Urteil des BVerfG vom 22.05.2012

aufenthaltserlaubnis, verfassungsbeschwerde, hauptsache, meinung

- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Sandra Abara,
Franz-Mehring-Straße 8, 09112 Chemnitz -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 820/11 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M ...
gegen den Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 10. März
2011 - 3 D 196/10 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Gerhardt,
die Richterin Hermanns
und den Richter Müller
am 22. Mai 2012 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 10. März 2011 - 3
D 196/10 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 3
Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Der Beschluss
wird aufgehoben. Die Sache wird an das Sächsische Oberverwaltungsgericht
zurückverwiesen.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten:
achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zurückweisung eines Antrags auf
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Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine Klage auf rückwirkende Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis.
1. Der 31jährige Beschwerdeführer ist irakischer Staatsangehöriger. Er reiste 2002
in das Bundesgebiet ein und beantragte erfolglos Asyl; anschließend wurde sein
Aufenthalt wegen Nichtbesitzes eines gültigen Passes oder Passersatzes geduldet.
Im August 2008 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige, woraufhin ihm die
Ausländerbehörde im September 2009 eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären
Gründen erteilte.
2. Bereits vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis hatte der Beschwerdeführer deren
Rückbewirkung auf den Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung, den 29. August
2008, beantragt. Die Ausländerbehörde lehnte diesen Antrag im Oktober 2009 ab.
D e r hiergegen erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg, wobei die
Widerspruchsbehörde entscheidend darauf abstellte, dass der Beschwerdeführer für
eine rückwirkende Erteilung der Aufenthaltserlaubnis kein Rechtsschutzbedürfnis
habe.
3. Der Beschwerdeführer erhob Klage, die er im Wesentlichen damit begründete,
dass ein Ausländer nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden Erteilung eines Aufenthaltstitels
habe, weil es für seine weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sein könne,
v o n welchem Zeitpunkt an er die Aufenthaltserlaubnis besitze. Im Falle des
Beschwerdeführers
hätten
im
Zeitpunkt
der Antragstellung
alle
Erteilungsvoraussetzungen
vorgelegen; Verzögerungen, die auf die zur
Sachverhaltsklärung vorgenommene Beteiligung anderer Behörden zurückgingen,
dürften sich nicht zu seinen Lasten auswirken. Hilfsweise ergebe sich mit Blick auf
§ 75 VwGO ein Rechtsschutzbedürfnis zumindest für die Zeit ab dem dritten Monat
nach Antragstellung.
4. Für die Klage stellte der Beschwerdeführer Antrag auf Bewilligung von
Prozesskostenhilfe, den das Verwaltungsgericht unter Verweis auf die Gründe des
Widerspruchsbescheids ablehnte.
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht mit
angegriffenem Beschluss vom 10. März 2011 zurück: Die Rechtsverfolgung biete
keine hinreichende Erfolgsaussicht, da der Beschwerdeführer nicht habe darlegen
können, dass er schon jetzt ein Rechtsschutzinteresse für die rückwirkende Erteilung
der Aufenthaltserlaubnis habe. Zwar könne sich dieses Interesse daraus ergeben,
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dass es für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung erheblich sei, von welchem
Zeitpunkt an der Ausländer einen Aufenthaltstitel besitze. Allerdings müsse sich die
Bedeutung nach der Frage der Besitzdauer so konkretisiert haben, dass deren
Klärung für eine anstehende Entscheidung über das weitere aufenthaltsrechtliche
Schicksal des Betroffenen maßgeblich sei. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn der
Beschwerdeführer nach seiner Auffassung zum jetzigen Zeitpunkt bereits die
Voraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 28 Abs. 2
Satz 1 AufenthG erfüllt hätte; nicht ausreichend sei indes die theoretische Möglichkeit,
dass die Besitzdauer irgendwann einmal Bedeutung erlangen könne. Dem
Beschwerdeführer sei nicht verwehrt, zu einem späteren Zeitpunkt den Antrag erneut
zu stellen, weil die Bestandskraft des mit der Klage angegriffenen Bescheids nicht die
materielle Frage umfasse, ob und gegebenenfalls ab welchem Zeitpunkt die
Aufenthaltserlaubnis rückwirkend zu erteilen wäre.
5. Mit der fristgerecht eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer Verletzungen in Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG.
Das Oberwaltungsgericht habe die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der Klage
überspannt. Das Bundesverwaltungsgericht und andere Oberwaltungsgerichte hätten
das schutzwürdige Interesse eines Ausländers an einer Aufenthaltserlaubnis für
einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach Antragstellung bejaht, wenn es
für die weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein könne,
von welchem Zeitpunkt an er eine Aufenthaltserlaubnis besitze; das
Rechtsschutzbedürfnis sei dabei weder vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine
Aufenthaltsverfestigung abhängig gemacht worden noch davon, ob dem Betroffenen
gravierende Nachteile durch die konkrete Antragsbearbeitung drohten. Das
Oberverwaltungsgericht verlange als einziges Gericht zusätzlich, dass sich die
Bedeutung nach der Frage der Besitzdauer konkretisiert habe.
6. Dem Sächsischen Staatministerium der Justiz und für Europa wurde Gelegenheit
zur Stellungnahme gegeben. Zudem hat die Kammer zur Rechtsfrage, unter welchen
Voraussetzungen ein Ausländer ein schutzwürdiges Interesse an der rückwirkenden
Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben kann, das Bundesverwaltungsgericht
angehört.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr
statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des
Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das
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Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1
Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich
begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Der angegriffene Beschluss
des Oberverwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Anspruch auf
Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gebietet eine weitgehende
Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung
des Rechtsschutzes. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von
Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte
Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und
nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll allerdings nicht dazu
dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische
Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des
Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Dies bedeutet zugleich, dass
Prozesskostenhilfe nur verweigert werden darf, wenn ein Erfolg in der Hauptsache
zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist
(vgl. BVerfGE 81, 347 <356 f.>; stRspr.).
Es läuft dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit zuwider, wenn ein Fachgericht § 166
VwGO in Verbindung mit § 114 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass es eine
entscheidungserhebliche Rechtsfrage - obwohl dies erheblichen Zweifeln begegnet -
als einfach oder geklärt ansieht und sie deswegen bereits im Verfahren der
Prozesskostenhilfe zum Nachteil des Unbemittelten beantwortet (vgl. BVerfGE 81,
347 <359 f.> ). Entsprechendes gilt, wenn das Fachgericht bei der Beurteilung der
Erfolgsaussichten
der beabsichtigten
Rechtsverfolgung
in
einer
entscheidungserheblichen Rechtsfrage von der Auffassung der höchstrichterlichen
Rechtsprechung und der herrschenden Meinung in der Literatur abweicht (vgl.
BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 7. November 2011 - 1 BvR
1403/09 -, juris Rn. 34 m.w.N.).
2. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss
nicht gerecht. Das Oberverwaltungsgericht hat die Bedeutung der in Art. 3 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Rechtsschutzgleichheit verkannt, indem
es
die entscheidungserhebliche Rechtsfrage nach dem Vorliegen eines
Rechtsschutzbedürfnisses für die vom Beschwerdeführer begehrte Rechtsverfolgung
bereits im Prozesskostenhilfeverfahren abschließend verneint hat.
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a) Die Entscheidung in der Hauptsache hängt von der Beantwortung der
Rechtsfrage ab, ob der Beschwerdeführer für die begehrte Erteilung eines
Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum nach
Antragstellung ein schutzwürdiges Interesse hat. Das Oberverwaltungsgericht hat die
Beurteilung der Erfolgsaussicht der Klage ausschließlich in Bezug auf diese
Sachurteilsvoraussetzung vorgenommen.
b) Diese Rechtsfrage ist weder im Sinne der vom Oberverwaltungsgericht
vertretenen Auffassung höchstrichterlich geklärt noch lässt sie sich im Hinblick auf die
einschlägigen gesetzlichen Regelungen oder die durch die bereits vorliegende
Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen einfach beantworten.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann ein Ausländer die
Erteilung eines Aufenthaltstitels grundsätzlich auch für einen in der Vergangenheit
liegenden Zeitraum nach Antragstellung beanspruchen, wenn er hieran ein
schutzwürdiges
Interesse hat.
Ein
solches
Interesse
hat
das
Bundesverwaltungsgericht insbesondere dann bejaht, wenn - wie beim
Beschwerdeführer - die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die
weitere aufenthaltsrechtliche Stellung des Ausländers erheblich sein kann; dies gelte
unabhängig davon, ob der Aufenthaltstitel für einen späteren Zeitpunkt bereits erteilt
worden ist oder nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. September 1998 - 1 C 14/97 -, juris
Rn. 15; Urteil vom 9. Juni 2009 - 1 C 7/08 -, juris Rn. 13; Urteil vom 26. Oktober 2010
- 1 C 19/09 -, juris Rn. 13; Urteil vom 11. Januar 2011 - 1 C 22.09 -, juris Rn. 25).
Hingegen hat das Bundesverwaltungsgericht bislang nicht verlangt, dass die
begehrte Entscheidung für bereits konkret anstehende weitere aufenthaltsrechtliche
Entscheidungen von Bedeutung sein muss.
Die Frage, ob die mögliche Erheblichkeit für die weitere aufenthaltsrechtliche
Stellung des Ausländers in jedem Fall hinreicht, ein schutzwürdiges Interesse an der
rückwirkenden Erteilung eines Aufenthaltstitels zu begründen, oder ob die Bejahung
eines Rechtsschutzbedürfnisses an zusätzliche Voraussetzungen geknüpft werden
kann, lässt sich auch nicht ohne Weiteres anhand der einschlägigen gesetzlichen
Regelungen beantworten. Dies zeigt bereits der Umstand, dass die hierzu ergangene
obergerichtliche Rechtsprechung uneinheitlich ist (vgl. Hamburgisches OVG,
Beschluss vom 23. November 2009 - 3 Bf 111/08.Z -, juris Rn. 6; VGH Baden-
Württemberg, Urteil vom 8. November 2010 - 11 S 1873/10 -, juris Rn. 20).
c) Indem das Oberverwaltungsgericht die Rechtsfrage gleichwohl bereits im
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Prozesskostenhilfeverfahren zum Nachteil des Beschwerdeführers beantwortet hat,
hat es diesem den chancengleichen Zugang zum gesetzlich vorgesehenen Weg der
Klärung (vgl. § 124 Abs. 2 Nr. 3, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) verwehrt. Damit hat das
Gericht den Zweck der Prozesskostenhilfe und das mit ihr verfolgte Ziel der
Rechtsschutzgleichheit deutlich verfehlt.
3. Der angegriffene Beschluss beruht auf diesem Verfassungsverstoß. Es ist nicht
auszuschließen, dass das Oberverwaltungsgericht bei Beachtung der Anforderungen
a n die Rechtsschutzgleichheit zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre. Die
Kammer hebt deshalb nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den
angegriffenen Beschluss auf und verweist die Sache an das Oberverwaltungsgericht
zurück. Auf das Vorliegen des weiterhin gerügten Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG
kommt es nicht an.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG, die
Festsetzung des Wertes des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit auf § 37 Abs. 2
Satz 2 RVG (vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366 ff.> ).
Gerhardt
Hermanns
Müller