Abs. 2 der 2. Führerscheinrichtlinie enthaltenen
allgemeinen Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten
ausgestellten Führerscheine sind insbesondere vor dem Hintergrund, dass dieser
Grundsatz die Ausübung der Grundfreiheiten erleichtern soll, eng auszulegen (EuGH,
Urteil vom 29. April 2004, Rs. C-476/01, Kapper, Slg. 2004, S. I-5205, Rn. 72). Aus
d i e s e m Grund kann sich ein Mitgliedstaat nicht auf Art. 8 Abs. 4 der
2. Führerscheinrichtlinie berufen, um einer Person, auf die in seinem Hoheitsgebiet
eine Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer früher von ihm erteilten
Fahrerlaubnis angewendet wurde, auf unbestimmte Zeit die Anerkennung der
Gültigkeit eines Führerscheins zu versagen, der ihr möglicherweise später von einem
anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird. Ist nämlich die zusätzlich zu der fraglichen
Maßnahme angeordnete Sperrfrist für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis im
Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bereits abgelaufen, verbietet es Art. 1 Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie diesem Mitgliedstaat
weiterhin, die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat
ausgestellten Führerscheins abzulehnen (EuGH, Urteil vom 29. April 2004, Kapper,
a.a.O., Rn. 76). Die Anerkennung der Gültigkeit eines von einem anderen
Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins kann allerdings abgelehnt werden, wenn
sein Inhaber zum Zeitpunkt dieser Ausstellung einer Sperrfrist für die Erteilung einer
Fahrerlaubnis unterlag (EuGH, Beschluss vom 3. Juli 2008, Rs. C-225/07, Möginger,
Slg. 2008, S. I-103, Rn. 45).
(c) Art. 11 Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie ist durch die 3. Verordnung zur
Änderung der Fahrerlaubnis-Verordnung vom 7. Januar 2009 (BGBl I S. 27 und 29)
umgesetzt worden. § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 FeV, wonach Inhaber einer in einem
anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilten gültigen Fahrerlaubnis nicht
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zum Führen von Kraftfahrzeugen berechtigt sind, wenn ihnen die Fahrerlaubnis im
Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder
bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, wurde wortgleich
aus der vorangegangenen Fassung übernommen. Ergänzend wurde § 28 Abs. 4
Satz 3 FeV angefügt, wonach Satz 1 Nr. 3 und 4 nur anzuwenden ist, wenn die dort
genannten Maßnahmen im Verkehrszentralregister eingetragen und nicht nach § 29
StVG getilgt sind. Da eine unbegrenzte Verweigerung der Anerkennung
unionsrechtswidrig ist, wurde sie nach der Begründung des Verordnungsgebers
durch einen Verweis auf die Tilgungsfristen des Straßenverkehrsgesetzes ersetzt
(BRDrucks 851/08, S. 12).
(2) Die Argumente, die das Oberlandesgericht Nürnberg unter Verweis auf den
Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 7. Oktober 2010 (a.a.O.) für
die Vereinbarkeit von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV mit
Unionsrecht anführt und die von Stimmen in der Rechtsprechung (vgl. OVG Münster,
Beschluss vom 20. Januar 2010 - 16 B 814/09 -, juris, Rn. 6 ff.; VGH Mannheim,
Beschluss vom 21. Januar 2010 - 10 S 2391/09 -, NJW 2010, S. 2821 <2822 ff.>;
OVG Greifswald, Beschluss vom 23. Februar 2010 - 1 M 172/09 -, juris, Rn. 11 ff.;
OLG Stuttgart, Beschluss vom 26. Mai 2010 - 2 Ss 269/10 -, NJW 2010, S. 2818
<2819 f.>; OVG Lüneburg, Beschluss vom 18. August 2010 - 12 ME 57/10 -, juris,
Rn. 11 ff.) und in der Literatur geteilt werden (vgl. Jancker, DAR 2009, S. 181 <184 f.>;
Mosbacher/Gräfe, NJW 2009, S. 801 <804>), sind nicht vertretbar.
(a)
Der
Bayerische
Verwaltungsgerichtshof kommt
aufgrund
einer
grammatikalischen,
systematischen
und historischen
Auslegung
der
3. Führerscheinrichtlinie zu der Auffassung, dass eine Auslegung des § 28 Abs. 4
Satz 1 Nr. 3 FeV, wonach eine ausländische EU-Fahrerlaubnis im Inland ungültig sei,
wenn die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Bestimmung in Verbindung mit § 28
Abs. 4 Satz 3 FeV erfüllt seien, mit Unionsrecht vereinbar sei (Beschluss vom
7. Oktober 2010, a.a.O., S. 1382).
Dies begründet er damit, dass durch die 3. Führerscheinrichtlinie ein
Paradigmenwechsel vollzogen worden sei, um ein Unterlaufen von in einem
Mitgliedstaat getroffenen fahrerlaubnisrechtlichen „Negativentscheidungen“ dadurch
zu verhindern, dass der Betroffene zwecks Erlangung einer neuen Fahrerlaubnis in
einen anderen Mitgliedstaat ausweiche. Dies komme nicht nur in der doppelten
Sicherung zum Ausdruck, die Art. 11 Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie durch den
Übergang von fakultativen zu bindenden Regelungen und dadurch geschaffen habe,
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dass das in Art. 11 Abs. 4 UAbs. 1 der 3. Führerscheinrichtlinie ausgesprochene
Verbot der Erteilung einer Fahrerlaubnis durch eine an den Aufnahmestaat gerichtete
Nichtanerkennungsverpflichtung ergänzt worden sei. Der Wille des Normgebers, den
Mitgliedstaaten ein möglichst wirksames Instrument zur Bekämpfung des
Führerscheintourismus an die Hand zu geben, lasse sich auch aus den Materialien
entnehmen (mit Hinweis auf VGH München, Beschluss vom 22. Februar 2007
- 11 CS 06.1644 -, NZV 2007, S. 539 <540 f.>).
Diese Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie stehe nicht in Widerspruch zu
höherrangigem Unionsrecht. Zu den Normen des primären Unionsrechts, die im
vorliegenden Zusammenhang in den Blick zu nehmen seien, gehörten nicht nur die
Bestimmungen, die die Freizügigkeit innerhalb der Union verbürgten, sondern auch
die Unionsgrundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In den
Erwägungsgründen 2, 7, 8, 9, 10, 11, 13 und 15 der 3. Führerscheinrichtlinie komme
zum Ausdruck, dass die 3. Führerscheinrichtlinie das Ziel verfolge, dem aus diesen
Unionsgrundrechten folgenden Schutzauftrag gerecht zu werden, indem die
Verkehrssicherheit erhöht werde, und dass dieses Ziel mindestens gleichrangig
neben dem Anliegen stehe, die Freizügigkeit der Unionsbürger zu erleichtern.
(b) Es bestehen keine tatsächlichen oder rechtlichen Anhaltspunkte dafür, dass
diese Auslegung der 3. Führerscheinrichtlinie mit der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs übereinstimmt.
(aa) Der Wortlaut von Art. 11 Abs. 4 UAbs. 2 und 3 der 3. Führerscheinrichtlinie
stützt die Annahme einer Einschränkung der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs zur Reichweite des Anerkennungsgrundsatzes nicht.
Er lehnt sich weitgehend an Art. 8 Abs. 4 der 2. Führerscheinrichtlinie an. Geändert
hat sich im Wesentlichen nur die Ersetzung einer Ermessensklausel durch eine
Pflicht, die Anerkennung zu verweigern. Inhaltlich ist die Vorschrift jedoch weitgehend
identisch geblieben, wenn man davon absieht, dass Art. 8 Abs. 4 Satz 2 der
2. Führerscheinrichtlinie auf Maßnahmen nach Art. 8 Abs. 2 verweist, während Art. 11
Abs. 4 der 3. Führerscheinrichtlinie nicht mehr auf Maßnahmen nach Art. 11 Abs. 2
(Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung,
Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis) verweist, sondern direkt auf die
Einschränkung,
Aussetzung
oder
Entziehung
im
Hoheitsgebiet des
Aufnahmemitgliedstaats Bezug nimmt.
Die Folgerung, dass damit der bisherigen Rechtsprechung des Europäischen
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Gerichtshofs die Grundlage entzogen würde, wäre nur tragfähig, wenn die
Rechtsprechung zur Unanwendbarkeit von § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV a.F. entscheidend
auf der Verknüpfung von Art. 8 Abs. 4 mit Abs. 2 der 2. Führerscheinrichtlinie beruhen
würde. Dies ist jedoch nicht der Fall (vgl. Hailbronner, NZV 2009, S. 361 <366>). Der
Europäische Gerichtshof begründet seine restriktive Auslegung von Art. 8 Abs. 4 der
2. Führerscheinrichtlinie entscheidend mit den Grundfreiheiten, für die dem Grundsatz
der Anerkennung von Führerscheinen große Bedeutung zukomme. Dabei
unterscheidet er zwischen Art. 8 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 4 argumentativ nicht. Der
Europäische Gerichtshof stellt vielmehr fest, dass im Hinblick auf die Bedeutung der
Individualverkehrsmittel der Besitz eines vom Aufnahmestaat ordnungsgemäß
anerkannten Führerscheins Einfluss auf die tatsächliche Ausübung einer großen Zahl
von unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeiten haben könne (EuGH,
Urteil vom 29. April 2004, Kapper, a.a.O., Rn. 71). Eine nationale Regelung, die wie
§ 28 FeV a.F. gerade darauf abziele, die zeitliche Wirkung einer Maßnahme des
Entzugs oder der Aufhebung einer früheren Fahrerlaubnis auf unbestimmte Zeit zu
verlängern und den deutschen Behörden die Zuständigkeit für die Neuerteilung der
Fahrerlaubnis vorzubehalten, wäre daher „die Negation des Grundsatzes der
gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine selbst, der den Schlussstein des mit
der Richtlinie 91/439 eingeführten Systems darstellt“ (EuGH, Urteil vom 29. April
2004, Kapper, a.a.O., Rn. 77).
(bb) Auch die Entstehungsgeschichte der 3. Führerscheinrichtlinie spricht nicht für
eine erweiterte Befugnis der Mitgliedstaaten zur Nichtanerkennung der von einem
anderen Mitgliedstaat ausgestellten Fahrerlaubnis.
Die Erwägungsgründe der 3. Führerscheinrichtlinie enthalten keine Hinweise auf
eine Änderung der Rechtsgrundlagen zur Anerkennung (vgl. Hailbronner, NZV 2009,
S. 361 <366>). Erwägungsgrund Nr. 6 verweist in allgemeiner Form auf die
Anerkennungspflicht der Mitgliedstaaten und Erwägungsgrund Nr. 15 auf die
allgemeine Befugnis der Mitgliedstaaten, aus Gründen der Verkehrssicherheit ihre
innerstaatlichen Bestimmungen über den Entzug, die Aussetzung, die Entziehung
und die Aufhebung einer Fahrerlaubnis auf einen Führerscheininhaber anzuwenden,
der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet begründet hat.
Die Erwägungsgründe Nr. 2, 7, 8, 9, 10, 11 und 13, die nach Ansicht des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs zum Ausdruck bringen, dass das Ziel der
Erhöhung der Verkehrssicherheit mindestens gleichrangig neben dem Anliegen
stehe, die Freizügigkeit der Unionsbürger zu erhöhen, betreffen nicht die
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Anerkennung von ausländischen EU-Führerscheinen, sondern beschreiben lediglich,
inwieweit die innerstaatlichen Vorschriften für den Führerschein durch die Richtlinie
harmonisiert werden. Auch ein Vergleich der Formulierung der Erwägungsgründe der
2. und 3. Führerscheinrichtlinie widerstreitet der Einschätzung des Bayerischen
Verwaltungsgerichtshofs. Während die 2. Führerscheinrichtlinie beabsichtigte, „die
Sicherheit im Straßenverkehr zu verbessern und die Freizügigkeit von Personen zu
erleichtern, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem niederlassen, in dem sie
ihre Fahrprüfung abgelegt haben“ (Erwägungsgrund 1), „tragen“ die Regelungen der
3. Führerscheinrichtlinie lediglich „zur Erhöhung der Verkehrssicherheit bei“, während
sie „die Freizügigkeit der Personen, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als
demjenigen, der den Führerschein ausgestellt hat, niederlassen“, „erleichtern“, und
„ d e r Besitz eines vom Aufnahmemitgliedstaat anerkannten Führerscheins die
Freizügigkeit
und
die Niederlassungsfreiheit
der
Personen“
„fördert“
(Erwägungsgrund 2).
Auch die Begründung der Kommission für die 3. Führerscheinrichtlinie geht auf die
mit dem sogenannten „Führerscheintourismus“ zusammenhängenden Probleme der
Verkehrssicherheit nur insoweit ein, als die Mitgliedstaaten ausdrücklich keinen
neuen Führerschein ausstellen dürfen sollen für eine Person, der der Führerschein
entzogen wurde und die somit indirekt immer noch Inhaber eines anderen
Führerscheins ist (KOM 2003 <621> endg., S. 6). Der Gemeinsame Standpunkt des
Rates verweist ausschließlich auf die neuen Vorschriften über die Überprüfung der
Wohnsitzklausel (ABl 2006 Nr. C 295 E/45). Diese Ausführungen deuten nicht auf
eine Korrektur der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Reichweite
der Pflicht zur Anerkennung einer EU-Fahrerlaubnis hin.
(cc) Der Kritik des Europäischen Gerichtshofs, wonach ein Mitgliedstaat nicht befugt
ist, einer Person, auf die eine Maßnahme des Entzugs oder der Aufhebung einer von
diesem Mitgliedstaat erteilten Fahrerlaubnis angewendet worden ist, auf unbestimmte
Zeit die Anerkennung der Gültigkeit eines Führerscheins zu versagen, der ihr
möglicherweise später von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wird, kann
- entgegen der Begründung des Verordnungsgebers (BRDrucks 851/08, S. 12) - auch
nicht in vertretbarer Weise durch § 28 Abs. 4 Satz 3 FeV Rechnung getragen werden.
Danach darf die Anerkennung nur solange versagt werden, als die Entziehung im
Verkehrszentralregister eingetragen und nicht nach § 29 StVG getilgt ist.
(a) Die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach ein
Mitgliedstaat nach Art. 1 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 2 und 4 der 2. Führerscheinrichtlinie
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die Gültigkeit eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins
nicht anerkennen muss, wenn sein Inhaber zum Zeitpunkt dieser Ausstellung im
ersten Mitgliedstaat einer Sperrfrist für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis unterlag
(EuGH, Beschluss vom 3. Juli 2008, Möginger, a.a.O., Rn. 45), stellt allein auf die
Sperrfrist ab. Nicht gemeint ist hingegen die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, sonstige
Fristen vorzusehen, wenn diese der Funktion der Sperrfrist nicht entsprechen.
Die Funktion der Sperrfrist für die Erteilung einer Fahrerlaubnis besteht darin, dass
erst durch ihre Festsetzung die Entziehung der Fahrerlaubnis ihre Wirkungskraft in
dem
jeweils
festgesetzten
Umfang
erlangt (Herzog,
in:
Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, StGB, 3. Aufl. 2010, § 69a StGB Rn. 1). Für die
Bemessung der Sperrfrist gelten die gleichen Maßstäbe wie für die Entscheidung
über die Entziehung der Fahrerlaubnis selbst. Die Sperrfrist leitet sich mit anderen
Worten aus der durch die Schwere der Tat und unter Berücksichtigung der
Täterpersönlichkeit anzunehmenden Dauer der Ungeeignetheit ab (Geppert,
Leipziger Kommentar, Bd. 3, 12. Aufl. 2008, § 69a StGB Rn. 16; Fischer, StGB,
58. Aufl. 2011, § 69a StGB Rn. 15 ff.). Die Tilgungsfrist nach § 29 StVG verfolgt einen
anderen Zweck als die Sperrfrist, indem sie keine Rückschlüsse auf die aktuelle
Fahreignung gibt. Beim Verkehrszentralregister steht der Gedanke der Bewährung im
Sinne
der
Verkehrssicherheit
im Mittelpunkt
(vgl.
Janker,
in:
Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 21. Aufl. 2010, § 29 StVG Rn. 2). Bewährung in
diesem Sinne bedeutet aber, dass eine Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs
nicht fehlt, sondern eine Fahrerlaubnis erteilt werden kann und lediglich bei
zukünftigen Zuwiderhandlungen die zurückliegenden Verstöße berücksichtigt werden
können.
§ 28 Abs. 5 FeV sieht zwar die Möglichkeit vor, auf Antrag eine Genehmigung zur
Nutzung der EU-Fahrerlaubnis während der Tilgungsfrist zu erhalten, „wenn die
Gründe für die Entziehung oder die Sperre nicht mehr bestehen“, das heißt die
Fahreignung
besteht.
Ein
im Aufnahmemitgliedstaat
durchzuführendes
Genehmigungsverfahren widerspricht jedoch der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die Führerscheine anderer
EU-Mitgliedstaaten ohne jede Formalität anzuerkennen (EuGH, Urteil vom
19. Februar 2009, Schwarz, a.a.O.). Frühere Inhaber einer Fahrerlaubnis, die in
einem Mitgliedstaat entzogen oder aufgehoben wurde, können insbesondere nicht
verpflichtet werden, bei den zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats die
Erlaubnis zu beantragen, von einer Fahrberechtigung Gebrauch zu machen, die sich
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aus einem nach Ablauf der Sperrfrist in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten
Führerschein ergibt (EuGH, Urteil vom 26. Juni 2008, Rs. C-334/06 und 336/06,
Zerche u.a., Slg. 2008, S. I-4691, Rn. 70).
(ß) § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 in Verbindung mit Satz 3 FeV führt zu einer
Ungleichbehandlung zwischen Kraftfahrern, die eine neue ausländische, und
solchen, die eine neue deutsche Fahrerlaubnis erworben haben (vgl.
Dyllick/Lörincz/Neubauer, LKV 2010, S. 481 <487>). Selbst wenn diese
Bestimmungen dahingehend ausgelegt werden könnten, dass sie mit der
3. Führerscheinrichtlinie vereinbar wären, würden sie - entgegen der Auffassung des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs - gegen höherrangiges primäres Unionsrecht,
nämlich das in allen Grundfreiheiten enthaltene Diskriminierungsverbot, verstoßen.
§ 28 Abs. 4 Satz 3 FeV enthält für die Anerkennung einer ausländischen
Fahrerlaubnis nach Entziehung einer inländischen Fahrerlaubnis eine andere Frist,
als sie für die Neuerteilung einer inländischen Fahrerlaubnis gilt. Die inländische
Fahrerlaubnis kann unmittelbar nach Ablauf der Sperre für die Erteilung der
Fahrerlaubnis neu erteilt werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung der
Fahrerlaubnis nach wie vor vorliegen (§ 20 Abs. 1 FeV). Zur Klärung von
Eignungszweifeln kann ein medizinisch-psychologisches Gutachten angeordnet
werden (§ 20 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 9 FeV). Eine ausländische
Fahrerlaubnis kann, sofern der betroffene Kraftfahrer nach Ablauf der Sperrfrist keinen
Antrag nach § 28 Abs. 5 FeV stellt, erst nach Ablauf der Tilgungsfrist im
Verkehrszentralregister, in dem sowohl die Entziehung der Fahrerlaubnis als auch
die Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis eingetragen wird, anerkannt werden. Im
Fall einer isolierten Sperre (§ 69a Abs. 1 Satz 3 StGB) beträgt die Tilgungsfrist nach
§ 29 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVG zehn Jahre. Stellt der betroffene Kraftfahrer nach Ablauf
der Sperrfrist einen Antrag nach § 28 Abs. 5 FeV, wird seine Fahreignung vom
Aufnahmemitgliedstaat geprüft, das heißt er müsste bei Eignungszweifeln ebenfalls
ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegen.
Eine Ungleichbehandlung kann nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs zwar grundsätzlich durch Grundrechte gerechtfertigt werden (EuGH,
Urteil vom 12. Juni 2003, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I-5659, Rn. 74;
EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2004, Rs. C-36/02, Omega, Slg. 2004, S. I-9609,
Rn. 35). Völlig offen ist allerdings, ob sich aus den Unionsgrundrechten auf Leben
und körperliche Unversehrtheit - wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof
annimmt
-
ein Schutzauftrag (der Mitgliedstaaten) zur Erhöhung der
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Verkehrssicherheit ergibt. Unterstellt, dies wäre der Fall, erscheint die Rechtfertigung
der Ungleichbehandlung unter Hinweis auf diesen Schutzauftrag jedenfalls deshalb
nicht vertretbar, weil das Ziel der 3. Führerscheinrichtlinie damit offensichtlich
konterkariert würde. Die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat
ausgestellten Führerscheins würde von den im Aufnahmemitgliedstaat geltenden
Voraussetzungen hinsichtlich der Fahreignung abhängig gemacht werden, obwohl
die 3. Führerscheinrichtlinie die innerstaatlichen Mindestvoraussetzungen im Hinblick
auf die Fahreignung harmonisiert hat, die Prüfung der Mindestvoraussetzungen durch
den Ausstellungsmitgliedstaat erfolgen soll und Ausnahmen von dem allgemeinen
Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten
Führerscheine nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eng
auszulegen sind.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg ist aufzuheben. Die Sache wird
an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
3. Im Hinblick auf die Urteile des Amtsgerichts Erlangen vom 20. Mai 2010 und des
Landgerichts
Nürnberg-Fürth
vom
8.
November
2010 wird
die
Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Von einer
Begründung wird insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a
Abs. 2 und 3 BVerfGG. Zwar wird die Verfassungsbeschwerde teilweise nicht zur
Entscheidung angenommen. Da der Beschwerdeführer sein wesentliches
Verfahrensziel erreicht hat, sind die Angriffsgegenstände jedoch insoweit für sein
Begehren von untergeordneter Bedeutung (vgl. BVerfGE 32, 1 <39>; 79, 372 <378>;
86, 90 <122>; 88, 366 <381>; 104, 220 <238>; 114, 1 <72>).
Die Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit folgt aus
§ 37 Abs. 2 Satz 2 RVG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Di Fabio Gerhardt Hermanns