Urteil des BVerfG vom 22.01.1999

politische verfolgung, körperliche unversehrtheit, bundesamt, verfassungsbeschwerde

- Bevollmächtigte:
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 86/97 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der türkischen Staatsangehörigen
1. B...,
2. B...,
3. B...,
4. B...,
5. B...,
6. B...,
7. B...
die Beschwerdeführer zu 3. bis 6. gesetzlich vertreten durch die Beschwerdeführer zu 1. und
2.,
gegen a) den Beschluß des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts
vom 16. Dezember 1996 - 11 L 7683/95 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg
vom 30. August 1995 - 5 A 557/91 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter
Sommer,
Broß
und die Richterin Osterloh
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93b, 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung
der Bekanntmachung vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 22. Januar 1999
einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 30. August 1995 - 5 A 557/91 - verletzt
den Beschwerdeführer zu 1. in seinem Grundrecht aus Artikel 16a Absatz 1 des
Grundgesetzes. Es wird hinsichtlich des Beschwerdeführers zu 1. aufgehoben. Die Sache
wird insoweit an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluß des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 16.
Dezember 1996 - 11 L 7683/95 - gegenstandslos, soweit er den Beschwerdeführer zu 1.
betrifft.
Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu 2. bis 7. wird nicht zur Entscheidung
angenommen.
Das Land Niedersachsen hat dem Beschwerdeführer zu 1. die notwendigen Auslagen für das
Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
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Gründe:
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die
fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme
als "politische Verfolgung" und an die Würdigung des Vorbringens eines Asylbewerbers zu
seinen individuellen Verfolgungsgründen.
I.
1. Die Beschwerdeführer (Eheleute und fünf ihrer Kinder) sind türkische Staatsangehörige
kurdischer Volkszugehörigkeit und stammen aus Nussaybin in der Provinz Mardin.
a) Der am 1. Januar 1945 geborene Beschwerdeführer zu 1. reiste angabegemäß am 20.
September 1990 in das Bundesgebiet ein, wo er am 25. September 1990 seine Anerkennung
als Asylberechtigter beantragte. Im Rahmen seiner Anhörung durch das Bundesamt für die
Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) am 25. September 1990 gab der
Beschwerdeführer zu 1. an: Zwei seiner Söhne seien Mitglieder der PKK und kämpften in den
Bergen gegen die Türken. Sie sammelten finanzielle Unterstützung und verteilten Flugblätter
und Propagandamaterial. Er habe deren Aktivitäten nie beobachtet und wisse darüber nur
vom Hörensagen. Er selbst unterstütze die PKK finanziell und sei deshalb angezeigt sowie
neun bis fünfzehn Mal verhaftet worden. Meist sei er nach einem oder spätestens zwei
Tagen freigelassen worden. Beim letzten Mal allerdings habe man ihm erhebliches Leid
zugefügt: Er sei einen Monat lang inhaftiert gewesen und dabei mißhandelt und gefoltert
worden. Man habe ihn geschlagen und mit Stiefeln getreten. Ihm sei vorgeworfen worden, die
Kurden unterstützt zu haben, was er auch eingeräumt habe. Man habe ihn aufgefordert, die
Unterstützung einzustellen und seine zwei Söhne auszuliefern. Nach der Freilassung habe er
sich zwei Monate versteckt gehalten und sei dann mit Hilfe von Schleusern ausgereist.
Mit Bescheid vom 10. Oktober 1990 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des
Beschwerdeführers zu 1. ab. Seine Angaben seien unsubstantiiert. Daran scheitere die
Glaubhaftmachung eines politischen Verfolgungsgeschehens. Die über seine Söhne und
deren Aktivitäten gemachten Angaben seien wenig konkret. Der Beschwerdeführer zu 1. sei
selbst kein aktiver Kämpfer für das Kurdentum. Als Sympathisant der PKK sei er allenfalls
Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen der Terrorismusbekämpfung ausgesetzt gewesen.
Diese könnten zwar in harten Formen verlaufen, erreichten aber nicht das Maß einer
asylrelevanten politischen Verfolgung und seien auch nicht ethnisch oder religiös motiviert.
b) Am 6. November 1990 reisten die Beschwerdeführer zu 3. bis 7. (die 1977, 1979, 1980,
1983 und 1984 geborenen Kinder der Beschwerdeführer zu 1. und 2.) in das Bundesgebiet
ein, wo sie am 6. Dezember 1990 ihre Anerkennung als Asylberechtigte beantragten.
Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt gaben die Beschwerdeführer zu 3. bis 6. im
wesentlichen übereinstimmend an, von Soldaten wegen des Beschwerdeführers zu 1.
schikaniert und nach diesem befragt worden zu sein. Der Beschwerdeführer zu 7. gab an,
der Beschwerdeführer zu 1. sei immer wieder ins Gefängnis gebracht worden. Die Soldaten
hätten nach Verstecken der PKK und nach dem Grund für die Unterstützung der PKK
gefragt. Er sei nach seinen beiden Brüdern und dem Beschwerdeführer zu 1. befragt worden.
Diese Fragen habe er stets mit Nichtwissen beantwortet und sei deshalb auf die Wache
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gebracht und dort gefoltert worden.
Mit Bescheiden vom 15. April 1991 lehnte das Bundesamt die Asylanträge der
Beschwerdeführer zu 3. bis 7. als offensichtlich unbegründet ab.
c) Am 16. Mai 1991 reiste die Beschwerdeführerin zu 2. in das Bundesgebiet ein, wo sie am
25. Juli 1991 ihre Anerkennung als Asylberechtigte beantragte. Im Rahmen ihrer Anhörung
durch das Bundesamt gab die Beschwerdeführerin zu 2. an, keiner politischen Partei
anzugehören, jedoch die PKK mit Essen, Kleidung und Betten unterstützt zu haben. Seit
zwei, drei Jahren habe sich die Situation verschärft. Sondereinheiten der Armee seien immer
wieder zu ihrem Haus gekommen, hätten es umstellt, die Bewohner herausgeholt und
geschlagen. Sie selbst sei auch geschlagen worden; einmal habe man sie sogar an einem
Tag dreimal aus dem Haus geholt. Diese Vorfälle hätten sich zwei- bis dreimal monatlich
ereignet.
Mit Bescheid vom 16. August 1991 lehnte das Bundesamt auch den Asylantrag der
Beschwerdeführerin zu 2. als offensichtlich unbegründet ab.
2. a) Zur Begründung ihrer Klagen haben die Beschwerdeführer ergänzend und vertiefend
vorgetragen: Der Beschwerdeführer zu 1. sei von der türkischen Ordnungsmacht mehrfach
festgenommen, mißhandelt und gefoltert worden, damit man von ihm den Aufenthaltsort
seiner beiden Söhne - aktive PKK-Kämpfer - erfahre. Man habe von ihm verlangt, seine
beiden Söhne auszuliefern. Zwei bis drei Monate vor seiner Flucht sei er letztmals - für die
Dauer eines Monats - inhaftiert gewesen. Auch gebe es eine Gruppenverfolgung der Kurden
in der Südosttürkei; eine zumutbare inländische Fluchtalternative bestehe nicht.
b) Durch in der mündlichen Verhandlung am 30. August 1995 verkündeten Beschluß lehnte
d a s Verwaltungsgericht einen auf Vernehmung eines anwesenden Zeugen gerichteten
Beweisantrag des Beschwerdeführers zu 1. dazu, daß er "in der Türkei die PKK unterstützt
und deshalb wiederholt verhaftet worden sei", ab; die behaupteten Tatsachen könnten als
wahr unterstellt werden.
c) Mit dem angegriffenen Urteil hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen: Die vom
Beschwerdeführer zu 1. im Verwaltungsverfahren vorgetragene Begründung reiche für eine
asylrelevante Verfolgungsgefahr nicht aus. Insoweit sei auf die Ausführungen in den
angefochtenen Bescheiden des Bundesamts zu verweisen. Tatsachen, die - hiervon
abweichend - die Beurteilung zuließen, daß die behaupteten Festnahmen des
Beschwerdeführers zu 1. nicht als ordnungsrechtliche Maßnahmen des Staates
gerechtfertigt gewesen seien, seien nicht einmal dargelegt worden und auch aus der
allgemeinen Lageerkenntnis der Kammer nicht erkennbar. Wer - wie der Beschwerdeführer
zu 1. - in politisch-separatistische Aktivitäten verwickelt werde, müsse in Gebieten des
Ausnahmezustands mit strafrechtlichen Sanktionen rechnen. Derartige Abwehrmaßnahmen
des Staates zur Abwehr eines revolutionären Separatismus seien für die Bewohner der
Unruhegebiete nur dann politische Verfolgung, wenn sie eine staatliche Behandlung erführen,
die härter sei als diejenige, die üblicherweise zur Verfolgung von Straftaten vergleichbarer
Gefährlichkeit angewendet werde. Nach den Erkenntnissen der Kammer hätten die
Beschwerdeführer bei Vernehmungen zwar mit Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit zu
rechnen. Daß diese jedoch über das allgemeine Maß hinausgingen, wie es bei Verhören
wegen krimineller Delikte in türkischen Gefängnissen üblich sei, hätten die Beschwerdeführer
nicht dargetan. Im übrigen seien die Verhaftungen des Beschwerdeführers zu 1. als Kurde
nicht unmittelbarer Anlaß zur Ausreise gewesen. Durch die Freilassung nach kurzfristiger
Inhaftierung werde zudem belegt, daß der Betreffende nicht als ernst zu nehmender Gegner
des Staates eingeschätzt werde, gegen den weitergehende, asylrelevante und dem Staat
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zurechenbare Maßnahmen ergriffen werden sollen.
Auch aufgrund einer Teil-Amnestie für PKK-Mitglieder vom 24. Mai 1993 sei nicht mehr
anzunehmen, daß der Beschwerdeführer zu 1. bei einer eventuellen Rückkehr in die Türkei
politisch verfolgt werde. Von der Amnestie seien alle PKK-Kämpfer erfaßt, die nicht
nachweislich in Mordfälle oder Massaker verwickelt gewesen seien, wenn sie sich den
Sicherheitsbehörden stellen würden. Wenn bereits diese Leute nicht mehr verfolgt würden, so
sei der türkischen Regierung mit "ziemlicher Wahrscheinlichkeit" nicht an der Verfolgung
solcher Personen gelegen, die die PKK ausschließlich mit Lebensmitteln und dergleichen
unterstützt hätten.
Eine Gruppenverfolgung der Kurden in der gesamten Türkei finde nicht statt. Die
Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG lägen nicht vor. Die Sippenmitglieder der
Beschwerdeführer lebten offenbar unbehelligt in der Heimat.
3. Den auf alle drei Zulassungsgründe des § 78 Abs. 3 AsylVfG gestützten Antrag auf
Zulassung
der Berufung gegen dieses Urteil hat das Niedersächsische
Oberverwaltungsgericht mit dem gleichfalls angegriffenen Beschluß vom 16. Dezember 1996
abgelehnt.
II.
1. Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer, die beiden
Gerichtsentscheidungen verletzten sie in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 1, 16a Abs. 1 und
103 Abs. 1 GG.
a) aa) Ihr Grundrecht auf Asyl sei verletzt. Nach dem vom Verwaltungsgericht zugrunde
gelegten Sachverhalt sei der Beschwerdeführer zu 1. u.a. wegen des Verdachts der
Unterstützung der PKK wiederholt festgenommen und zuletzt einen Monat lang festgehalten
worden. Da die türkischen Sicherheitskräfte insoweit einen Zusammenhang mit der militanten
kurdischen Bewegung herstellten, bestehe dementsprechend die Gefahr politischer
Verfolgung. Nach aktueller Auskunftslage und darauf basierender Rechtsprechung der
Obergerichte seien Kurden aus Ostanatolien, die dort verdächtigt worden seien, mit der
kurdischen Bewegung zu sympathisieren, auch in der Westtürkei nicht vor politischer
Verfolgung sicher. Des weiteren sei nach der Auskunftslage davon auszugehen, daß
Häftlinge, denen eine staatsfeindliche bzw. kurdenfreundliche Gesinnung zugeschrieben
werde, in türkischem Polizeigewahrsam häufiger und härter mißhandelt würden als sonstige
Straftäter. Der Beschwerdeführer zu 1. gehöre nach dem vom Gericht als wahr unterstellten
Sachverhalt zu der besonders gefährdeten Personengruppe, für die es keine inländische
Fluchtalternative gebe und die im Polizeigewahrsam härter und häufiger mißhandelt werde
als sonstige Straftäter. Hiervon ausgehend habe das Verwaltungsgericht den Begriff der
politischen Verfolgung verkannt und auch die erforderlichen verläßlichen Feststellungen nicht
getroffen; seine Wertungen stünden nicht im Einklang mit der höchstrichterlichen
Rechtsprechung: Einerseits habe es ausgeführt, daß der Beschwerdeführer zu 1. wegen
seiner vermuteten Unterstützung separatistischer Bestrebungen mit Eingriffen in die
körperliche Unversehrtheit zu rechnen habe; andererseits habe es die Asylerheblichkeit
entsprechender Maßnahmen mit dem Bemerken verneint, der Beschwerdeführer zu 1. habe
nicht dargetan, daß ihm deshalb im Vergleich zu sonstigen Straftätern eine härtere
Bestrafung oder Behandlung gedroht habe. Obwohl sich Letzteres schon ohne weiteres
aufgrund der Erkenntnislage und der obergerichtlichen Rechtsprechung bejahen lasse, habe
das Verwaltungsgericht jedenfalls entsprechende Feststellungen unterlassen.
bb)
Nicht
nachvollziehbar
sei
ferner,
daß
das Verwaltungsgericht
den
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Kausalzusammenhang zwischen der letzten Verhaftung und der zwei bis drei Monate später
erfolgten Ausreise des Beschwerdeführers zu 1. verneint habe.
cc) Nicht tragfähig sei weiterhin der Schluß des Verwaltungsgerichts, die Freisetzung aus
kurzzeitiger Inhaftierung lasse darauf schließen, daß der Betreffende nicht als sonderlich
ernst zu nehmender Gegner des Staates angesehen worden sei und deshalb nicht mit
weiteren Maßnahmen zu rechnen habe.
dd) Die Schlußfolgerungen des Verwaltungsgerichts aus der Teil-Amnestie für PKK-
Mitglieder beruhten auf veralteten Auskünften. Unklar sei in diesem Zusammenhang auch,
welchen Prognosemaßstab das Verwaltungsgericht mit seiner Wendung "mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit" herangezogen habe. Die Schlußfolgerung stehe zudem im Gegensatz
zur allgemeinen Auskunftslage.
b) Die angegriffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts verstoße gegen Art. 3 Abs. 1
GG, weil sie mit gänzlich unzulänglicher oder unverständlicher, in wesentlichen Punkten
widersprüchlicher Begründung versehen sei. Sie sei bei verständiger Würdigung und unter
Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs nicht mehr nachvollziehbar. Dies ergebe
sich insbesondere daraus, daß das Verwaltungsgericht zunächst den Eindruck erweckt
habe, die Klage sei als offensichtlich unbegründet abzuweisen. Ferner gebe es Hinweise, daß
das Verwaltungsgericht den wesentlichen Vortrag der Beschwerdeführer nicht zur Kenntnis
genommen habe. So werde pauschal behauptet, für eine politische Verfolgung hätten die
Beschwerdeführer nichts vorgebracht.
c) Mit der Feststellung, daß es sich bei den Verhaftungen des Beschwerdeführers zu 1. um
ordnungsrechtliche Maßnahmen gehandelt habe und daß PKK-Sympathisanten nach der
Teil-Amnestie nicht mehr verfolgt würden, habe das Verwaltungsgericht zudem einen
Gehörsverstoß begangen. Der Entscheidung lasse sich nämlich nicht entnehmen, auf
welche konkreten Erkenntnisquellen sich die einzelnen Feststellungen stützten.
2. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Niedersächsischen Ministerium der Justiz und
für Europaangelegenheiten sowie den Beteiligten des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben.
B. - I.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1. zur
Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung seiner in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten
Rechte angezeigt ist (§ 93b in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu 1. ist zulässig und - in einer die
Entscheidungszuständigkeit der Kammer begründenden Weise - auch offensichtlich
begründet; die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer zu 1. in
seinem Grundrecht auf Asyl gemäß Art. 16a Abs. 1 GG.
II.
1. a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Verfolgung dann
eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt
Rechtsverletzungen
zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden
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Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Geht es dabei um Beeinträchtigungen
der körperlichen Unversehrtheit, so stellt generell jede derartige nicht ganz unerhebliche
Maßnahme staatlicher Stellen, die an die politische Überzeugung oder Betätigung eines
Betroffenen anknüpft, politische Verfolgung dar, ohne daß es insoweit noch auf eine
besondere Intensität oder Schwere des Eingriffs ankommt (vgl. BVerfGE 54, 341 <357: "...
unmittelbare Gefahr für Leib, Leben...">; 80, 315 <333, 335 unter Hinweis auf die das
Asylrecht tragende humanitäre Intention, in einer ausweglosen Lage Schutz zu gewähren>;
vgl. auch BVerwGE 80, 321 <324>; 87, 141 <145 f.>).
Auch Maßnahmen der staatlichen Selbstverteidigung können asylrechtsbegründend sein.
D a insbesondere auch die betätigte politische Überzeugung im Schutzbereich des
Asylgrundrechts liegt, kann eine staatliche Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine
Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, grundsätzlich politische Verfolgung sein. Es
bedarf einer besonderen Begründung, um sie gleichwohl aus dem Bereich politischer
Verfolgung herausfallen zu lassen. Hierfür kommt der Rechtsgüterschutz in Betracht, sofern
die staatlichen Maßnahmen einer in den Taten zum Ausdruck gelangenden, über die
Betätigung
der politischen Überzeugung hinaus gehenden zusätzlichen kriminellen
Komponente gelten. Auch eine danach nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann freilich in
politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, daß
der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals eine härtere als die sonst übliche
Behandlung erleidet (vgl. im einzelnen BVerfGE 80, 315 <336 ff.> ). Auch unmenschliche
Behandlung, insbesondere Folter, kann sich dann als asylrelevante Verfolgung darstellen,
wenn sie wegen asylrelevanter Merkmale oder im Blick auf diese in verschärfter Form
eingesetzt wird ( BVerfGE 81, 142 <151> ).
Auf die Asylverheißung des Art. 16a Abs. 1 GG kann sich nicht berufen, wer seine
politische Überzeugung unter Einsatz terroristischer Mittel betätigt hat. Maßnahmen des
Staates zur Abwehr des Terrorismus sind keine politische Verfolgung, wenn sie dem aktiven
Terroristen, dem Teilnehmer an oder einem Unterstützer von terroristischen Aktivitäten
gelten. Allerdings kann auch in derartigen Fällen eine asylerhebliche Verfolgung dann
vorliegen, wenn zusätzliche Umstände für eine solche Annahme sprechen (vgl. BVerfGE 81,
142 <152>). Dies ist etwa dann der Fall, wenn objektive Umstände - z.B. eine gesteigerte
Verfolgungsintensität in Form einer härteren Bestrafung - darauf schließen lassen, daß der
Betroffene gleichwohl wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt wird (vgl. BVerfGE 80,
315 <336 ff.>; 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Beschlüsse
vom 8. Oktober 1990 - 2 BvR 508/86 -, InfAuslR 1991, 18 <19 f.>, vom 25. April 1991 - 2
BvR 1437/90 -, InfAuslR 1991, 257 <260 f.> und vom 3. Juli 1996 - 2 BvR 1957/94 -, DVBl
1996, S. 1250). Nicht asylbegründend sind staatliche Maßnahmen danach nur dann, wenn
und soweit sie sich auf die Abwehr des Terrorismus beschränken. Wird hingegen über die
Bekämpfung von Straftaten hinaus der politische Gegner - in Anknüpfung an ein
asylerhebliches Merkmal - verfolgt, kommt den dabei ergriffenen staatlichen Maßnahmen
asylbegründende
Wirkung
zu.
So
vermag
insbesondere eine
(angebliche)
Terrorismusbekämpfung staatlichen Gegenterror, der etwa darauf gerichtet ist, die nicht
unmittelbar beteiligte zivile Bevölkerung in Erwiderung des Terrorismus unter den Druck
brutaler staatlicher Gewalt zu setzen, nicht zu rechtfertigen. Deshalb werfen fachgerichtlich
festgestellte weitreichende Menschenrechtsverletzungen im Rahmen einer unnachsichtigen
Bekämpfung des Terrors durch den Staat stets die Frage auf, ob den staatlichen
Maßnahmen die Annahme zugrunde liegt, daß zum Beispiel nur Angehörigen einer
bestimmten Ethnie oder nur den in einem bestimmten Gebiet lebenden Angehörigen dieser
Ethnie zumindest eine Nähe zu separatistischen/terroristischen Aktivitäten, wenn nicht gar
eine generelle Sympathie für sie oder pauschal deren Unterstützung zu unterstellen sei.
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Bejahendenfalls läßt sich nicht von vornherein ausschließen, daß die staatlichen Maßnahmen
- objektiv gesehen - zumindest auch auf die Ethnie gerichtet sind und an diese Zugehörigkeit
anknüpfen (vgl. BVerfGE 80, 315 <339 f.>; 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts, Beschlüsse vom 9. Dezember 1993 - 2 BvR 1638/93 -,
InfAuslR 1994, 105 <107 f.> und - 2 BvR 1916/93 -, InfAuslR 1994, 156 <158 f.>).
b) Das Bundesverfassungsgericht hat in bezug auf den Tatbestand "politisch Verfolgter"
sowohl hinsichtlich der Ermittlung des Sachverhalts selbst als auch seiner rechtlichen
Bewertung zu prüfen, ob die tatsächliche und rechtliche Wertung der Gerichte sowie Art und
Umfang ihrer Ermittlungen der Asylgewährleistung gerecht werden ( BVerfGE 76, 143 <162>
). Den Fachgerichten ist dabei ein gewisser Wertungsrahmen zu belassen. Dieser bezieht
sich u.a. auch auf die rechtliche Bewertung des ermittelten Sachverhalts.
Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist eine fachgerichtliche Bewertung nur dann, wenn sie
anhand der gegebenen Begründung nicht mehr nachvollziehbar ist (vgl. 1. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Beschlüsse vom 20. Juni 1990 - 2 BvR
1727/89 -, InfAuslR 1991, 85 <88>; vom 12. März 1992 - 2 BvR 721/91 -, InfAuslR 1992, 231
<233> und vom 22. Juli 1996 - 2 BvR 1416/94 -, NVwZ-Beilage 2/97, S. 11). Ermittlungen
zum Tatbestand "politisch Verfolgter" sind freilich vom Bundesverfassungsgericht daraufhin
zu überprüfen, ob sie hinreichend verläßlich und auch dem Umfang nach, bezogen auf die
besonderen Gegebenheiten im Asylbereich, zureichend sind. Angesichts der
Feststellungsbedürftigkeit des Asylgrundrechts (vgl. dazu BVerfGE 56, 216 <236>; 60, 253
<295>; 94, 166 <199 f.>) hat die Sachaufklärungspflicht des Verwaltungsgerichts (§ 86 Abs.
1 Satz 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht (vgl. 1. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts, Beschluß vom 18. Januar 1990 - 2 BvR 760/88 -, InfAuslR
1 9 9 0 , 161 <164>). Zu den asylspezifischen Anforderungen an die gerichtliche
Ermittlungstiefe gehört es in der Regel, tatsächlichen oder vermeintlichen Unklarheiten oder
Widersprüchen im Sachvortrag des Asylbewerbers, etwa durch dessen Befragung,
nachzugehen (vgl. 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts,
Beschluß vom 22. Juli 1996 - 2 BvR 1416/94 -, NVwZ-Beilage 2/97, S. 11).
2. Gemessen an diesen Grundsätzen halten die Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur
Qualifizierung der dem Beschwerdeführer zu 1. widerfahrenen und bei einer Rückkehr
möglicherweise erneut drohenden Behandlung durch staatliche Stellen als asylrechtlich
unerheblich der verfassungsgerichtlichen Überprüfung nicht stand. Mit seiner Beurteilung, der
Beschwerdeführer zu 1. sei unverfolgt ausgereist und ihm drohe im Falle seiner Rückkehr in
die Türkei keine individuelle politische Verfolgung, hat es den ihm eröffneten fachgerichtlichen
Wertungsrahmen überschritten.
a) Das Verwaltungsgericht hat die vom Beschwerdeführer zu 1. in der mündlichen
Verhandlung unter Beweis gestellten Behauptungen dazu, daß er in der Türkei wiederholt
wegen Unterstützung der PKK verhaftet worden sei, als wahr unterstellt. Damit hat es im
Rahmen des geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) seiner
Entscheidung folgenden Sachverhalt zugrunde gelegt: Der Beschwerdeführer zu 1. wurde
mindestens in neun, möglicherweise sogar in fünfzehn Fällen auf die Wache gebracht und
dort jeweils für einen oder zwei Tage festgehalten. Etwa zwei bis drei Monate vor seiner
Ausreise wurde er schließlich einen Monat auf der Wache festgehalten, verhört, geschlagen,
mit Stiefeln getreten, mißhandelt und gefoltert. Den ihm gemachten Vorwurf der
Unterstützung der Kurden bzw. der PKK räumte er dabei ein.
Diese vom Beschwerdeführer zu 1. geschilderten Maßnahmen hat das Verwaltungsgericht
als asylrechtlich unerheblich qualifiziert. Die dazu angestellten Erwägungen stehen schon
maßstäblich mit den oben dargelegten Grundsätzen, wonach solche Maßnahmen auch im
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Bereich des staatlichen Rechtsgüterschutzes politische Verfolgung sein können, nicht im
Einklang. Das Verwaltungsgericht hat unberücksichtigt gelassen (jedenfalls läßt sich der
Begründung Gegenteiliges nicht entnehmen), daß vor allem die Häufigkeit solcher
Vorkommnisse, deren schikanöse Tendenz, die dem Beschwerdeführer zu 1. dabei
zugefügte menschenrechtswidrige Behandlung, deren Fortsetzung trotz der von ihm
eingeräumten Unterstützung der PKK und schließlich auch das Ausbleiben gesetzlich
vorgesehener strafrechtlicher Konsequenzen im Sinne "sonstiger Umstände" Anhaltspunkte
dafür ergeben können, daß es sich hierbei um Maßnahmen politischer Verfolgung -
wenngleich
unter
dem
Deckmantel angeblicher "Terrorismusbekämpfung" bzw.
"gerechtfertigt" als "ordnungsrechtliche Maßnahmen" - handelt. In dieser Erscheinungsform
können die genannten Maßnahmen nach ihrer objektiven Gerichtetheit jenseits der
Terrorismusbekämpfung auch zum Ziel haben, die im Einzelfall festgestellte oder generell bei
allen Kurden in Südostanatolien vermutete, mit dem Terrorismus/Separatismus
sympathisierende Gesinnung durch Anwendung menschenrechtswidriger Gewalt und
fortwährende Schikanen zu bekämpfen. Das Verwaltungsgericht hat dies - obwohl es nach
den oben dargelegten verfassungsrechtlichen Maßstäben geboten gewesen wäre (vgl. 1. a) -
nicht in den Blick genommen; es hat vielmehr die vom Beschwerdeführer zu 1. erlittene
Behandlung - ohne erkennbare Würdigung der besonderen Umstände - als
ordnungsrechtliche Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung beurteilt und damit als nicht
asylbegründend erachtet.
b) Das Verwaltungsgericht ist der Frage, ob die dem Beschwerdeführer zu 1. widerfahrenen
staatlichen Maßnahmen härter als diejenigen zur Verfolgung ähnlicher nicht politischer
Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit und damit asylrelevant (vgl. BVerfGE 80, 315
<338> ) gewesen sein könnten, nicht nachgegangen, weil die Beschwerdeführer hierfür
nichts dargelegt hätten; auch aus der allgemeinen Lageerkenntnis sei dies nicht erkennbar.
Diese Begründung kann sich nicht auf eine den verfassungsrechtlichen Anforderungen
genügende Grundlage stützen.
Sollte das Verwaltungsgericht die Angaben des Beschwerdeführers zu 1. zu der ihm zuteil
gewordenen Behandlung durch staatliche Stellen für zu unbestimmt gehalten oder die
Unmittelbarkeit einer drohenden Gefahr für Leib und Leben bezweifelt haben, hätte es
angesichts des Umstandes, daß Eingriffe dieser Art, sofern sie an ein asylrelevantes
Merkmal anknüpfen, generell die für die Zuerkennung des Asylrechts erforderliche Intensität
aufweisen (vgl. oben 1. a), von sich aus den Sachverhalt weiter aufklären müssen, um die
näheren Umstände der vom Beschwerdeführer zu 1. mitgeteilten Mißhandlungen zu
ermitteln. Das ist nicht geschehen.
Mit dem Hinweis auf fehlenden Vortrag der Beschwerdeführer zum sog. "Politmalus" ist das
Verwaltungsgericht jedenfalls seiner Sachaufklärungspflicht nicht gerecht geworden. Das
Verwaltungsgericht hat glaubhaften Angaben des Beschwerdeführers zu 1. über von ihm
erlittene Polizeimaßnahmen die asylrechtliche Beachtlichkeit abgesprochen, weil die
Beschwerdeführer "nicht einmal dargelegt" hätten, daß die genannten Maßnahmen über das
allgemeine Maß bei sonstigen kriminellen Delikten hinausgingen und nicht als
ordnungsrechtliche Maßnahmen des Staates gerechtfertigt gewesen seien. Da es sich bei
den geschilderten Maßnahmen nach dem objektiven Geschehensablauf, wie auch vom
Verwaltungsgericht indirekt durch den Vorwurf fehlender Darlegung eingeräumt, jedenfalls
auch um Akte politischer Verfolgung handeln kann, wäre es Sache des Verwaltungsgerichts
gewesen, diesem wesentlichen Vorbringen nachzugehen. Der sich schon aus § 86 Abs. 1
Satz 1 VwGO ergebenden umfassenden Verpflichtung des Gerichts, von Amts wegen jede
mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen,
kommt vorliegend im Hinblick auf Art. 16a Abs. 1 GG verfassungsrechtliches Gewicht zu
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(vgl. oben 1. b). Die Darlegungs- und Mitwirkungspflicht des Asylbewerbers wäre
überspannt, würde man von ihm hier verlangen, eine unterschiedliche Behandlung im
Rahmen polizeilicher Maßnahmen bei der Strafverfolgung von politischen Tätern einerseits
und (sonstigen) Straftätern andererseits darzutun. Solange sich insoweit ein "Politmalus" bei
solchen Verfolgungsmaßnahmen nicht von vornherein ausschließen läßt, ist es Sache des
Gerichts, den Sachverhalt, soweit ihm Entscheidungserheblichkeit zukommt, in einer der
Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären. Hierzu bestand
vorliegend insbesondere deshalb Anlaß, weil auch das hier zuständige Niedersächsische
Oberverwaltungsgericht - unter Bezugnahme auf die durch Erkenntnismittel abgesicherte
Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen - u.a. von einer
im Vergleich zu sonstigen Straftätern häufigeren und härteren Mißhandlung solcher Häftlinge
i m türkischen Polizeigewahrsam ausgeht, denen eine staatsfeindliche Gesinnung
zugeschrieben wird.
Auch der pauschale Hinweis auf die allgemeine Lageerkenntnis ohne Angabe von
Erkenntnisquellen trägt die Begründung nicht. Schon der Anspruch auf rechtliches Gehör
nach Art. 103 Abs. 1 GG gebietet den Gerichten, nur solche Tatsachen und
Beweisergebnisse (einschließlich Presseberichte und Behördenauskünfte) zu verwerten, die
von einem Verfahrensbeteiligten oder vom Gericht - im einzelnen bezeichnet - zum
Gegenstand des Verfahrens gemacht worden sind und zu denen sich die Beteiligten äußern
konnten ( BVerfGE 70, 180 <189> ). Dem hier angegriffenen Urteil läßt sich indes nicht
einmal ansatzweise entnehmen, auf welchen Tatsachen und Beweisergebnissen die
"allgemeine Lageerkenntnis" des Gerichts basiert (vgl. hierzu auch 1. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts, Beschluß vom 18. Februar 1993 - 2 BvR 1869/92 -,
InfAuslR 1993, 146 <149>).
c) Das Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf den dargelegten verfassungsrechtlichen
Mängeln. Die weiteren in den Entscheidungsgründen angeführten Gesichtspunkte erweisen
sich als verfassungsrechtlich nicht tragfähig.
aa) Das Verwaltungsgericht hat zwar eingangs seiner Entscheidung zur Begründung dafür,
daß die von den Beschwerdeführern vorgetragene Begründung "für eine asylrelevante
Verfolgungsgefahr" nicht ausreiche, auch auf die angefochtenen Bescheide des Bundesamts
Bezug genommen. Mit diesem Verweis läßt sich jedoch die Abweisung der Asylklage des
Beschwerdeführers zu 1. nicht selbständig tragfähig begründen. Das Bundesamt hatte den
Asylantrag des Beschwerdeführers zu 1. abgelehnt, weil dieser mit seinem Vortrag die von
ihm behauptete "begründete Furcht vor Verfolgung" nicht glaubhaft gemacht habe. Das
Bundesamt hielt seinen Vortrag für unsubstantiiert, wenig glaubhaft und äußerte Zweifel an
der Glaubwürdigkeit des Beschwerdeführers zu 1. Hingegen hat das Verwaltungsgericht das
Vorbringen des Beschwerdeführers zu 1. - insoweit abweichend vom Bundesamt - seiner
Entscheidung zugrunde gelegt und mit der Ablehnung des Beweisantrags
entscheidungserhebliche Angaben - u.a. über die erlittenen Verhaftungen - des
Beschwerdeführers zu 1. als wahr unterstellt. Damit hat es sich die Begründung, welche die
ablehnende Entscheidung des Bundesamts trägt, insoweit gerade nicht als Bestandteil seiner
Urteilsgründe zu eigen gemacht.
bb)
Die
Einschätzung
des
Verwaltungsgerichts, daß es am erforderlichen
Kausalzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht fehle ("Im übrigen haben die dem
Kläger zu 1. zuteil gewordenen Verhaftungen als Kurde die Kläger nicht unmittelbar zur
Ausreise veranlaßt"), ist jedenfalls ohne nähere Begründung und weitere Sachaufklärung
verfassungsrechtlich nicht tragfähig.
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Der asylrechtlich geforderte Kausalzusammenhang zwischen politischer Verfolgung und
Flucht fehlt nur dann, wenn ein Asylbewerber nach erlittener politischer Verfolgung noch
längere Zeit im Heimatland verbleibt und in dieser Zeit dort unbehelligt und verfolgungsfrei
leben kann (vgl. BVerfGE 74, 51 <60 ff.>; 80, 315 <344>; BVerwGE 87, 52 <55 f.>; 87, 141
<146 f.>). Der Beschwerdeführer zu 1. hat hierzu ausdrücklich bekundet, sich nach seiner
Freilassung zwei Monate lang versteckt gehalten zu haben, um dann mittels Schlepperhilfe
nach Deutschland geflüchtet zu sein. Im Hinblick darauf, daß seine Freilassung nur erfolgte,
damit er seine zwei bei der PKK aktiven Söhne finde und an die Behörden ausliefere, sowie
unter Berücksichtigung des Umstands, daß eine mit Schlepperhilfe organisierte illegale Aus-,
Transit- und Einreise üblicherweise einige Zeit für die notwendige Kontaktaufnahme,
Finanzierung und sonstige Vorbereitung bedarf, sind Umstände, die den erforderlichen
Kausalzusammenhang zwischen politischer Verfolgung und Flucht entfallen ließen, hier nicht
ersichtlich.
Insbesondere war unter Berücksichtigung der zurückliegenden Ereignisse nicht davon
auszugehen, daß die Verfolgung des Beschwerdeführers zu 1. mit der Freilassung aus
einmonatiger Inhaftierung und Mißhandlung ihr Ende gefunden hätte. Nach den Angaben des
Beschwerdeführers zu 1. erfolgte die Freilassung nur "bedingt", um ihm Gelegenheit zu
geben, seine gesuchten Söhne zu finden und den Behörden auszuliefern. Gerade im Hinblick
auf die bereits in der Vergangenheit mit den Polizeibehörden gemachten Erfahrungen konnte
der Beschwerdeführer zu 1. schwerlich darauf vertrauen, daß man ihn fortan unbehelligt
lassen würde. Jedenfalls hätte die Sachaufklärungspflicht das Verwaltungsgericht dazu
veranlassen müssen, den Beschwerdeführer zu 1. dazu zu befragen, warum er sich
zunächst noch einige Zeit im Heimatland versteckt gehalten hat und nicht sofort ausgereist
ist.
cc) Das Verwaltungsgericht schließt aus dem Umstand, daß der Beschwerdeführer zu 1.
wiederholt aus "kurzzeitiger Vernehmungshaft" entlassen worden ist, daß er nicht als "ernst
zu nehmender Gegner des Staates eingeschätzt" worden sei und deshalb auch zukünftig
nicht mit "asylrelevanten, dem Staat zurechenbaren Maßnahmen" zu rechnen habe. Auch
hiermit wird das Gericht dem verfassungsrechtlichen Begriff der politischen Verfolgung nicht
gerecht und überschreitet den ihm eröffneten Wertungsrahmen. Es ist bereits nicht
nachvollziehbar, warum das Verwaltungsgericht eine einmonatige Inhaftierung mit Verhören,
Schlägen und Folterung (nur) als "kurzzeitige Vernehmungshaft" qualifiziert. Darüber hinaus
kamen die genannten Maßnahmen - wie dargelegt - durchaus als Akte politischer Verfolgung
in Frage; der Beschwerdeführer zu 1. mußte in Anbetracht der von ihm gemachten
Erfahrungen damit rechnen, auch zukünftig in asylrechtlich erheblicher Weise mit
polizeilichen Maßnahmen überzogen zu werden. Für eine gegenteilige Feststellung ist -
jedenfalls mangels ausreichender Sachaufklärung - kein Raum.
dd) Nicht nachvollziehbar ist schließlich auch die vom Verwaltungsgericht angestellte
Prognose
hinsichtlich der Rückkehrergefährdung. Da nach Vorstehendem eine
Vorverfolgung des Beschwerdeführers zu 1. nicht auszuschließen ist, wäre zu seinen
Gunsten vom herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab für die Prognose zukünftiger
Verfolgungssicherheit auszugehen. Die Rückkehr in den Herkunftsstaat wäre ihm danach
nur dann zumutbar, wenn er in allen Landesteilen der Türkei für die absehbare Zukunft
hinreichend sicher vor (erneuter) Verfolgung wäre (vgl. BVerfGE 54, 341 <360>) oder
jedenfalls verfolgungsfrei eine zumutbare inländische Fluchtalternative erreichen könnte (vgl.
BVerfGE 80, 315 <343 ff.>; 81, 58 <65 f.> ). Aus der Sicht des Verwaltungsgerichts, das von
einer unverfolgten Ausreise des Beschwerdeführers zu 1. ausging, bestand freilich keine
Veranlassung, zu dessen Gunsten vom herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab
auszugehen; ausreichend war vielmehr die Feststellung, daß ihm im Falle der Rückkehr
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jedenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Das
Verwaltungsgericht meinte in diesem Zusammenhang, aus der am 24. Mai 1993 vom
türkischen Kabinett beschlossenen Teil-Amnestie für PKK-Mitglieder schließen zu können,
daß der türkischen Regierung "mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nicht daran gelegen" sei,
eine Person (sc. "wie der Beschwerdeführer zu 1."), die die PKK ausschließlich mit
Lebensmitteln und dergleichen unterstützt hat, zu verfolgen. Diese Formulierung mag eine
Verfolgungsgefahr "von beachtlicher Wahrscheinlichkeit" ausschließen; mit ihr wird aber
keinesfalls belegt, daß der Beschwerdeführer zu 1. auch mit "hinreichender Sicherheit"
verfolgungsfrei würde zurückkehren können.
Auch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat in seinem hier ebenfalls
angegriffenen
Beschluß
Zweifel
an
den
vom
Verwaltungsgericht gezogenen
Schlußfolgerungen im Hinblick darauf geäußert, daß der Beschwerdeführer zu 1. kein PKK-
Mitglied gewesen sei und somit auch nicht zu dem durch die Amnestie möglicherweise
begünstigten Personenkreis gehöre. Die insoweit bestehenden Zweifel werden noch dadurch
verstärkt, daß vom Verwaltungsgericht auch keine Angaben zur Amnestiepraxis gemacht
wurden; Auskünfte von der Jahresmitte 1993 dürften nicht ohne weiteres geeignet sein, die
Feststellung einer Verfolgungssicherheit auch noch Mitte 1995 zu tragen. Ungeachtet dessen
ist diese Argumentation auch aus einem weiteren Grund nicht tragfähig: Der
Beschwerdeführer zu 1. wurde vor seiner Ausreise nicht strafrechtlich verfolgt; die Einleitung
von Strafverfahren oder gar eine erfolgte Verurteilung wurden von ihm nicht behauptet.
Hiervon ausgehend läßt sich aus einer Amnestie nicht ohne weiteres schlußfolgern, daß der
allein von polizeilichen Maßnahmen der Sicherheitskräfte betroffene Asylbewerber auch nicht
mehr mit Verfolgungsmaßnahmen durch Sicherheitsorgane - außerhalb von Strafverfahren
und Strafvollzug - und mit - möglicherweise extralegaler, aber dem Staat gleichwohl
zurechenbarer - Polizeihaft rechnen müsse.
III.
1. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts ist, soweit es den Beschwerdeführer zu
1. betrifft, aufzuheben. Die Sache ist insoweit an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen
(§§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG), damit über den Asylantrag des Beschwerdeführers zu
1. neu entschieden werden kann.
2. Damit ist der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts, soweit er den Beschwerdeführer
zu 1. betrifft, gegenstandslos.
IV.
Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu 2. bis 7. wird nicht zur Entscheidung
angenommen, weil ihr weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt
noch ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der
Beschwerdeführer angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 BVerfGG). Die Kammer sieht
insoweit von einer Begründung ab (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG). Falls das weitere
Verfahren zur Anerkennung des Beschwerdeführers zu 1. als Asylberechtigter führen sollte,
steht den Beschwerdeführern zu 2. bis 7. gegebenenfalls - gestützt auf § 26 AsylVfG - ein
Asylfolgeverfahren offen (§§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG).
V.
Dem
Beschwerdeführer
zu
1.
sind
seine notwendigen
Auslagen
im
Verfassungsbeschwerde-Verfahren gemäß § 34a Abs. 2 BVerfGG zu erstatten.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Broß
Osterloh