Urteil des BVerfG vom 13.04.1999

körperliche unversehrtheit, verfassungsbeschwerde, überprüfung, einzelhaft

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 827/98 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S...
gegen a) den Beschluß des Schleswig-Holsteinischen Oberlandes-
gerichts vom 20. April 1998 - 2 VollzWs 131/98 -,
b) den Beschluß des Landgerichts Lübeck
vom 18. Februar 1998 - 5 b StVK 240/97 -,
c) den Bescheid des Ministeriums für Justiz,
Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes
Schleswig-Holstein vom 4. November 1997
- II 210b/4514 E - 166/97 -,
d) die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt Lübeck
vom 24. Juli 1997
u n d Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richterin
Präsidentin Limbach
und die Richter Winter,
Hassemer
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473)
am 13. April 1999 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluß des Landgerichts Lübeck
vom 18. Februar 1998 - 5 b StVK 240/97 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben.
Die Sache wird an das Landgericht
zurückverwiesen.
2. Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß
einer einstweiligen Anordnung.
3. Das Land Schleswig-Holstein hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen
Auslagen zu erstatten.
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Gründe:
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19
Abs. 4 GG) bei der Aufrechterhaltung von Einzelhaft (§ 89 StVollzG) und besonderen
Sicherungsmaßnahmen (§ 88 StVollzG) über einen längeren Zeitraum.
I.
Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt Lübeck. Er verbüßt
langjährige Freiheitsstrafen mit anschließender Sicherungsverwahrung. Zwei-Drittel-Zeitpunkt
ist der 2. Januar 2003, das Strafende ist auf den 14. Juli 2009 notiert.
1. Zwischen 1991 und 1995 versuchte der Beschwerdeführer mehrfach, aus der Haft zu
fliehen, oder traf Vorbereitungen hierzu. Wegen eines mit einem Mitgefangenen
unternommenen Ausbruchsversuchs wurde er zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren
wegen
Gefangenenmeuterei
in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und
Freiheitsberaubung verurteilt.
Aufgrund der Fluchtgefahr wurden gegen den Beschwerdeführer in wechselndem Umfang
allgemeine und besondere Sicherungsmaßnahmen angeordnet (vgl. §§ 4 Abs. 2, 81 Abs. 2,
88 StVollzG). Diese wurden mit Verfügung vom 28. Januar 1994 neu gefaßt, und zusätzlich
wurde nach § 89 StVollzG Einzelhaft angeordnet. Die Maßnahmen führten zu einer
umfassenden Isolation des Beschwerdeführers von seinen Mitgefangenen. Sie bestehen
seitdem im Kern unverändert fort.
2. a) Im Jahr 1994 waren die gegen den Beschwerdeführer angeordneten
Sicherungsmaßnahmen erstmals Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens nach § 109
StVollzG. Zu einer Überprüfung in der Sache kam es allerdings nur hinsichtlich der
vorübergehenden Unterbringung des Beschwerdeführers in einer Schlichtzelle.
b) Im Januar 1995 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung der gegen ihn
verhängten Sicherungsmaßnahmen. Bezüglich der Anordnung der Einzelhaft und der
Zuweisung eines besonders gesicherten Haftraums wurde von einer förmlichen Bescheidung
abgesehen, da es sich um bloße Wiederholungen früherer Anträge handele. Im übrigen
wurde die Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen. Anträge auf gerichtliche
Entscheidung und Rechtsbeschwerde hatten keinen Erfolg.
c) Später wurden ergänzend noch weitere Maßnahmen gegen den Beschwerdeführer
angeordnet.
II.
1. Im Juni 1997 beantragte der Beschwerdeführer erneut die Aufhebung aller gegen ihn
angeordneten Sicherungsmaßnahmen. Die Justizvollzugsanstalt lehnte dies mit Bescheid
vom 24. Juli 1997 ab.
2. Hiergegen legte der Beschwerdeführer beim zuständigen Fachministerium Beschwerde
nach dem Schleswig-Holsteinischen Vollzugsbeschwerdegesetz ein. Der Anstaltsarzt führte
in seiner Stellungnahme aus, daß erhebliche Bedenken bestünden, ob der Beschwerdeführer
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unter diesen Bedingungen noch weiter überleben könne. Es seien Zeichen einer tiefen
Depression zu sehen. Eine Depression könne auch ohne Selbstmord zum Tode führen. Die
Depression könne durch eine Gesprächstherapie oder durch Medikamente nicht behoben
werden.
Mit Bescheid vom 4. November 1997 wurde die Beschwerde als unbegründet
zurückgewiesen.
3. Den Antrag auf gerichtliche Entscheidung wies das Landgericht als unbegründet zurück.
Der Katalog der Sicherungsmaßnahmen sei nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen des
§ 88 Abs. 1 StVollzG lägen vor, es bestünden genügend Indikatoren für die Annahme von
Fluchtgefahr.
Daß der Justizminister von einer förmlichen Entscheidung hinsichtlich der bereits zum
Zeitpunkt des letzten gerichtlichen Verfahrens angeordneten Maßnahmen abgesehen habe,
sei nicht zu beanstanden. Die erneute Beschwerde des Antragstellers sei insoweit lediglich
als bloße Wiederholung im Sinne der Nr. 2 Abs. 1 der Verwaltungsvorschrift zu § 108
StVollzG anzusehen, weshalb eine förmliche Entscheidung entbehrlich gewesen sei. Über
diese Maßnahmen habe der Justizminister bereits mit Bescheiden aus den Jahren 1994 und
1995 entschieden. Dagegen gerichtete Anträge auf gerichtliche Entscheidung seien
rechtskräftig zurückgewiesen worden.
Lediglich ergänzend werde darauf hingewiesen, daß die Maßnahmen noch verhältnismäßig
seien. Eine Begrenzung durch strikte Fristen sei im Gesetz nicht vorgesehen. Die
Maßnahmen würden zudem unter ärztlicher Aufsicht vollzogen. Geringere Maßnahmen
stünden nicht zur Verfügung, zumal der Beschwerdeführer selbst die angebotene
schrittweise Rücknahme der Maßnahmen ablehne und auf der vollständigen Aufhebung der
Maßnahmen bestehe. Dies aber sei ohne eine erhebliche Gefährdung der Sicherheit der
Justizvollzugsanstalt nicht möglich.
An der Rechtmäßigkeit der übrigen Maßnahmen, die noch nicht Gegenstand gerichtlicher
Überprüfung waren, bestünde kein Zweifel.
4. Die Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht als unzulässig.
III.
Mit seiner fristgemäß eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG,
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 3, Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 104 GG.
1. Soweit die Strafvollstreckungskammer den Antrag als bloße Wiederholung im Sinne von
Nr. 2 Abs. 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 108 StVollzG angesehen habe, verstoße dies
gegen Art. 19 Abs. 4 GG. Angesichts der gesundheitlichen Auswirkungen und der Schwere
d e r Grundrechtseingriffe sei sein Antrag ein adäquates Rechtsmittel gewesen. Die
Auffassung der Strafvollstreckungskammer hätte zur Konsequenz, daß er auch in Zukunft
keinen effektiven Rechtsschutz erhalten könne.
2.
Die
angegriffenen
Entscheidungen vernachlässigten den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit. Dessen Prüfung erschöpfe sich in der Feststellung, die Maßnahmen
seien "noch" verhältnismäßig. Wenn ausgeführt werde, daß der reduzierte psychische und
physische Gesundheitszustand des Beschwerdeführers dessen Gefährlichkeit nicht
mindere, so zeige dies, daß sein Recht auf körperliche Unversehrtheit dem
Sicherheitsinteresse ohne weiteres untergeordnet werde. Der Hinweis darauf, daß die
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Maßnahmen unter ärztlicher Aufsicht vollzogen würden, sei absurd angesichts der vom
Anstaltsarzt geäußerten erheblichen Bedenken an seiner Überlebensmöglichkeit bei
weiterem Vollzug der Maßnahmen.
IV.
Das Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Schleswig-
Holstein hat zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen und unter anderem
ausgeführt, daß wegen des hohen Betreuungsaufwandes die Zustimmung eines anderen
Bundeslandes zur Übernahme des Beschwerdeführers nach § 85 StVollzG kaum zu
erreichen sein werde.
B.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts Lübeck
vom 18. Februar 1998 richtet, nimmt die Kammer sie gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers zur Entscheidung an
und gibt ihr gemäß § 93c Abs. 1 BVerfGG statt. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde
offensichtlich begründet. Die maßgeblichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht
bereits entschieden (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>; 96, 27 <39>; Beschlüsse der 2. Kammer
des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1993 - 2 BvR 594/92 -
, NJW 1993, S. 3188 f., und vom 1. Juli 1998 - 2 BvR 1758/97 -, NStZ-RR 1999, S. 28 f.).
I.
Der Beschluß der Landgerichts Lübeck vom 18. Februar 1998 verletzt das Grundrecht des
Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG.
1. a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbietet es, eine besondere
Sicherungsmaßnahme oder Einzelhaft länger aufrechtzuerhalten als es notwendig oder
angemessen ist (vgl. §§ 88 Abs. 5, 89 Abs. 1, 81 Abs. 2 StVollzG). Demnach sind solche
Maßnahmen aufzuheben, wenn die gegebenen Anhaltspunkte die aktuelle Prognose einer
Fluchtgefahr in erhöhtem Maße nicht mehr stützen können oder wenn nunmehr mildere Mittel
in Betracht kommen. Außerdem werden die Beeinträchtigungen, die besondere
Sicherungsmaßnahmen für die Grundrechte des Strafgefangenen bedeuten (Art. 2 Abs. 2
Satz 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs.
3 GG), mit zunehmender Dauer des Vollzugs immer schwerwiegender. Dies ist bei der
näheren
Bestimmung
der
von Art. 19 Abs. 4 GG geforderten effektiven
Rechtsschutzmöglichkeit gegen besondere Sicherungsmaßnahmen zu berücksichtigen.
Auch die Fachgerichtsbarkeit hat die individuellen Grundrechte zu wahren und
durchzusetzen (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>).
b) Art. 19 Abs. 4 GG verlangt Vorkehrungen dafür, daß der Einzelne staatliche Eingriffe im
Regelfall nicht ohne fachgerichtliche Prüfung zu tragen hat (vgl. BVerfGE 94, 166 <213>; 96,
27 <39>). Im Bereich des Strafvollzugsrechts wird Art. 19 Abs. 4 GG durch §§ 109 ff.
StVollzG auf der Ebene des einfachen Rechts konkretisiert. Dieses Prozeßrecht ist im Lichte
des Art. 19 Abs. 4 GG auszulegen und anzuwenden (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1993 - 2 BvR 594/92 -,
NJW 1993, S. 3188 f., und vom 1. Juli 1998 - 2 BvR 1758/97 -, NStZ-RR 1999, S. 28 f.).
Für den Vollzug von besonderen Sicherungsmaßnahmen gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG
dem Strafgefangenen das Recht, durch Anrufung der Gerichte sicherzustellen, daß die
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vorstehend aufgezeigten grundrechtlichen Grenzen auch beachtet werden. Dazu ist es
erforderlich, daß der Strafgefangene eine regelmäßige gerichtliche Überprüfung erwirken
kann, ob die weitere Aufrechterhaltung von Maßnahmen nach §§ 88 oder 89 StVollzG noch
mit den Grundrechten vereinbar ist, insbesondere ob die gesetzlich bestimmten
Voraussetzungen weiterhin vorliegen und die Maßnahmen noch verhältnismäßig sind. Die
verfahrensrechtlichen Regelungen des Strafvollzugsgesetzes sind in diesem Sinne
auszulegen und anzuwenden.
2. Der angefochtene Beschluß der Strafvollstreckungskammer verkennt Bedeutung und
Tragweite von Art. 19 Abs. 4 GG für die Auslegung und Anwendung des Verfahrensrechts,
weil er dem Beschwerdeführer eine Prüfung seines Rechtsschutzbegehrens hinsichtlich des
entscheidenden Teils der Sicherungsmaßnahmen einschließlich der Einzelhaft in der Sache
mit der Begründung versagt, es handele sich um eine bloße Wiederholung früherer Anträge.
Der Vollzug der gegen den Beschwerdeführer angeordneten Sicherungsmaßnahmen
dauerte bereits seit Januar 1994 an. Die Maßnahmen waren zuletzt im Jahre 1995 und
z u d e m nur
teilweise
Gegenstand
gerichtlicher
Überprüfung
durch
die
Strafvollstreckungskammer gewesen, welche mit Beschluß vom 22. August 1995 als letzte
Tatsacheninstanz über die Rechtmäßigkeit zum damaligen Zeitpunkt entschieden hatte.
Zwischen dem letzten und dem hier angegriffenen Beschluß der Strafvollstreckungskammer
vom 18. Januar 1998 lagen also zweieinhalb Jahre, während derer die außerordentlich
belastenden Maßnahmen andauerten. Daß dem Beschwerdeführer nunmehr - schon allein
wegen des Zeitablaufs - die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes zu eröffnen und über
die Verhältnismäßigkeit des weiteren Fortbestands der Maßnahmen in der Sache zu befinden
war, konnte keinem ernsthaften Zweifel unterliegen.
Nachdem der Anstaltsarzt im Verfahren darüber hinaus noch dargelegt hatte, daß unter
diesen Bedingungen erhebliche Bedenken gegen die weitere Überlebensfähigkeit des
Beschwerdeführers bestünden, wurde die Gewährung von Rechtsschutz vollends
unabweislich. Daß die Strafvollstreckungskammer das Begehren des Beschwerdeführers bei
dieser Sachlage dennoch als eine bloße Antragswiederholung aufgefaßt und eine
Überprüfung der besonderen Sicherungsmaßnahmen in der Sache abgelehnt hat, läßt
befürchten, daß sie Bedeutung und Tragweite von Art. 19 Abs. 4 GG als Gewährleistung
effektiven Grundrechtsschutzes grundlegend verkannt hat.
3. Die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer zur Verhältnismäßigkeit der
Maßnahmen können den Beschluß nicht - im Sinne einer hilfsweisen Begründung -
selbständig tragen. Abgesehen davon, daß diese Ausführungen ausdrücklich nur ergänzend
und als Hinweis angebracht wurden, sind sie auch nicht geeignet, der Entscheidung eine
verfassungsrechtlich tragfähige Grundlage zu geben.
a) Das gilt zunächst für die Tatsachengrundlage des angefochtenen Beschlusses. Im
Hinblick auf die verfahrensrechtlichen Gehalte der betroffenen Grundrechte (vgl. BVerfGE 52,
214 <219 ff.>; 53, 30 <57 ff.>; 70, 297 <308 ff.>; Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Mai 1994 - 1 BvR 549/94 -, NJW 1994, S.
1719 f., und vom 8. September 1997 - 1 BvR 1147/97 -, NJW 1998, S. 295 f.; Beschluß der 2.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. April 1998 - 2 BvR
1951/96 -, StV 1998, S. 436, 437) hätten die Maßnahmen nicht gerichtlich bestätigt werden
dürfen, ohne daß zuvor alle verfügbaren Erkenntnismittel ausgeschöpft worden wären, um
den psychischen wie physischen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers zu ermitteln
und die gegen den Beschwerdeführer erhobenen weiteren Vorwürfe auf ihre Stichhaltigkeit
und ihr Gewicht zu überprüfen. Die Strafvollstreckungskammer hat aber weder ärztliche
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Gutachten in Auftrag gegeben noch den Beschwerdeführer, die mit ihm unmittelbar befaßten
Vollzugsbediensteten oder den Anstaltsarzt persönlich angehört, um sich einen Eindruck von
dessen Zustand zu verschaffen, noch hat sie sonstige Ermittlungen angestellt.
b) Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)
kann durch staatliche Maßnahmen verletzt werden, die eine depressive Erkrankung
bewirken und so zu einer konkreten Lebensgefahr führen (vgl. BVerfGE 52, 214 <219 ff.>;
Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Mai
1994 - 1 BvR 549/94 -, NJW 1994, S. 1719 f., und vom 8. September 1997 - 1 BvR 1147/97 -,
NJW 1998, S. 295 f.). Es würde die Bedeutung und Tragweite dieses Grundrechts
verkennen,
wenn
man
-
wie
in den
ergänzenden
Ausführungen
der
Strafvollstreckungskammer - die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen damit begründen
wollte, daß diese unter ärztlicher Aufsicht vollzogen werden, nachdem der den Vollzug der
Maßnahmen überwachende Anstaltsarzt gerade erhebliche Bedenken gegen die weitere
Überlebensfähigkeit des Beschwerdeführers geäußert und ausgeführt hatte, daß dessen
Depression zum Tode führen könne und weder durch eine Gesprächstherapie noch durch
Medikamente zu beheben sei.
c) Der Vollzug der Sicherungsmaßnahmen, vor allem der Einzelhaft, ist für den
Beschwerdeführer mit außerordentlichen Belastungen verbunden. Der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit verlangt deswegen besonders strikte Beachtung. Es hätte deswegen
eingehender gerichtlicher Überprüfung und Darlegung bedurft, ob alle in Betracht kommenden
Möglichkeiten ausgenutzt und die gebotenen besonderen Anstrengungen unternommen
worden sind, um der Gefährlichkeit des Beschwerdeführers mit milderen Mitteln zu
begegnen. Als ein solches wäre beispielsweise die Verlegung des Beschwerdeführers in eine
höher gesicherte Vollzugsanstalt eines anderen Bundeslandes nach § 85 StVollzG in
Betracht gekommen. Die Äußerung des zuständigen Fachministeriums, daß die erforderliche
Zustimmung eines anderen Bundeslandes kaum zu erreichen sein werde, legt es nahe, daß
die gebotenen besonderen Anstrengungen in diese Richtung noch nicht unternommen
worden sind.
d) Auch unter Berücksichtigung berechtigter Sicherheitsinteressen wäre es mit dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unvereinbar, die Sicherungsmaßnahmen, gestützt auf
mehrere Jahre zurückliegende Fluchtversuche, auf unabsehbare Zeit aufrechtzuerhalten,
ohne jemals durch verantwortbare Lockerungen zu erproben, ob die Gefährlichkeit des
Beschwerdeführers noch fortbesteht. Hiervon kann auch nicht völlig abgesehen werden, weil
der Beschwerdeführer seine Mitwirkung bei einer solchen schrittweisen Rücknahme der
Sicherungsmaßnahmen verweigert und auf ihrer vollständigen Aufhebung besteht, solange
die Gefährlichkeit des Beschwerdeführers auch ohne seine Mitwirkung überprüft werden
kann.
4. Angesichts des festgestellten Grundrechtsverstoßes kommt es auf die weiteren gegen
den Beschluß des Landgerichts erhobenen Rügen nicht mehr an.
II.
Der angegriffene Beschluß des Landgerichts ist aufzuheben und die Sache an das
Landgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Der zugleich angegriffene Beschluß
des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts ist damit gegenstandslos ( BVerfGE 69,
233 <248>). Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung
angenommen. Von einer Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Durch die Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer
einstweiligen Anordnung. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a
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Abs. 2 und Abs. 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Limbach
Winter
Hassemer