Urteil des BVerfG vom 17.05.2011

bedingte entlassung, rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, körperliche unversehrtheit

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Sebastian Scharmer,
in Sozietät Rechtsanwälte Hummel, Kaleck,
Immanuelkirchstraße 3-4, 10405 Berlin -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 942/11 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn L …
gegen a) den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 29. April
2011 - 1 Ws 34/11 -,
b) den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 18. April
2011 - 1 Ws 34/11 -,
c) den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 1. März 2011 - 613 StVK
657/10 -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Mellinghoff,
den Richter Landau
und den Richter Huber
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 17. Mai 2011 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
I.
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Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 7.
Mai 1990 wegen eines im Lebensalter von 40 Jahren begangenen Mordes unter
Einbeziehung eines Urteils, in welchem der Beschwerdeführer zuvor wegen
vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis, Diebstahl in zwei Fällen und unerlaubten
Führens einer halbautomatischen Selbstladewaffe zu Einzelfreiheitsstrafen von neun
Monaten, zwei und drei Jahren sowie einem Jahr und sechs Monaten verurteilt
worden war, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Eine besondere
Schwere der Schuld wurde nicht festgestellt.
Im Zuge der Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe entwich der Beschwerdeführer am
28. Juni 1992 aus der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel und beging anschließend
vier Fälle des Diebstahls sowie einen Verstoß gegen das Waffengesetz durch den
unerlaubten Besitz einer funktionsfähigen abgesägten Pump Action-Flinte. Dafür
wurde er mit Urteil des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten vom 11. März 1997 zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Mit Beschluss vom 1. März 2000 bestimmte das Oberlandesgericht Karlsruhe die
Vollstreckungsdauer für die Verurteilung des Landgerichts Nürnberg-Fürth aufgrund
festgestellter besonderer Schwere der Schuld im Sinne der §§ 57, 57a StGB auf 18
Jahre. Bis zum Ablauf des 17. Oktober 2004 verbüßte der Beschwerdeführer diese
Mindestzeit. Es schloss sich die Verbüßung der zweijährigen Gesamtfreiheitsstrafe
aus dem Urteil des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten an. Seit dem 17. Oktober 2006
verbüßt der Beschwerdeführer wieder die lebenslange Freiheitsstrafe.
Durch Beschluss vom 3. Juli 2006 lehnte das Landgericht Berlin eine
Strafaussetzung zur Bewährung ab, weil ein im April 2006 eingeholtes Gutachten
d e m Beschwerdeführer
eine
weitgehend
unbehandelte
dissoziale
Persönlichkeitsstörung bescheinigt hatte und eine bedingte Entlassung auch unter
Berücksichtigung
einer
vom Beschwerdeführer durchgeführten externen
Psychotherapie nicht vertretbar erschien.
Im Anschluss traf der Beschwerdeführer, wie bereits auch zuvor im Oktober 1994,
Vorbereitungen zu Fluchtunternehmungen. So wurde er am 7. November 2006 im
Besitz zweier Nachschlüssel sowie zweier selbstgebauter Feilen und einer
Taschenlampe und am 10. Juli 2007 im Besitz eines abgebrochenen Löffels sowie
zweier Stücke Schleifpapier angetroffen. Aufgrund dessen lehnte das Landgericht
zuletzt am 4. Oktober 2007 eine bedingte Entlassung aus der Strafvollstreckung ab.
Nach dem erfolgreichen Abschluss einer seit Dezember 2009 durchgeführten
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Psychotherapie wurde dem Beschwerdeführer von dem ihm behandelnden
Therapeuten die grundsätzliche Erlernung der für eine straffreie Lebensführung
erforderlichen Verhaltensmechanismen bescheinigt. Aufgrund einer fortgeschrittenen
Krebserkrankung, für welche das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf in einem
Entlassungsbericht vom 6. Dezember 2010 angesichts des guten Allgemeinzustands
des Beschwerdeführers eine statistische Lebenserwartung von durchschnittlich bis zu
33 Monaten prognostiziert hatte, beantragte der Beschwerdeführer erneut die
bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug.
Mit Beschluss vom 1. März 2011 hat das Landgericht Hamburg den Antrag auf
Aussetzung der weiteren Strafvollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe zur
Bewährung abgelehnt. Das Gericht hat in seiner Entscheidung die vorgenannte
Entwicklung des Beschwerdeführers, insbesondere auch das Gutachten des
Universitätsklinikums, zu Gunsten des Beschwerdeführers berücksichtigt. Ebenso hat
e s zum Nachteil des Beschwerdeführers dessen kriminelle Vergangenheit, den
negativen Verlauf der durch wiederholte Fluchtversuche geprägten Strafhaft, ein
erneut eingeholtes Sachverständigengutachten vom 29. Oktober 2010 sowie die
hierzu erfolgte mündliche Anhörung am 18. Februar 2011 berücksichtigt. Danach ist
bei dem Beschwerdeführer unverändert eine dissoziale Persönlichkeitsstörung
festzustellen, weshalb im Falle seiner Entlassung mit einer mäßig bis hohen Gefahr
für die Begehung neuer Gewaltdelikte zu rechnen ist. Das Gericht hat sich zudem
ausführlich mit dem einbezogenen Gutachten auseinandergesetzt. Die Möglichkeit
einer Beeinflussung der Abwägung durch die Krebserkrankung hat das Gericht in
Betracht gezogen, jedoch im Hinblick auf die vom Sachverständigen nicht
feststellbare Einschränkung der körperlichen Leistungsfähigkeit als nicht
ausschlaggebend bewertet. In einer Gesamtwürdigung hat es seinen ablehnenden
Beschluss auf die Annahme einer mäßigen bis hohen Rückfallgefahr und die hieraus
folgende Gefährdung der Allgemeinheit gestützt, die das Freiheitsbedürfnis auch mit
Blick auf den weiteren Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe überwiege. Aufgrund
der beträchtlichen kriminellen Neigungen und der Schwere der drohenden
Rückfalltaten hat es unter ausdrücklicher Beschränkung auf den im Zeitpunkt der
Beschlussfassung vorgefundenen körperlichen Zustand des Beschwerdeführers dem
Schutz der Allgemeinheit Vorrang eingeräumt.
Hiergegen hat der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde mit der Begründung
erhoben, dass sowohl die Gefahrenprognose des Sachverständigen als auch der
mittlerweile anzutreffende Gesundheitszustand des Beschwerdeführers eine sofortige
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bedingte Strafentlassung rechtfertigen würden. Noch in seinem schriftlichen
Gutachten habe der Sachverständige eine akute Rückfallgefahr ausgeschlossen,
wenngleich dies unter dem Vorbehalt einer nicht erfolgten persönlichen Befragung
des Beschwerdeführers gestanden habe. Erst in der mündlichen Anhörung habe er
a u f diesbezügliche Fragen des Gerichts die Rückfallgefahr bejaht. Im Zuge der
Verhältnismäßigkeitsprüfung habe das Landgericht zudem nur den ehemals guten,
mittlerweile aber deutlich verschlechterten, Gesundheitszustand und die vom
Dezember 2010 prognostizierte durchschnittliche Lebenserwartung von bis zu 33
Monaten zugrunde gelegt, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass seit der Entlassung
aus dem Krankenhaus bereits weitere drei Monate vergangen waren.
Mit Beschluss vom 18. April 2011 hat das Hanseatische Oberlandesgericht die
sofortige Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Die Einwendungen gegen
d i e Berücksichtigung des Sachverständigengutachtens hat das Gericht als
unerheblich zurückgewiesen. Neben der vom Landgericht zutreffend angenommenen
mäßigen bis hohen Rückfallgefahr seien auch die zu keinem Zeitpunkt in Zweifel
gezogene Schwere der erwartbaren Rückfalltaten, die den Anlasstaten entsprächen,
zu berücksichtigen. Soweit bei der bedingten Strafentlassung ein unvermeidbares
Risiko in der Regel hinzunehmen sei, könne dies, wie das Landgericht mit Blick auf
den ungünstigen Verlauf der Strafhaft zutreffend angenommen habe, hier selbst unter
Berücksichtigung der zwischenzeitlich noch nachgereichten ärztlichen Atteste über
die Entdeckung von Metastasen und die damit verbundenen körperlichen
Einschränkungen des Beschwerdeführers nicht hingenommen werden. Es sei
insbesondere nicht erkennbar, dass er körperlich nicht mehr zur Ergreifung und
Benutzung einer Waffe in der Lage sei. Allein die im ärztlichen Attest selbst
festgestellte noch nicht verwirklichte Knochenbruchgefahr könne eine bedingte
Strafentlassung aufgrund nunmehr weggefallener Gefährlichkeit nicht begründen. In
seiner eigenen Gesamtwürdigung hat das Oberlandesgericht auch den bestehenden
sozialen Empfangsraum als einen die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers
zumindest teilweise dämpfenden Umstand berücksichtigt. Mit der Beschränkung
seiner Entscheidung auf die derzeitige gesundheitliche Verfassung des
Beschwerdeführers hat es jedoch die bedingte Haftentlassung abgelehnt. Die
Entscheidung schließt zudem mit folgendem ausdrücklichen Hinweis:
„Es wird angesichts des Krankheitsbildes erforderlich, aber auch
möglich sein, auf Verschlechterungen des gesundheitlichen
Zustandes kurzfristig zu reagieren. Insoweit ist nicht ersichtlich, dass
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dem Verurteilten jedwede Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit
und
Begleitung durch
seine
Ehefrau
und
weitere
Familienangehörige in der finalen Phase seiner Erkrankung
verschlossen wäre.“
Gegen den vorgenannten Beschluss des Oberlandesgerichts hat der
Beschwerdeführer zeitgleich mit der Erhebung seiner Verfassungsbeschwerde
Gegenvorstellung und Anhörungsrüge erhoben, zu deren Begründung er auf die in
Abschrift beigelegte Verfassungsbeschwerde Bezug genommen hat. Ergänzend hat
er ein ärztliches Attest des Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt F. vom 20. April
2011 vorlegt, wonach die jetzt rasch fortschreitende Erkrankung mit einer deutlich
begrenzten Lebenserwartung des Beschwerdeführers einhergehe. Ihm verbleibe nur
noch eine Lebenszeit von einigen Monaten, weshalb aus ärztlicher Sicht um die
sofortige Entlassung aus der Haft gebeten worden ist.
Mit Beschluss vom 29. April 2011 hat das Hanseatische Oberlandesgericht die
Gegenvorstellung
als unzulässig und die Anhörungsrüge als unbegründet
zurückgewiesen. Die vom Beschwerdeführer mittelbar mit der beigefügten
Begründung der Verfassungsbeschwerde gerügten Umstände, insbesondere das erst
auf den 20. April 2011, somit zwei Tage nach der angegriffenen Entscheidung des
Oberlandesgerichts,
datierende
ärztliche
Attest
über
den aktuellen
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers könnten keine anderslautende
Entscheidung nach Maßgabe des bis zum 18. April 2011 vorliegenden Akteninhalts
rechtfertigen.
II.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1 GG,
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG sowie aus Art. 103 Abs. 1
GG.
Eine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG sieht
er
darin, dass gerichtlicherseits die vom Sachverständigen festgestellte
Rückfallgefahr überbewertet worden sei und das Oberlandesgericht trotz
ausdrücklicher Anregung der ergänzenden Einholung von Stellungnahmen des
Sachverständigen hiervon abgesehen habe. Die Verletzung seiner Menschenwürde
aus Art. 1 Abs. 1 GG sieht der Beschwerdeführer darin, dass ihm jede Möglichkeit,
seine letzten Monate in Freiheit zu verbringen, aufgrund der fehlerhaften
Beschlussfassung der Gerichte genommen sei. Schließlich sei sein Anspruch auf
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rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG dadurch verletzt, dass die von den
Gerichten
berücksichtigten Gutachten anfänglich eine Lebenserwartung von
durchschnittlich bis zu 33 Monaten, ausgehend vom Juni 2010, prognostiziert hätten,
ohne dass die zwischenzeitlich bis zu den jeweiligen Beschlussfassungen
nachgereichten gesundheitlichen Befunde insoweit Berücksichtigung gefunden
hätten.
Seinen Antrag auf einstweilige Anordnung begründet der Beschwerdeführer damit,
dass im Zuge der zu treffenden Folgenabwägung mittlerweile die von den Gerichten
angenommene Rückfallgefahr praktisch ausgeschlossen sei und somit spätestens
jetzt sein Freiheitsanspruch deutlich über die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit
hinausgehe, wobei die Eilbedürftigkeit auf seiner geringen weiteren Lebenserwartung
beruhe.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die
Annahmevoraussetzungen
des § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt.
Grundsätzliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu. Ihre
Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers
angezeigt, da sie unbegründet ist.
Die form- und fristgerechte Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die angegriffenen Entscheidungen lassen eine Verkennung der Bedeutung
und Tragweite der gerügten Grundrechte auf der Grundlage der den Gerichten im
Zeitpunkt ihrer jeweiligen Entscheidung vorliegenden Kenntnisse, insbesondere auch
über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, nicht erkennen.
a) Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, die Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner
Bürger und deren Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der staatlichen Institutionen zu
schützen, und die Gleichbehandlung aller in Strafverfahren rechtskräftig Verurteilten
gebieten grundsätzlich die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs (vgl.
BVerfGE 51, 324 <343 f.>). Das bedeutet auch, dass rechtskräftig erkannte
Freiheitsstrafen zu vollstrecken sind.
b) Das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, findet seine Grenzen im
Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG). Bei Gesundheitsgefährdungen eines Strafgefangenen entsteht zwischen
der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und dem Interesse des
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Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte ein
Spannungsverhältnis. Keiner dieser Belange genießt schlechthin den Vorrang. Ein
Konflikt ist nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das bei der Beurteilung
von Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Beachtung erfordert,
durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Führt diese Abwägung zu
dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen des Verurteilten
ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die
Strafvollstreckung dienen soll, so verletzt der gleichwohl erfolgte Eingriff das
Verhältnismäßigkeitsprinzip und damit das Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2
Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 51, 324 <343 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Zweiten Senats vom 27. Juni 2003 - 2 BvR 1007/03 -, NStZ-RR 2003, S. 345).
Die Grenze ist jedenfalls erreicht, wenn angesichts des Gesundheitszustands des
Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er bei der weiteren Durchführung der
Strafvollstreckung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner
Gesundheit nehmen wird (vgl. BVerfGE 51, 324 <345 ff.>; BVerfG, Beschluss der 3.
Kammer des Zweiten Senats vom 27. Juni 2003, a.a.O.).
c) Darüber hinaus verpflichtet Art. 1 Abs. 1 GG die Staatsgewalt dazu, in allen ihren
Erscheinungsformen die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (vgl.
BVerfGE 45, 187 <227>). Der Strafvollzug steht unter dem Gebot, schädlichen
Auswirkungen für die körperliche und geistige Verfassung des Gefangenen im
Rahmen des Möglichen entgegenzuwirken (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261
<277>; 109, 133 <150 f.>; 117, 71 <91>) und die Gefangenen lebenstüchtig zu halten
(vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 117, 71 <91> ). Mit der Würde des Menschen wäre es
unvereinbar, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte konkrete und
grundsätzlich auch realisierbare Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden (vgl.
BVerfGE 45, 187 <245>; 72, 105 <113>; 117, 71 <95> ), auf einen von Siechtum und
Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren (vgl. BVerfGE 72, 105
<116 f.> ). Je nach den Umständen des Einzelfalls kann dem Interesse des
Gefangenen an der Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit ein Gewicht zukommen,
welches das der Gründe für einen weiteren, ununterbrochenen Vollzug zu übertreffen
vermag (vgl. BVerfGE 64, 261 <277> ).
d) Von einer verfassungswidrigen Verkennung dieser Grundsätze durch die
angegriffenen Entscheidungen kann nicht ausgegangen werden. Beide Gerichte
haben
hinsichtlich des derzeit 65-jährigen Beschwerdeführers zunächst die
Möglichkeit in Betracht gezogen, dass infolge seiner nur begrenzten
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Lebenserwartung eine bedingte Entlassung aus der weiteren Strafvollstreckung
angezeigt erscheinen könnte. Das Oberlandesgericht hat zudem ausdrücklich auf die
Möglichkeit einer gebotenen Neubewertung im Falle einer offenbar mittlerweile auch
eingetretenen Gesundheitsverschlechterung hingewiesen.
Nicht zu beanstanden ist dagegen, dass das Oberlandesgericht das erst zwei Tage
nach Erlass der verfahrensabschließenden Entscheidung festgestellte Ausmaß der
Gesundheitsverschlechterung nicht berücksichtigt hat. Insoweit kann auch keine
durchgreifende Verletzung des Gebots effektiver Sachverhaltsaufklärung festgestellt
werden, da seitens des Beschwerdeführers keine nachhaltigen Anhaltspunkte für
eine notwendige weitere Aufklärung naheliegender und zwingend einer gerichtlichen
Entscheidung zugrunde zu legender Umstände vorgebracht worden sind. Dies hat
das Oberlandesgericht in seiner die Anhörungsrüge zurückweisenden Entscheidung
zutreffend dargelegt.
2. Soweit der Beschwerdeführer zur Begründung der behaupteten Verletzung seines
Anspruchs auf rechtliches Gehör ausführt, dass insbesondere das Oberlandesgericht
trotz seines diesbezüglichen Vorbringens in der Beschwerdeschrift ohne Würdigung
von einer seines Erachtens nach unzutreffend langen Lebenserwartung
ausgegangen sei, trifft dies ausweislich der Begründung der Entscheidung über die
sofortige
Beschwerde,
die
insbesondere
auch
den
Nachtrag
zur
Gesundheitsverfassung repliziert, ersichtlich nicht zu. Dass das Oberlandesgericht in
der Entscheidung vom 18. April 2011 die erst mit Attest vom 20. April 2011 belegte
Notwendigkeit von Schmerzmitteln nicht berücksichtigt hat, begründet entgegen der
Auffassung des Beschwerdeführers ebenso wenig eine Gehörsverletzung wie im
Falle der Entscheidung über Gegenvorstellung und Anhörungsrüge. Sinn und Zweck
der Gehörsrüge nach § 33a StPO, mit deren Einführung das vorherige Bedürfnis für
eine Gegenvorstellung als Möglichkeit der Selbstkorrektur der Gerichte beseitigt
worden ist, ist gerade nicht das Nachschieben von erst nach Eintritt formeller
Rechtskraft bekannt werdender Umstände. Vielmehr zielt die Gehörsrüge (nur) auf die
Geltendmachung von bereits bei vorangegangener Entscheidungsfindung dem
Ge ri c h t bekannten, gleichwohl aber übergangenen, Tatsachen und deren
rechtsfehlerhafte Nichtberücksichtigung.
a) Eine Verletzung des Gebots effektiver Sachaufklärung kann auch nicht darin
ersehen werden, dass aufgrund einer mit der sofortigen Beschwerde vorgelegten,
nicht jedoch zur hiesigen Akte gelangten ärztlichen Stellungnahme über die aktuelle
gesundheitliche Verfassung eine weitere Untersuchung oder Anhörung des
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Sachverständigen geboten gewesen wäre, die vom Oberlandesgericht dann
fehlerhaft unterlassen worden wäre. Die Stellungnahme hat, soweit dies mittelbar aus
dem Vortrag des Beschwerdeführers und den gerichtlichen Entscheidungen
ersichtlich wird, aus medizinischer Sicht zwar die sofortige Entlassung befürwortet.
Dies kann jedoch weder für sich genommen noch in einer Gesamtwürdigung aller
übrigen Umstände für die Fachgerichte eine bindende Entscheidung über die
Fortdauer der Strafvollstreckung begründen. Auch im vorliegenden Fall oblag es
allein den Vollstreckungsgerichten, unbeschadet aller sachkundigen Ausführungen
zur Gesundheit und Gefährlichkeit des Beschwerdeführers, eine eigene Prognose zu
treffen, die auch die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit zu berücksichtigen hatte.
b) Wenn eine fortbestehende Gefährlichkeit des Verurteilten positiv festgestellt
werden kann, ist der weitere Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe erforderlich, um
die Allgemeinheit zu schützen. Die besonders hohe Wertschätzung des Lebens
rechtfertigt darüber hinaus aber auch dann die weitere Vollstreckung der
lebenslangen Freiheitsstrafe, wenn nach Erfüllung des verfassungsrechtlichen
Gebots
einer
zureichenden richterlichen Sachaufklärung keine günstige
Gefährlichkeitsprognose gestellt werden kann. Es ist verfassungsrechtlich auch im
Hinblick auf den Umstand, dass die verhängte lebenslange Freiheitsstrafe als die
schuldangemessene Strafe ausgesprochen worden ist, nicht zu beanstanden, wenn
die in diesen Fällen verbleibenden Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose
zu Lasten des Verurteilten gehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
Senats vom 22. März 1998 - 2 BvR 77/97 -, NJW 1998, S. 2202; Beschluss der 2.
Kammer des Zweiten Senats vom 23. September 1991 - 2 BvR 1327/89 -, NJW 1992,
S. 2344).
c) Die formelle Bestandskraft der Entscheidungen von Landgericht und
Oberlandesgericht stellt, wie von beiden Gerichten ausdrücklich angeführt, im
Übrigen keine endgültige und irreversible Entscheidung über die Möglichkeit einer
künftigen Strafaussetzung aufgrund veränderter, namentlich verschlechterter,
gesundheitlicher Umstände dar. Selbst wenn eines der beiden Gerichte von der
Möglichkeit der Festsetzung einer Sperrfrist gemäß § 57a Abs. 4 StGB, innerhalb
derer weitere Anträge auf Strafaussetzung zur Bewährung unzulässig sind, Gebrauch
gemacht hätte, wäre der Beschwerdeführer unter Berufung auf seinen aktuellen
Gesundheitszustand aufgrund der deutlich geänderten Sachlage in jedem Fall
antragsberechtigt (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 20. August 2003 - 2 Ws 258/03 -,
NStZ-RR 2003, S. 381; OLG Hamm, Beschluss vom 27. April 1999 - 2 Ws 118/99 -,
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NStZ-RR 1999, S. 285). Aus den am 9. Mai 2011 nachgereichten Unterlagen ist
überdies ersichtlich, dass das zwischenzeitlich erneut angerufene Landgericht
Hamburg aufgrund der ihm vorgelegten Atteste vom 24. März 2011 und vom 20. April
2011 zur nochmaligen Prüfung der Möglichkeit einer bedingten Strafaussetzung eine
sachverständige Stellungnahme zur Gefährlichkeit und Haftfähigkeit des
Beschwerdeführers eingeholt hat. Eine Berücksichtigung dieser erst nach Abschluss
des hier angegriffenen fachgerichtlichen Verfahrens gewonnenen Tatsachen kann
jedoch weder im Rahmen der Hauptsache noch im Rahmen der einstweiligen
Anordnung Berücksichtigung finden.
3. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde wird der Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos (§ 40 Abs. 3 GOBVerfG).
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Mellinghoff
Landau
Huber