Urteil des BVerfG vom 20.06.2012

klinik, unterbringung, verfassungsbeschwerde, grundrecht

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 865/11 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn H...
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Hamm vom 10. März 2011 - 1
Vollz (Ws) 53/11 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 3. Dezember 2010 -
055 StVK 486/10 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Huber
und die Richterin Kessal-Wulf
am 20. Juni 2012 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 3. Dezember 2010 - 055 StVK
486/10 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2
Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des
Oberlandesgerichts vom 10. März 2011 - 1 Vollz (Ws) 53/11 - verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht
zurückverwiesen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen
Auslagen für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
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A.
Die
Verfassungsbeschwerde
des
im Maßregelvollzug untergebrachten
Beschwerdeführers betrifft die Versagung von Vollzugslockerungen.
I.
1. Der wegen sexuellen Kindesmissbrauchs seit 1999 gemäß § 63 StGB
untergebrachte Beschwerdeführer beantragte bei der Klinik die Gewährung nicht
näher bezeichneter Lockerungen, da er dem Leben in Freiheit nicht völlig entfremdet
werden dürfe und angesichts der Dauer seiner Unterbringung sein Anspruch auf
Lockerungen in den Vordergrund trete.
Die Klinik lehnte den Antrag ab. Der Beschwerdeführer habe zu Beginn seiner
Unterbringung wenige Gespräche mit dem therapeutischen Personal geführt und
d a ri n zu verstehen gegeben, dass er sich im Maßregelvollzug nicht richtig
untergebracht fühle. Sobald seiner Argumentation nicht gefolgt worden sei, habe er
die Gespräche abgebrochen. Mit Ausnahme einer Begutachtung habe er an
gutachterlichen Untersuchungen nicht teilgenommen. Seit 2004 bestehe kein
therapeutischer Kontakt mehr. Er schlafe tagsüber, sei nachts aktiv und weiche
Gesprächen mit dem therapeutischen Personal aus. Zum pflegerischen Personal
halte er den organisatorisch notwendigen Kontakt aufrecht und habe in den
vergangenen Jahren sporadisch einige Gespräche mit diesem geführt. Aufgrund
dieses Verhaltens lasse sich die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nicht
einschätzen. Weil er aufgrund seiner Weigerung nicht behandelt worden sei, könne
nur von einem Fortbestehen seiner Gefährlichkeit ausgegangen werden.
2. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Landesbeauftragte für den
Maßregelvollzug Nordrhein-Westfalen zurück. Angesichts des Vollzugsverhaltens
des Beschwerdeführers fehle es an einem Therapiebündnis. Die Klinik könne
aufgrund der Verweigerungshaltung des Beschwerdeführers nur von seiner
Gefährlichkeit ausgehen. Die Entscheidung über die Gewährung von Lockerungen
hänge unter anderem von einem Therapieerfolg ab, an dem es bislang fehle. Die
Verweigerung von Lockerungen sei auch angemessen, überwiege doch der Schutz
der Allgemeinheit das Interesse des Beschwerdeführers an Lockerungen. Der
Beschwerdeführer könne das Behandlungsangebot der Klinik in Anspruch nehmen,
um sich im Wege einer Therapie zu bewähren und bei Erfolg entsprechende
Lockerungen zu erhalten.
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3. Der Beschwerdeführer stellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109
StVollzG), gerichtet auf Gewährung von Lockerungen unter Aufhebung des
Widerspruchsbescheids. Ein begleiteter Ausgang mit zwei Bediensteten, „hilfsweise
sogar mit justizüblicher Fesselung“, sei vertretbar. Die Klinik habe angesichts seiner
inzwischen über elf Jahre andauernden Unterbringung durchaus die Gefährlichkeit
des Beschwerdeführers einschätzen können. Zudem sei nicht nachvollziehbar, wie
der als gefährlich eingestufte Beschwerdeführer auf einer Therapiestation und nicht
auf der Krisen- oder Zugangsstation untergebracht sein könne. Ohne Lockerungen,
auf die der Beschwerdeführer angesichts der Dauer seiner Unterbringung einen
Anspruch habe, werde er dem Leben in Freiheit völlig entfremdet. Die
Vollzugseinrichtung dürfe sich nicht auf pauschale Wertungen oder den Hinweis auf
eine Uneinschätzbarkeit des Untergebrachten beschränken.
Das Landgericht wies den Antrag zurück. Da sich der Beschwerdeführer, bei dem
eine sonstige spezifische Persönlichkeitsstörung, eine Neigung zur Pädophilie und
ei ne Störung durch Cannabinoide festgestellt worden seien, seit 2004 jeglicher
Therapie entziehe, keinen Kontakt zum therapeutischen Personal halte, tagsüber
schlafe und nur nachts aktiv sei, seien therapeutische Gespräche mit ihm seit sechs
Jahren nicht mehr möglich. Zum pflegerischen Personal halte er nur einen
organisatorisch notwendigen Kontakt. Vereinzelte Gespräche stellten sich als
Monolog des Beschwerdeführers dar. Mangels Behandlung fehle es aktuell an
erkennbaren Therapieerfolgen, weswegen sich eine verringerte Gefährlichkeit des
Beschwerdeführers nicht beurteilen lasse. Lockerungen ließen sich nicht als weiteres
Mittel
zur Erzielung von Behandlungserfolgen einsetzen, da sie unter
Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit vom Erreichen erster
Erfolge im Behandlungsverlauf abhingen. Es sei auch nicht erkennbar, dass der
Beschwerdeführer über weitere Erkenntnismöglichkeiten verfüge, welche seine
weitere Gefährlichkeit ausschlössen. Die Lockerungsversagung sei verhältnismäßig,
da aufgrund der bislang unbehandelten Erkrankung des Beschwerdeführers auch
weiterhin die Begehung von Straftaten im Sinne des Anlassdeliktes zu befürchten sei.
Dem stehe nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer sich seit über zehn Jahren im
Maßregelvollzug befinde. Denn die Dauer der Unterbringung allein könne ohne
therapeutischen Fortschritt keine positive Entscheidung über die Lockerung
begründen. Es sei zwar Ziel der Unterbringung, den Betroffenen zu resozialisieren;
dies erfolge jedoch nicht durch „kalte“ Erprobung im Wege der Gewährung von
Lockerungen, sondern durch therapeutische Vorbereitung, Begleitung und
Nachsorge. Soweit Untergebrachte keine Lockerungen erhalten könnten, hätten sie
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im Fall wichtiger Gründe einen Anspruch auf Ausführung durch die Vollzugsbehörde.
Entsprechende Gründe habe der Beschwerdeführer aber nicht vorgetragen. Zudem
sei insoweit das Vorschaltverfahren nicht durchgeführt worden.
4. Hiergegen erhob der Beschwerdeführer Rechtsbeschwerde mit der Sach- und der
Verfahrensrüge.
Das Landgericht mache sich unter Verstoß gegen den
Amtsermittlungsgrundsatz die Ausführungen in der Stellungnahme der Klinik und im
Widerspruchsbescheid
zu eigen.
Die
vom
Landgericht
aufgeführten
Persönlichkeitsstörungen lägen beim Beschwerdeführer nicht vor. Er gehe dem
therapeutischen Personal auch nicht aus dem Weg. Die Behauptung, der
Beschwerdeführer führe mit dem Personal nur sporadische und monologartige
Gespräche, sei unzutreffend. Die Ablehnung von Lockerungen beruhe auf einer
Verkennung des Resozialisierungsgebots. Das Landgericht habe nicht beachtet,
dass die Gewährung von Lockerungen unabhängig davon geboten sein könne, ob
der
Untergebrachte Therapieangebote
annimmt.
Der
Gutachter
im
Erkenntnisverfahren habe keine zu behandelnde Störung oder Erkrankung des
Beschwerdeführers festgestellt, sondern dass die kriminelle Energie des
Beschwerdeführers
eher
abnehme, weswegen eine Unterbringung des
Beschwerdeführers nach § 63 StGB unverhältnismäßig sei. Der Beschwerdeführer
sei nicht therapieresistent, sondern verweigere eine Therapie, weil er sicher wisse,
dass er an keiner im Maßregelvollzug zu behandelnden Erkrankung oder Störung
leide. Einem therapeutischen Konzept, das ihn befähigte, in Freiheit nicht erneut
rückfällig zu werden, verweigere er sich nicht. Hierzu seien vielmehr die beantragten
Vollzugslockerungen erforderlich.
Das Oberlandesgericht verwarf mit angegriffenem Beschluss die Rechtsbeschwerde
m i t Tenorbegründung und ergänzte, dass die Klinikleitung, soweit der
Beschwerdeführer künftig nicht näher spezifizierte Lockerungen beantrage, auf eine
Konkretisierung der Lockerungswünsche hinzuwirken haben dürfte, damit die gemäß
§ 18 Abs. 4 des nordrhein-westfälischen Maßregelvollzugsgesetzes (im Folgenden:
MRVG NRW) erforderliche Prüfung erfolgen könne.
II.
1.
Mit
der
fristgerecht
erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 1 Abs. 1, Art. 1 Abs. 3, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz
1 und Art. 19 Abs. 2 GG und wiederholt sinngemäß die im fachgerichtlichen Verfahren
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vorgebrachten Beanstandungen. Ergänzend trägt er unter anderem vor, dass er
aufgrund einer massiven körperlichen Behinderung selbst ohne Handfesselung
außerstande sei, zu fliehen. Im Übrigen trage er keinen dahingehenden Wunsch in
sich. Er sei bei mehreren ärztlichen Ausführungen - gemeint wohl: Ausführungen zu
Arztterminen - an „unzähligen Personen (hier auch Kindern)“ vorbeigeführt worden,
ohne dass dies die Sicherheit der Allgemeinheit gefährdet habe. Er könne nicht
einmal das Grab seiner Mutter besuchen. Die Rechtsbeschwerde sei entgegen der
Auffassung des Oberlandesgerichts zulässig gewesen, um die Sicherung einer
einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen.
2. Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hat dahingehend
Stellung genommen, dass eine Gewährung von Vollzugslockerungen nicht möglich
sei, weil es an jeglichem therapeutischen Kontakt zum Beschwerdeführer fehle und
eine Risikoabschätzung im Hinblick auf den Schutz der Allgemeinheit daher nicht
möglich sei. Wichtige Gründe im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 5 MRVG NRW seien
weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch der mit einer Begleitung des
Beschwerdeführers
verbundene
Sicherungsgrad rechtfertige nicht, bei der
erforderlichen Abwägung der Rechte des Beschwerdeführers und der Rechte
potentiell gefährdeter Personen von einem Überwiegen der Belange des
Beschwerdeführers auszugehen.
B.
I.
Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an,
weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist
(§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende
Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind in
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt (s. unter II. 1. und 2.).
Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde in einem die Zuständigkeit
der Kammer begründenden Sinn offensichtlich begründet.
II.
1. Der Beschluss des Landgerichts verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers
aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.
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a) Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet
den Staat, den Strafvollzug auf das Ziel auszurichten, dem Inhaftierten ein zukünftiges
straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 116, 69 <85 f.> m.w.N.;
stRspr). Besonders bei langjährig im Vollzug befindlichen Personen erfordert dies,
aktiv den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und
ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und zu festigen (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64,
2 6 1 <2 7 7 >; 98, 169 <200>; 109,
133 <150 f.>). Der Gesetzgeber hat
dementsprechend im Strafvollzugsgesetz auch dem Vollzug der lebenslangen
Freiheitsstrafe ein Behandlungs- und Resozialisierungskonzept zugrundegelegt (
BVerfGE 117, 71 <91> ). Der Wiedereingliederung des Delinquenten dienen unter
anderem die Vorschriften über Vollzugslockerungen (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 92).
Besonders bei langjährig Inhaftierten ist es geboten, aktiv den schädlichen
Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und ihre Lebenstüchtigkeit
zu erhalten und zu festigen (vgl. BVerfGE 45, 187 <238>; 64, 261 <277>; 98, 169
<200>; 109, 133 <150 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom
13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, NJW 1998, S. 1133 <1133>; Beschlüsse der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, StV 2011, S.
488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, juris). Hierfür kommt der
Möglichkeit, dem Gefangenen Lockerungen zu gewähren, besondere Bedeutung zu.
Auch einem zu lebenslanger Haft Verurteilten kann daher nicht jegliche
Lockerungsperspektive mit der Begründung versagt werden, eine konkrete
Entlassungsperspektive stehe noch aus (vgl. BVerfGK 9, 231 <237>; BVerfG,
Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -,
StV 2011, S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 368/10 -, juris). Der
Erhaltung der Lebenstüchtigkeit dienen nicht nur Urlaub und Ausgänge, sondern -
gerade bei Gefangenen, die die Voraussetzungen hierfür noch nicht erfüllen - auch
Ausführungen (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5.
August 2010 - 2 BvR 729/08 -, StV 2011, S. 488 <490>, und vom 26. Oktober 2011 - 2
BvR 1539/09 -, juris). Bei langjährig Inhaftierten kann daher, auch wenn eine konkrete
Entlassungsperspektive sich noch nicht abzeichnet und weitergehenden
Lockerungen eine Flucht- oder Missbrauchsgefahr entgegensteht, zumindest die
Gewährung von Lockerungen in Gestalt von Ausführungen geboten (vgl. BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. September 2008 - 2 BvR
719/08 -, FS 2011, S. 252) und der damit verbundene personelle Aufwand
hinzunehmen sein (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom
5. August 2010 - 2 BvR 729/08 -, StV 2011, S. 488 <490>, und vom 29. Februar 2012
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- 2 BvR 368/10 -, juris).
Für den Vollzug von Maßregeln, der nicht anders als der Strafvollzug im engeren
Sinne
auf
das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel der sozialen
Wiedereingliederung ausgerichtet sein muss (vgl. BVerfGE 98, 169 <200 f.>; 109, 133
<151>; 128, 326 <377> ), kann insoweit nichts anderes gelten. Dementsprechend
sieht § 18 Abs. 1 Satz 3 MRVG NRW vor, dass Vollzugslockerungen grundsätzlich
der Erreichung des Behandlungszwecks dienen; zu diesem gehört nach § 1 Abs. 1
Satz 1 MRVG NRW die Eingliederung des Untergebrachten in die Gemeinschaft.
b) Den daraus sich ergebenden Anforderungen an die gerichtliche Überprüfung der
vollzugsbehördlichen Entscheidung wird der angegriffene Beschluss des
Landgerichts nicht gerecht, soweit er die Versagung von Lockerungen
uneingeschränkt, und damit auch hinsichtlich bloßer Ausführungen, als rechtmäßig
bestätigt. Der Beschluss des Landgerichts verhält sich mit keinem Wort zu der Frage,
weshalb die Lockerungsvoraussetzungen auch bei Ausführungen trotz der damit
verbundenen und verbindbaren Sicherungsvorkehrungen nicht gegeben sein sollen.
Die bei einer Ausführung nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Var. 1 MRVG NRW vorgesehene
Begleitung des Untergebrachten (vgl. Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucks 12/3728,
S. 39) dient gerade dem Zweck, einer von ihm ausgehenden Flucht- und
Missbrauchsgefahr entgegenzuwirken, die bei fehlender Begleitung entstünde. Die
allgemeine - nicht nach Lockerungsformen differenzierende - Feststellung einer
Flucht- oder Missbrauchsgefahr ist daher für sich genommen grundsätzlich
ungeeignet, zu begründen, dass die angenommene Gefahr auch im Fall der
Ausführung besteht (vgl. zu einer beantragten Ausführung unter Fesselung Beschluss
der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober 2011 - 2 BvR 1539/09 -, juris).
Zwar kann im Einzelfall - etwa wenn auf eine bereits zuvor erfolgte Entziehung des
betreffenden Untergebrachten aus bestehender Bewachung verwiesen wird - ohne
nähere Ausführungen auf der Hand liegen, dass die geltend gemachte Gefahr mit
vertretbarem Bewachungsaufwand nicht auszuräumen ist. Die Annahme einer aus
solchen Gründen bestehenden Flucht- oder Missbrauchsgefahr mag dann ohne
weiteres auch auf den Fall der Ausführung in Begleitung von Bediensteten zu
beziehen und geeignet sein, die Versagung von Lockerungen auch insoweit zu
rechtfertigen. Ein derartiger Fall unwidersprechlicher, auf nähere Begründung nicht
angewiesener Evidenz, dass die angenommene Flucht- und Missbrauchsgefahr auch
durch die bei Ausführungen vorgesehene Bewachung nicht auszuschließen sein
werde, lag hier jedoch nicht vor. Die von der Klinik für die Versagung jeglicher
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Lockerungen allein angeführten allgemeinen Gründe drängten eine entsprechende
Schlussfolgerung nicht ansatzweise auf.
2. Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen
Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58> ; stRspr).
Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber
eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger auch insoweit
eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>;
122, 248 <271>; stRspr). Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen
Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die
gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen
und anwenden, ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen;
der Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen darf nicht von
unerfüllbaren oder unzumutbaren Voraussetzungen abhängig gemacht oder in einer
durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl.
BVerfGE 96, 27 <39>; 117, 244 <268>; 122, 248 <271>; stRspr).
b) Nach diesem Maßstab ist der Beschluss des Oberlandesgerichts mit Art. 19
Abs. 4 GG unvereinbar.
§ 119 Abs. 3 StVollzG erlaubt es dem Strafsenat, von einer Begründung der
Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, wenn er die Beschwerde für unzulässig
oder offensichtlich unbegründet erachtet. Da von dieser Möglichkeit, deren
Einräumung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist (vgl. BVerfGE 50, 287
<289 f.>; 71, 122 <135>; 81, 97 <106> ), im vorliegenden Fall Gebrauch gemacht
wurde, liegen über die Feststellung im Tenor des Beschlusses des
Oberlandesgerichts, dass die in § 116 Abs. 1 StVollzG genannte Voraussetzung der
Zulässigkeit einer Rechtsbeschwerde - Erforderlichkeit der Nachprüfung zur
Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung -
nicht vorliege, Entscheidungsgründe, die das Bundesverfassungsgericht einer
verfassungsrechtlichen Prüfung unterziehen könnte, nicht vor. Daraus folgt jedoch
nicht, dass der Beschluss selbst sich verfassungsrechtlicher Prüfung entzöge oder
die Maßstäbe der Prüfung zu lockern wären. Vielmehr ist in einem solchen Fall die
Entscheidung
bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit
Grundrechten des Beschwerdeführers erhebliche Zweifel bestehen (vgl. BVerfG,
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Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 1993 - 2 BvR 251/93 -
, juris; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 12. März 2008 - 2
BvR 378/05 -, juris; Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 26. Oktober
2011 - 2 BvR 1539/09 -, juris, und vom 29. Februar 2012 - 2 BvR 309/10 und 2 BvR
368/10 -, jeweils juris). Dies ist angesichts der offenkundigen inhaltlichen
Abweichung des landgerichtlichen Beschlusses von der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (zur Bedeutung einer solchen Abweichung für die
Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde vgl. OLG Celle, Beschluss vom 7. Juli 2006 - 1
Ws 288/06 (StrVollz) -, juris) hier der Fall.
3. Da die angegriffenen Entscheidungen auf dem festgestellten Verfassungsverstoß
beruhen, sind sie nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das
Landgericht zurückzuverweisen.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Lübbe-Wolff
Huber
Kessal-Wulf