Urteil des BVerfG vom 27.07.1999

zulässigkeit der auslieferung, rechtshilfe in strafsachen, auslieferungshaft, marokko

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Michael von Glahn und Kollegin,
Werler Straße 129, Hamm -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 898/99 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn A.,
gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Bamberg
vom 28. Juni 1999 - 4 Ausl.Reg. 20/97 -
b) den Beschluß des Oberlandesgerichts Bamberg
vom 29. April 1999 - 4 Ausl.Reg. 20/97 -,
u n d Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die
Richter Sommer,
Broß
und die Richterin Osterloh
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 27. Juli 1999 einstimmig
beschlossen:
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Bamberg vom 29. April 1999 - 4 Ausl.Reg. 20/97 -
und 28. Juni 1999 - 4 Ausl.Reg. 20/97 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit, soweit in ihnen die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet wird. Sie
werden insoweit aufgehoben. Die Sache wird insoweit an das Oberlandesgericht Bamberg
zurückverwiesen. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung
angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die durch die Verfassungsbeschwerde und
den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung entstandenen notwendigen Auslagen zur
Hälfte zu erstatten.
Gründe:
A.
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Das
Verfassungsbeschwerde-Verfahren
betrifft u.a.
die
Frage,
welche
verfassungsrechtlichen Anforderungen im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens an die
Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft zu stellen sind, wenn die (förmliche)
Auslieferungshaft nach § 15 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
(IRG) zum Zeitpunkt der Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts nach § 29 IRG
bereits mehr als 14 Monate andauert.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist 23 Jahre alt und marokkanischer Staatsangehöriger. Er
befindet sich z.Zt. in Auslieferungshaft in der Justizvollzugsanstalt Dortmund. Das Königreich
Marokko
begehrt
seine
Auslieferung.
Ausweislich des
Haftbefehls
des
Untersuchungsrichters am Berufungsgericht Al Hoceima vom 27. Januar 1998 soll der
Beschwerdeführer am 11. Februar 1997 nahe Al Hoceima (Marokko) zusammen mit drei
weiteren Beschuldigten zwei Beamte der königlichen Gendarmerie aus einem fahrenden
PKW gestürzt und dadurch den einen Beamten getötet und den anderen erheblich verletzt
haben. Zwei der Beschuldigten befinden sich in Auslieferungshaft in Bayern, der dritte
Mitbeschuldigte
hat in belgischer Auslieferungshaft am 23. Juli 1997 einen
Selbstmordversuch unternommen, der am 30. Juli 1997 seinen Tod zur Folge hatte.
Der Beschwerdeführer erklärte sich nicht mit einer vereinfachten Auslieferung gemäß § 41
IRG einverstanden.
2. Das Oberlandesgericht Bamberg ordnete am 9. Januar 1998 gegen den
Beschwerdeführer gemäß § 16 Abs. 1 IRG die vorläufige Auslieferungshaft an. Seit dem 19.
Februar 1998 befindet sich der Beschwerdeführer in (förmlicher) Auslieferungshaft gemäß
§ 15 IRG.
3. Noch vor dem Eintreffen der Auslieferungsunterlagen überreichte das Auswärtige Amt
der Botschaft des Königreichs Marokko am 5. Februar 1998 eine Verbalnote, in der das
Auswärtige Amt um Einholung einer Zusicherung gemäß § 8 IRG bat. Das Königreich
Marokko möge zusichern, daß gegen den Beschwerdeführer eine Todesstrafe nicht verhängt
oder nicht vollstreckt werde. Mit Datum vom 24. Februar 1998 überreichte der Botschafter
des Königreichs Marokko dem Auswärtigen Amt eine Verbalnote. Darin heißt es:
Die Botschaft des Königreichs Marokko in Bonn grüßt das Auswärtige Amt
und beehrt sich, unter Bezugnahme auf ihre Verbalnote Nr. 0267 vom
17.02.1998, ihm mitzuteilen, daß das marokkanische Justizministerium
m i t Bezug auf die Artikeln 392, 114 und 401 des marokkanischen
Strafgesetzbuches - deren Kopien in der vorerwähnten Verbalnote
beigefügt waren - erachtet, daß die den Verfolgten vorbehaltenen Taten,
bzw. die versuchten Totschlag und Körperverletzung, wegen derer die
Auslieferung beantragt wurde, unter Todesstrafe nicht gestellt werden.
In ihrem Antrag auf Haftfortdauer vom 24. März 1998 betonte die Staatsanwaltschaft bei
dem Oberlandesgericht Bamberg, daß eine Zusicherung der Einhaltung der Spezialität
gemäß § 11 IRG nicht vorliege und die Verbalnote der marokkanischen Botschaft vom 24.
Februar 1998 keine ausreichende Zusicherung im Sinne des § 8 IRG darstelle; der
maßgebende Artikel 392 des marokkanischen Strafgesetzbuches sei unvollständig übersetzt
und die Erklärung sei nicht eindeutig; darüber hinaus handele es sich nicht um eine
völkerrechtlich verbindliche Zusage der marokkanischen Regierung.
4. Mit Beschluß vom 31. März 1998 ordnete das Oberlandesgericht Bamberg gegen den
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Beschwerdeführer und zwei andere Verfolgte die Fortdauer der Auslieferungshaft an. In
seinem Beschluß legte das Oberlandesgericht unter Ziffer 2) und 3) fest:
2) Bezüglich sämtlicher drei Verfolgter ist zur Vorbereitung der endgültigen
Entscheidung bei den zuständigen marokkanischen Behörden zu erholen
a) die Zusicherung der Einhaltung der Spezialität,
b) eine vollständige Abschrift des Artikels 392 des marokkanischen
Gesetzbuches mit Übersetzung ,
c) eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung der marokkanischen
Regierung, daß gegen die Verfolgten wegen der Taten, derentwegen um
Auslieferung ersucht wird, die Todesstrafe nicht verhängt oder nicht
vollstreckt wird .
3) Zudem ist eine Auskunft der Bundesregierung zu erholen ,
a) ob bei Vorliegen einer Zusicherung nach § 8 IRG diese als ausreichend
für die Einhaltung erachtet wird und
b) ob den Verfolgten nach Auslieferung in das Königreich Marokko Folter
droht .
Mit Beschlüssen vom 29. Mai 1998 und vom 28. Juli 1998 ordnete das Oberlandesgericht
erneut die Haftfortdauer an. In der Zwischenzeit hatte das Bundesministerium der Justiz mit
Schreiben vom 1. Juli 1998 dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz einen Bericht der
deutschen Botschaft in Rabat vom 5. Juni 1998 überreicht und angefragt, ob die Auflagen des
Oberlandesgerichts Bamberg damit als erledigt betrachtet werden könnten. In dem Bericht
der Botschaft heißt es unter anderem, die marokkanische Regierung halte ihre
Zusicherungen im Auslieferungsverkehr ein, und in der Todesstrafenproblematik ergäben
sich gegenüber einer Zusicherung nach § 8 IRG auch deswegen keine Bedenken, weil die
Vollstreckung der Todesstrafe de facto obsolet geworden sei. Die Gefahr von Folter und
unmenschlicher Behandlung bestehe nicht. Darüber hinaus enthält der Bericht Ausführungen
über den Straftatbestand des Art. 392 des marokkanischen Strafgesetzbuches.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz teilte dem Bundesministerium der Justiz mit
Schreiben vom 14. Juli 1998 mit, daß die vom Oberlandesgericht in Ziffer 2 des Beschlusses
vom 31. März 1998 für erforderlich gehaltenen Zusicherungen noch immer nicht vorlägen und
aus der Sicht des Staatsministeriums durch einen Bericht der deutschen Botschaft in
Marokko nicht ersetzt werden könnten.
5. Im September 1998 beantragte die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht erneut
die Verlängerung des Haftbefehls und machte unter anderem geltend, die Fortdauer der Haft
sei nicht unverhältnismäßig. Wann der Beschluß des Senats vom 31. März 1998 den
marokkanischen Behörden übermittelt worden sei, sei nicht bekannt. Das entsprechende
Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz an das Bundesministerium der
Justiz datiere vom 28. April 1998, so daß die marokkanischen Behörden im Mai/Juni 1998
unterrichtet worden sein dürften. Unter Berücksichtigung des Umstandes, daß es sich bei
Marokko um ein außereuropäisches Land handele und sich die Geschäftswege dort unter
Umständen weitaus schwieriger gestalteten, lägen die bisherigen Verzögerungen "durchaus
noch in einem dem gegenständlichen Auslieferungsverfahren immanenten Bereich". Es
werde jedoch eine Fristsetzung bis zum 30. Dezember 1998 angeregt.
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6. Mit Schriftsatz vom 23. September 1998 wendete der Beschwerdeführer ein, die weitere
Auslieferungshaft und auch die Einräumung einer zusätzlichen Frist bis zum 31. Dezember
1998 seien verfassungswidrig. Da es sich auch für die marokkanischen Behörden nicht um
ihren ersten Auslieferungsfall handeln dürfte, müßte ihnen die erforderliche Verfahrensweise
sehr wohl bekannt sein.
7. Mit Beschluß vom 28. September 1998 ordnete das Oberlandesgericht erneut die
Fortdauer der Auslieferungshaft an und setzte für die Einholung der Zusicherungen nach § 11
IRG und nach § 8 IRG sowie für die Vorlage einer vollständigen Abschrift des Art. 392 des
marokkanischen Strafgesetzbuches eine Frist bis zum 30. Dezember 1998. Mit Blick auf den
gewichtigen Strafvorwurf liege eine gravierende Verletzung des Beschleunigungsgebotes
nicht vor. Außerdem wolle der Senat nicht über den Wert von Zusagen entscheiden, bevor
diese vorlägen und die Auskunft der Bundesregierung hierüber erteilt sei.
Am 2. Oktober 1998 teilte die marokkanische Botschaft in einer weiteren Verbalnote mit,
daß das marokkanische Justizministerium zusichere, daß die Taten, hinsichlich welcher die
Betreffenden beschuldigt würden, nicht der Todesstrafe unterlägen, und daß die
"Beschuldigten nur auf der Basis der Tatsachen beurteilt" würden, aufgrund welcher ihre
Ausweisung von der deutschen Regierung verlangt werde. Das Bundesministerium der
Justiz vertrat daraufhin in einem Schreiben vom 19. Oktober 1998 die Ansicht, daß alle
Auflagen des Senats "nunmehr erfüllt" seien.
8. Mit Schreiben vom 28. Oktober 1998 teilte der Generalstaatsanwalt bei dem
Oberlandesgericht mit, die bisher übersandten Verbalnoten und auch die Verbalnote vom 2.
Oktober 1998 genügten offensichtlich den Auflagen des Oberlandesgerichts in seinem
Beschluß vom 31. März 1998 nicht. Eine Zusicherung der marokkanischen Regierung sei
unerläßlich. Daraufhin wandte sich das Auswärtige Amt am 10. November 1998 erneut mit
Verbalnote an die marokkanische Regierung bzw. die marokkanische Botschaft und bat um
präzise Einhaltung der Formulierungen.
9. Mit Beschluß vom 27. November 1998 ordnete das Oberlandesgericht Bamberg zum
fünften Male die Haftfortdauer an. Es hätten sich seit der letzten Entscheidung des Senats
weder rechtliche noch tatsächliche Veränderungen ergeben, die Anlaß zur Aufhebung oder
Außervollzugsetzung der Auslieferungshaft gäben. Erst nach Ablauf der bis zum 30.
Dezember 1998 gesetzten Frist gäbe es Anlaß zu einer erneuten intensiven Prüfung.
10. Mit Verbalnote vom 8. Dezember 1998 erklärte die marokkanische Botschaft gegenüber
dem Auswärtigen Amt, daß sie sich beehre, "ihm unter Bezugnahme auf seine Verbalnote
(...) vom 10. November 1998 die vom marokkanischen Justizministerium gemachten
rechtlichen Zusicherungen für das Urteil der drei marokkanischen Staatsangehörigen, deren
Auslieferung von Marokko beantragt wurde, zu bestätigen". Darüber hinaus gab die Botschaft
eine Reihe von Zusicherungen ab, unter anderem, daß eine Verurteilung der Betroffenen nur
für die ihnen vorgeworfenen Taten erfolgen werde und daß die Taten weder der Todesstrafe
unterlägen noch die Todesstrafe gegen die Betroffenen verhängt oder vollstreckt werde.
11. Mit Schreiben vom 17. Dezember 1998 teilte die Staatsanwaltschaft dem
Oberlandesgericht mit, daß nunmehr die Zusicherungen vorlägen, und bat das Gericht um
Mitteilung, ob die Auflagen entsprechend dem Beschluß des Strafsenats nunmehr erfüllt
seien. Außerdem teilte die Staatsanwaltschaft mit, daß sie bei dem Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen wegen des dort anhängigen Asylverfahrens des Beschwerdeführers eine
Anfrage gestellt habe. Vor einer Stellung des Zulassungsantrages sei die Antwort des
Verwaltungsgerichts abzuwarten, aus der sich "möglicherweise weitere Erkenntnisse
ergeben".
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12. Mit Schriftsatz vom 5. Januar 1999 beantragte der Beschwerdeführer erneut unter
Hinweis auf die Unverhältnismäßigkeit der Haftdauer und die Unzulänglichkeit der
vorliegenden Zusagen und Auskünfte, die Auslieferung für unzulässig zu erklären und den
Haftbefehl aufzuheben.
13. Mit Beschluß vom 27. Januar 1999 ordnete das Oberlandesgericht die Fortdauer der
Auslieferungshaft an. Es hätten sich seit der letzten Entscheidung keine Erkenntnisse
ergeben, die die beantragte Auslieferung als unzulässig anzeigten oder bezüglich der
Anordnung oder Vollstreckung der Haft eine abweichende Beurteilung rechtfertigten. Hierbei
berücksichtige der Senat auch, daß eine abschließende Entscheidung unmittelbar
bevorstehe.
14. Mit einem umfangreichen Beweisbeschluß vom 1. Februar 1999 holte das
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen bei dem Deutschen Orient-Institut und dem Auswärtigen
Amt Auskünfte unter anderem über die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe, die
Einhaltung von Zusicherungen seitens der marokkanischen Behörden, hinsichtlich der
Anwendung von Folter sowie weiterer Fragenkomplexe ein. Die Antwort des Deutschen
Orient-Institutes erfolgte am 15. Februar 1999.
15. Mit Beschluß vom 26. März 1999 ordnete das Oberlandesgericht die Fortdauer der
Auslieferungshaft an und setzte die Entscheidung über die Zulässigkeit bis zu dem Eingang
der von dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen begehrten Auskunft des Auswärtigen Amtes
aus. Diese Auskunft hatte das Auswärtige Amt am 17. März 1999 erteilt; darin nimmt es
unter anderem zur Todesstrafe, zur Folter und zu der Zusicherung in der Verbalnote der
marokkanischen Botschaft vom 8. Dezember 1998 Stellung.
16. Mit dem angegriffenen Beschluß vom 29. April 1999 erklärte das Oberlandesgericht die
Auslieferung des Beschwerdeführers an das Königreich Marokko zur Strafverfolgung wegen
der im Haftbefehl des Untersuchungsrichters am Berufungsgericht Al Hoceima vom 27.
Januar 1998 bezeichneten Straftaten für zulässig und ordnete die Haftfortdauer an. Die
Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die Zulässigkeit der Auslieferung griffen nicht
durch:
a) Das Vorbringen, wonach die erhobenen Vorwürfe als Vorwand zur Verfolgung aus
politischen Gründen erfunden worden seien, habe der Beschwerdeführer nicht weiter
präzisiert. Das Gericht halte dieses Vorbringen deshalb für bloße Schutzbehauptungen. Aus
diesem Grunde seien die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 IRG und eine besondere
Prüfungspflicht bezüglich des dringenden Tatverdachts zu verneinen.
b) Es gebe auch keinen Anlaß, der Zusicherung der Nichtverhängung oder doch
Nichtvollstreckung der nach dem Text der marokkanischen Vorschriften - § 392 Abs. 2 des
Strafgesetzbuches - denkbaren Todesstrafe durch das ersuchende Land zu mißtrauen. Mit
Verbalnoten vom 24. Februar und 8. Dezember 1998 habe die Botschaft des Königreichs
Marokko unter Bezugnahme auf vom marokkanischen Justizministerium am 10. November
1998 abgegebene Erklärungen zum konkreten Fall versichert, daß die Taten, wegen derer die
Auslieferung begehrt werde, nicht unter Todesstrafe gestellt seien. Die Glaubhaftigkeit dieser
Zusagen werde durch Fernschreiben der Deutschen Botschaft aus Rabat vom 22. Juni und
7. Dezember 1998 ebenso bestätigt wie durch die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 17.
März 1999 an das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen im Verwaltungsstreitverfahren des
Beschwerdeführers gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Asylrechts bzw.
Abschiebungsschutzes.
c) Aus der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes ergebe sich auch, daß in Marokko
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Mißhandlung und Folter von Gefangenen nicht geduldet und einzelne Fälle dieser Art verfolgt
und geahndet würden. Da Vorgänge dieser Art auch in Rechtsstaaten nicht grundsätzlich
auszuschließen seien, sei darauf abzustellen, ob solche Geschehnisse Ausnahmecharakter
trügen und ob der zuständige Staat sie mißbillige und gegen sie vorgehe. Beides sei für das
Königreich Marokko zu bejahen. Die Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 15.
Februar 1999, welches von Todesfällen "wegen Herzversagens" in Gefängnissen berichte,
vermöge die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 17. März 1999 insoweit nicht in
Frage zu stellen. Das Auswärtige Amt verfüge erkennbar über weiterreichende und aktuellere
Informationen. Das Gericht sehe daher den Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung
weder mit Tod noch mit Folter bedroht, so daß auch § 8 IRG der Zulässigkeitserklärung der
Auslieferung nicht entgegenstehe.
d) Die Dauer des Verfahrens lasse die Auslieferung des Beschwerdeführers nicht als
unzulässig erscheinen. Das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen selbst
kenne keine (Ausschluß-) Fristen für die nach § 30 Abs. 1 IRG erbetenen Ergänzungen von
Unterlagen und für die Abgabe von Zusicherungen. Gegen eine vom Gericht ausdrücklich
nach § 30 Abs. 1 Satz 2 IRG gesetzte Frist sei nicht verstoßen worden. Es verbleibe daher
lediglich eine Überprüfung des Verfahrens unter Beachtung des auch im
Auslieferungsverfahren geltenden Beschleunigungsgebotes. Dabei seien die sich aus den
Gegensätzlichkeiten der verschiedenen Kulturkreise der beteiligten Länder ergebenden
Schwierigkeiten ebenso zu beachten wie die Zeiten, die verbraucht wurden, um zugunsten
des Beschwerdeführers und weitgehend auf dessen Betreiben hin mehr Klarheit zu erlangen.
Auch könne vorliegend nicht übergangen werden, daß es sich bei den gegen den
Beschwerdeführer erhobenen Vorwürfen um höchst gravierende handele. Eine
Gesamtabwägung all dieser Umstände erbringe auch vom Gesichtspunkt der
Beschleunigung her keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Auslieferung.
17. Mit Beschluß vom 28. Juni 1999, den der Beschwerdeführer ebenfalls zum Gegenstand
d e r Verfassungsbeschwerde gemacht hat, ordnete das Oberlandesgericht mit der
Begründung, daß sich weder zum Haftgrund noch zur Unverzichtbarkeit des Vollzugs der
Auslieferungshaft neue dem Verfolgten günstige Erkenntnisse ergeben hätten, erneut die
Fortdauer der Auslieferungshaft an.
18. Mit Schriftsatz vom 6. Juli 1999 teilte der Beschwerdeführer mit, er habe unter Vorlage
einer Auskunft von amnesty international vom 29. April 1999 an das Verwaltungsgericht
Ansbach einen Antrag auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nach
§ 33 IRG gestellt.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner
Grundrechte
aus
Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem
Verhältnismäßigkeitsprinzip geltend:
1. Dem Beschwerdeführer drohten in Marokko zumindest Folter und unmenschliche Haft.
Dies zeige ein Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 07. Februar 1996, welches
unter Hinweis auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 06. Oktober 1995 betone,
daß nach glaubhaften Berichten von Gefangenen im marokkanischen Polizeigewahrsam jede
Art von Mißhandlung denkbar sei. Insbesondere im Bereich des Polizeiwesens und des
Strafvollzugs seien Foltermaßnahmen an der Tagesordnung.
Darüber hinaus verweist der Beschwerdeführer auf das für das Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen erstellte Gutachten des Deutschen Orient-Instituts vom 15. Februar 1999, in
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dem darauf hingewiesen werde, daß auch 1998 erneut Todesfälle in marokkanischen
Gefängnissen aufgetreten seien, die auf ein angebliches Herzversagen zurückgeführt worden
seien. Außerdem gälten 112 Personen als "verschwunden", von denen 56 Personen tot
seien. Im übrigen stelle der sexuelle Mißbrauch von Gefangenen "ein relativ weit verbreitetes
Verhalten" dar. Darüber hinaus führt der Beschwerdeführer noch weitere Gesichtspunkte an,
die eine Gefahr der Mißhandlung begründeten.
Schließlich stelle die Tatsache, daß die mutmaßlichen Tatopfer keine Privatpersonen,
sondern Polizisten in einem islamisch geprägten Königreich seien, einen begründeten
Anhaltspunkt für drohende schwere Menschenrechtsverletzungen dar.
2. Darüber hinaus bestehe die Unklarheit, ob die Tat, die dem Beschwerdeführer zur Last
gelegt werde, der Todesstrafe unterliege oder nicht, da die marokkanischen Behörden -
entgegen einer Auflage in dem Beschluß des Oberlandesgerichts Bamberg vom 31. März
1998 - eine vollständige Abschrift des Art. 392 des marokkanischen Strafgesetzbuches noch
immer nicht vorgelegt hätten. Eine umfassende Aufklärung des Sachverhalts sei
unverzichtbar, so daß aufgeklärt werden müsse, ob das dem Beschwerdeführer zur Last
gelegte Delikt nach der Rechtsordnung Marokkos "todeswürdig" sei oder nicht.
3. Zu einer rechtlich verbindlichen Zusicherung, daß es keine Todesstrafe geben werde, sei
es nicht gekommen. Dies ergebe sich aus einer Mitteilung der Deutschen Botschaft aus
Rabat vom 7. Dezember 1998; es dränge sich daher die Frage auf, welche "rechtliche
Zusicherung" durch die Verbalnote vom 8. Dezember 1998 eigentlich "bestätigt" werden solle.
4. Die fortwährende Vollstreckung des Auslieferungshaftbefehls verstoße gegen Art. 2 Abs.
2 Satz 2 GG und das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Die Dauer des Verfahrens mache die
Auslieferung unzulässig. Für die Beurteilung der Dauer der Auslieferungshaft und ihrer
Vollstreckung könne es nicht allein auf das Gewicht des Tatvorwurfs ankommen. Die
Auslieferungshaft unterliege von Verfassungs wegen dem Gebot größtmöglicher
Verfahrensbeschleunigung. Dies bedeute, daß ab einer gewissen, für die verfahrensmäßige
und technische Abwicklung der notwendigen Entscheidungen unabdingbaren Mindestdauer
des Verfahrens besondere, das Auslieferungsverfahren selbst betreffende Gründe vorliegen
müßten, um die weitere Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft zu rechtfertigen. Derartige
besondere Umstände, wie sie das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung BVerfGE
61, 28 fordere, lägen nicht vor. Die für eine verfahrensmäßige und technische Abwicklung
unabdingbare Mindestdauer sei nach rund 15 Monaten Auslieferungshaft jedenfalls
abgelaufen. Die in dem angegriffenen Beschluß vom 29. April 1999 angeführten
"Gegensätzlichkeiten der verschiedenen Kulturkreise der beteiligten Länder" änderten nichts
an den modernen Kommunikationsmöglichkeiten, über die auch ein Land wie Marokko
verfüge.
5. Der Beschwerdeführer beantragt, im Wege einer einstweiligen Anordnung die Vollziehung
seiner Auslieferung vorläufig auszusetzen und den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben.
III.
Den Äußerungsberechtigten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
B.
I.
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Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur
Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers
angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG), und gibt ihr in dem aus dem
Tenor ersichtlichen Umfange statt.
Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 61, 28); hiernach ist die
Verfassungsbeschwerde im Sinne einer Entscheidungskompetenz der Kammer
offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse des
Oberlandesgerichts Bamberg vom 29. April 1999 und vom 28. Juni 1999 verletzen den
Beschwerdeführer, soweit sie die Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft betreffen.
Hingegen ist die Entscheidung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit der Auslieferung
des Beschwerdeführers nach Marokko von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden;
insoweit wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
1. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts, die Auslieferung des Beschwerdeführers
nach
Marokko
für zulässig zu erklären, begegnet keinen durchgreifenden
verfassungsrechtlichen Bedenken.
a) Das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Gefahr von Folter und unmenschlicher Haft,
insbesondere wegen des Tatvorwurfs (u.a. Polizistenmord) ist nicht in der gebotenen Weise
substantiiert dargelegt. Der Beschwerdeführer hat es versäumt, innerhalb der Monatsfrist des
§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG die von ihm zur Begründung seiner Verfassungsrügen in Bezug
genommenen Schriftstücke vorzulegen (vgl. § 93 Abs. 1 i.V.m. §§ 92, 23 Abs. 1 Satz 2
BVerfGG; vgl. BVerfGE 78, 320 <327>; 88, 40 <45>).
b) Darüber hinaus vermag die - möglicherweise - bestehende Unsicherheit, ob die dem
Beschwerdeführer zur Last gelegte Handlung nach Art. 392 des marokkanischen
Strafgesetzbuches mit der Todesstrafe bedroht ist, eine Verfassungswidrigkeit der
angegriffenen Entscheidung nicht hinreichend zu begründen. Das Oberlandesgericht hat in
seiner Entscheidung festgestellt, daß Marokko jedenfalls ausweislich der vorgelegten
Verbalnote vom 8. Dezember 1998 sowohl eine Verurteilung zum Tode als auch eine
Vollstreckung der Todesstrafe ausgeschlossen habe, so daß bereits einfachrechtlich § 8 IRG
der Zulässigkeit der Auslieferung nicht entgegenstehe. Die Einschätzungen des
Oberlandesgerichts hinsichtlich der Verläßlichkeit der Zusagen Marokkos und zu der Frage
einer möglicherweise drohenden Folter beruhen im wesentlichen auf Lageberichten und
Auskünften des Auswärtigen Amtes und des Deutschen Orient-Instituts. Inwieweit das
Oberlandesgericht bei seiner Würdigung spezifisches Verfassungsrecht verletzt haben soll,
ist weder substantiiert dargelegt noch ersichtlich.
c) Soweit der Beschwerdeführer in seinen Schriftsätzen vom 2. Juli und vom 6. Juli 1999
auf die Stellungnahme von amnesty international an das Verwaltungsgericht Ansbach
verweist, in der der Einschätzung des Auswärtigen Amtes, in Marokko gebe es keine Folter,
mit deutlichen Worten widersprochen wird, kann dieser Vortrag aus dem Gesichtspunkt der
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) keine
Berücksichtigung finden, da hierüber zunächst das Fachgericht zu befinden hat. Der
Beschwerdeführer hat die Möglichkeit, diesen neuen Sachvortrag zunächst dem Fachgericht
im Rahmen eines Antrags auf erneute Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung
gemäß § 33 IRG zu unterbreiten, und hat diese inzwischen nach eigenen Angaben auch
wahrgenommen.
2. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet, soweit das Oberlandesgericht in
den angegriffenen Beschlüssen die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet hat.
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a) Die Anordnung der Auslieferungshaft stellt ebenso wie die von Untersuchungshaft einen
staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit dar, der nur aufgrund eines
Gesetzes erfolgen darf und nur dann, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies
zwingend gebieten (vgl. BVerfGE 53, 152 <158>; 61, 28 <32>). Die erforderliche gesetzliche
Grundlage bietet § 15 Abs. 1 IRG. Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG kann nach dem Eingang
des Auslieferungsersuchens gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft dann angeordnet
werden, wenn die Gefahr besteht, daß er sich dem Auslieferungsverfahren oder der
Durchführung der Auslieferung entziehen werde.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, daß verfassungsrechtliche
Bedenken gegen eine solche Norm nicht bestehen (vgl. BVerfGE 61, 28 <32 f.> zu der
entsprechenden Vorschrift des § 10 des zur Zeit der Entscheidung noch einschlägigen
Deutschen Auslieferungsgesetzes - DAG). Durch die verfahrensmäßige Ausgestaltung des
Auslieferungsverfahrens, insbesondere die nach § 26 IRG vorgesehene Haftprüfung in
zweimonatigen Abständen, durch die Möglichkeit des Verfolgten, gemäß § 23 IRG jederzeit
eine Entscheidung über Einwendungen gegen den Haftbefehl zu erwirken, und durch die in
§ 25 IRG gegebene Möglichkeit der Anordnung, daß der Vollzug des Haftbefehls durch
weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt wird, liegt für die Auslieferungshaft eine
verfahrensmäßige Ausgestaltung vor, durch welche den verfassungsrechtlichen
Anforderungen, insbesondere den in der Auslieferungshaft liegenden Eingriff in die
persönliche Freiheit des Verfolgten zeitlich auf das Notwendige und Erforderliche zu
begrenzen, hinreichend Rechnung getragen wird (vgl. BVerfGE 61, 28 <32 f.>).
aa) Die Dauer des Auslieferungsverfahrens kann von vielen verschiedenen Faktoren
abhängen. Für die Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer bestimmten
Verfahrensdauer ist neben anderen Gesichtspunkten auch der Tatvorwurf von Bedeutung.
Dies gilt jedoch nur in bestimmten Grenzen. Für die Beurteilung der Dauer der
Auslieferungshaft und der Vollstreckung kann es, ebenso wie bei der Untersuchungshaft (vgl.
BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <269 ff.>), nicht allein auf das Gewicht des Tatvorwurfs
ankommen. Die Auslieferungshaft ist als Maßnahme der internationalen Rechts- und
Amtshilfe Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt. Sie ist im
Zusammenhang mit dem Gewicht des Tatvorwurfs und der verwirkten Sanktion zu sehen,
unterliegt jedoch von Verfassungs wegen - ebenso wie das gesamte Strafverfahren - dem
Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Dies bedeutet, daß ab einer gewissen, für
die verfahrensmäßige und technische Abwicklung der notwendigen Entscheidungen
unabdingbaren Mindestdauer des Verfahrens besondere, das Auslieferungsverfahren selbst
betreffende Gründe vorliegen müssen, um die weitere Aufrechterhaltung, jedenfalls aber die
weitere Vollstreckung der Auslieferungshaft zu rechtfertigen (vgl. BVerfGE 61, 28 <34>).
Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit setzt der Dauer der Auslieferungshaft Grenzen
(vgl. BVerfGE 61, 28 <35>).
bb) Die im vorliegenden Verfahren weit über die Mindestdauer des Verfahrens
hinausgehenden
erheblichen Verzögerungen sind nicht auf besondere, das
Auslieferungsverfahren selbst betreffende Gründe zurückzuführen. In der zögerlichen
Behandlung der Angelegenheit durch Marokko und der Nichterfüllung der Auflagen seitens
des Auswärtigen Amtes liegt ein Verstoß gegen das von Verfassungs wegen bestehende
Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung.
Grundsätzlich waren die Ermittlungen und Klarstellungen, die von seiten der
Staatsanwaltschaft bzw. des Oberlandesgerichts angestrengt wurden, durch die gesetzlichen
Voraussetzungen des Auslieferungsverfahrens, wie sie insbesondere in §§ 8 und 11 IRG
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niedergelegt sind, veranlaßt. Auch stellte der Verdacht, daß dem Beschwerdeführer in
Marokko möglicherweise Folter und die Todesstrafe drohte, einen hinreichenden Grund für
intensive Ermittlungen dar.
Die verbrauchte Zeit ist aber nicht auf die erforderlichen intensiven Ermittlungen
zurückzuführen, sondern auf die zögerliche Haltung Marokkos, die fehlende
Auflagenerfüllung durch die Bundesregierung und die großzügige Handhabung durch das
Oberlandesgericht. Der Beschwerdeführer selbst hat keinen Anlaß für eine überlange
Verfahrensdauer geboten. Er hat sich erstmals im September 1998 mit Einwendungen zu
Wort gemeldet; dabei hat er keine Aspekte angeführt, die nicht schon zuvor im Rahmen des
Beschlusses des Oberlandesgerichts vom 31. März 1998 berücksichtigt worden waren. Es
ist außerdem nicht ersichtlich, daß die marokkanische Regierung - etwa aufgrund
technischer oder institutioneller Schwierigkeiten - an einer rascheren Erteilung der
erforderlichen Zusagen gehindert war. Denn einerseits sind die technischen Möglichkeiten
hierfür offenbar vorhanden, und andererseits benötigte die marokkanische Botschaft nach
dem Besuch des deutschen Botschafters bei dem Justizministerium in Rabat am 2.
Dezember 1998 nur sechs Tage, um die Zusagen in Form einer Verbalnote abzugeben.
Schließlich ist auch nicht ersichtlich, warum die Bundesregierung bzw. das Auswärtige Amt
mit Blick auf das von Verfassungs wegen bestehende Beschleunigungsgebot nicht schon
früher darauf hingewirkt haben, die Auflagen aus dem Beschluß des Oberlandesgerichts vom
31. März 1998 zu erfüllen und gemäß der Aufforderung des Bayerischen Staatsministeriums
der Justiz vom 14. Juli 1998 eine abschließende Stellungnahme zu dem Problem der Folter
vorzulegen. Erst die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht
Gelsenkirchen vom 17. März 1999 stellte für das Oberlandesgericht eine verläßliche
Grundlage für seine Entscheidung über die Frage einer möglicherweise drohenden Folter dar.
Nach alledem sind die Verzögerungen nicht in den zu erwartenden Verfahrensabläufen des
vertragslosen Auslieferungsverkehrs mit Marokko begründet, sondern maßgeblich darin, daß
die Auflagen des Oberlandesgerichts nicht erfüllt wurden und die Staatsanwaltschaft bzw.
das Oberlandesgericht nicht mit dem erforderlichen Nachdruck die Erfüllung der Auflagen
eingefordert haben. Es ist jedenfalls aus den Verfahrensakten nicht ersichtlich, warum es
über eine gewisse Mindestdauer hinaus, die vorliegend mit sechs Monaten durchaus
angemessen umschrieben werden kann, tatsächlich über 14 Monate (vom 19. Februar 1998
bis zum 29. April 1999) gedauert hat, bis die erforderlichen Unterlagen und Informationen
vorlagen und das Oberlandesgericht über die Zulässigkeit der Auslieferung entschied.
Die zögerliche Behandlung des Vorgangs durch die marokkanische Regierung kann nicht
dem Beschwerdeführer angelastet werden. Der ersuchende Staat ist gerade bei der
Abwicklung des Auslieferungsverkehrs verpflichtet, erforderliche Unterlagen und Zusagen
unverzüglich vorzulegen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluß vom 13. Mai 1991 - 4 Ausl (A)
326/90 -, NJW 1991, S. 3105).
cc) Die eingetretenen Verzögerungen haben auch die Schwelle der Verhältnismäßigkeit
überschritten.
Hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Dauer der Auslieferungshaft geben die gesetzlichen
Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen keine absolute
Grenze vor. Demnach muß auch eine Dauer von über 14 Monaten bis zur
Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts und von über 17 Monaten bis zum
heutigen D a t u m für sich genommen noch kein zwingender Anlaß sein, um die
Unverhältnismäßigkeit einer Freiheitsentziehung anzunehmen.
Unter Berücksichtigung des Umstandes jedoch, daß die unabdingbare Mindestdauer in dem
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vorliegenden Verfahren auf etwa sechs Monate zu begrenzen gewesen wäre, ist die
Unverhältnismäßigkeit der Haftfortdauer anzunehmen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf
hat in seinem Beschluß vom 13. Mai 1991 - 4 Ausl (A) 326/90 -, NJW 1991, S. 3105 bereits
nach zwei Monaten Untätigkeit des ersuchenden Staates eine Unverhältnismäßigkeit der
Auslieferungshaft angenommen. Selbst wenn man vorliegend wegen der Schwere des
Tatvorwurfs und unter Berücksichtigung des Umstandes, daß es sich bei Marokko um einen
außereuropäischen Staat handelt, einen zeitlichen Aufschlag vornimmt, so ist doch mangels
erkennbarer zwingender Verzögerungsgründe bei einem Zeitraum von fast zehn Monaten bis
zur Abgabe der erforderlichen Zusicherungen des ersuchenden Staates und von mehr als
zwölf Monaten bis zum Vorliegen weiterer, für die Zulässigkeitsentscheidung erheblicher
Informationen die Schwelle der Verhältnismäßigkeit überschritten.
II.
1. Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Bamberg vom 29. April 1999 und vom 28. Juni
1999 verletzen den Beschwerdeführer aus den dargelegten Gründen in seinem Grundrecht
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,
soweit in ihnen die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet wird. Sie werden insoweit
aufgehoben. Die Sache wird insoweit an das Oberlandesgericht zurückverwiesen (§§ 95
Abs. 2, 93c Abs. 2 BVerfGG).
2. Das Oberlandesgericht wird mit Blick auf § 25 IRG darüber zu entscheiden haben, ob es
den Auslieferungshaftbefehl aufhebt oder lediglich - unter Auflagen - außer Vollzug setzt. Eine
Aufhebung ist verfassungsrechtlich jedenfalls nicht geboten (vgl. BVerfGE 61, 28 <36 f.>).
III.
Durch die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlaß
einer einstweiligen Anordnung (vgl. BVerfGE 7, 99 <109>).
IV.
Dem Beschwerdeführer sind die durch das Verfassungsbeschwerde-Verfahren und das
Verfahren betreffend den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung entstandenen
notwendigen Auslagen zur Hälfte zu erstatten (§ 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG). Das
Rechtsschutzbegehren des Beschwerdeführers war nur zum Teil erfolgreich.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Broß
Osterloh