Urteil des BVerfG vom 08.06.2000

sri lanka, politische verfolgung, drohende gefahr, staatliche verfolgung

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Lothar Hinz und Koll.,
Langenbeckstraße 15, Hagen -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 81/00 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau U...
gegen a) den Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. Dezember
1999 - A 4 S 479/99 -,
b) das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 22. Oktober 1999 - A 5 K
30448/97 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Sommer,
Broß
und die Richterin Osterloh
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a, 93b BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 8. Juni 2000 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden vom 22. Oktober 1999 - A 5 K 30448/97 -
verletzt in seinem klageabweisenden Teil die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus
Artikel 16a Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird in diesem Umfang und im
Kostenausspruch aufgehoben. Die Sache wird insoweit an das Verwaltungsgericht
zurückverwiesen.
Damit wird der Beschluss des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 3. Dezember
1999 - A 4 S 479/99 - gegenstandslos.
Der Freistaat Sachsen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das
Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die
fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters von drohender Misshandlung
und Folter im Polizeigewahrsam des Heimatlandes als "politische Verfolgung".
I.
1.
Die
Beschwerdeführerin
ist
srilankische Staatsangehörige
tamilischer
Volkszugehörigkeit. Sie reiste im Januar 1997 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik
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Deutschland und beantragte ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Zur Begründung gab sie
an, sie sei in ihrem Heimatland für die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) aktiv
gewesen, und zwar in den Jahren 1988/1989 als Mitglied in deren Schülerorganisation SOLT,
dann noch bis zu ihrer Heirat im Dezember 1991 in einem kleinen Komitee der LTTE selbst.
Ihr Ehemann sei 1995 nach Deutschland gegangen. Es habe ständig Angriffe srilankischer
Soldaten in Jaffna gegeben, sie sei immer wieder geflüchtet. Aus Angst, im Krieg ihr Leben
zu verlieren, sei sie dann ebenfalls ausgereist.
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte den
Asylantrag ab und stellte zugleich fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG
und Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Außerdem drohte es der
Beschwerdeführerin die Abschiebung nach Sri Lanka an.
2. Auf Klage der Beschwerdeführerin hob das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen
Urteil vom 22. Oktober 1999 die Entscheidung des Bundesamtes zu § 53 AuslG auf und
verpflichtete die Beklagte zur Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6
Satz 1 AuslG hinsichtlich Sri Lanka vorliegen. Im Übrigen wies es die Klage ab.
Einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte und Feststellung der
Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bestehe nicht. Die Beschwerdeführerin sei in Sri
Lanka nicht politisch verfolgt worden. Ihr drohe im Falle einer Rückkehr eine solche
Verfolgung auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Zwar würden über Sri Lanka
weiterhin zahlreiche Menschenrechtsverletzungen insbesondere an Tamilen berichtet;
allerdings hätten diese Verstöße nicht eine Dichte erreicht, die allgemein für jeden Tamilen
e i n e Verfolgung
mit
beachtlicher
Wahrscheinlichkeit
bedeuten würde.
Die
Beschwerdeführerin habe nicht glaubhaft gemacht, dass der srilankische Staat selbst heute
noch eine ihm zurechenbare Absicht hege, sie politisch zu verfolgen. Sofern eine erhöhte
Gefährdung bestehe, sei diese jedenfalls nicht dem Staat zurechenbar.
Soweit die Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG begehrt werde, sei
die Klage indessen begründet. Zwar drohe der Beschwerdeführerin in Sri Lanka weder dem
Staat zurechenbare Folter im Sinne von § 53 Abs. 1 AuslG noch eine nach § 53 Abs. 4
AuslG beachtliche grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch die
Behörden. Jedoch bestehe für sie auf Grund ihrer früheren Aktivitäten für die SOLT und die
LTTE eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 53 Abs. 6
Satz 1 AuslG.
Die Beschwerdeführerin sei von 1988 bis 1991 für diese Organisationen aktiv gewesen und
habe sich dabei exponiert. Dies sei durch ein vom Gericht eingeholtes Gutachten eines
Sachverständigen erwiesen, der sich vor Ort davon überzeugt habe, dass die Angaben der
Beschwerdeführerin in vollem Umfang richtig seien. Die früheren Aktivitäten der
Beschwerdeführerin könnten bei einer der in Sri Lanka weiterhin im gesamten Land zahlreich
stattfindenden Routinekontrollen bekannt werden und zu einem individualisierten LTTE-
Verdacht gegen die Beschwerdeführerin führen. Insbesondere bei einem solchen Verdacht
gehöre aber nach der Auskunftslage Gewalt bisher zur allgemein verbreiteten Verhörpraxis.
Der damit verbundenen, erheblichen konkreten Gefahr werde sich die Beschwerdeführerin
realistischerweise nicht entziehen können. Auch bei einer Gesamtbetrachtung sei kein
Umstand ersichtlich, der die erhöhte Gefährdung vermindern würde. Die Beschwerdeführerin
gehöre vielmehr wegen ihrer Herkunft aus dem Nordosten Sri Lankas zu dem besonders
gefährdeten Personenkreis; zudem könnten die Aktivitäten ihres Ehemannes gefahrerhöhend
wirken.
3. Den von der Beschwerdeführerin gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung lehnte
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das Oberverwaltungsgericht mit dem gleichfalls angegriffenen Beschluss vom 3. Dezember
1999 ab. Ein Verstoß gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs unter dem Gesichtspunkt der
unzulässigen Überraschungsentscheidung liege nicht vor. Wenn das Verwaltungsgericht mit
Blick auf Art. 16a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG keine vom srilankischen Staat
ausgehenden oder diesem zurechenbaren Gefährdungen der Beschwerdeführerin festgestellt
habe, so habe es sich ganz offensichtlich von der in ständiger Rechtsprechung gefestigten
Auffassung leiten lassen, dass Misshandlungen durch srilankische Sicherheitskräfte als
Exzesse einzelner Hoheitsträger nicht dem Staat zugerechnet werden könnten. Folgerichtig
sei es zur Auffassung gelangt, dass die drohende Gefahr, bei einer Festnahme misshandelt
und gefoltert zu werden, Abschiebungsschutz alleine nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG auslöse.
Das enthalte keine überraschende Überlegung.
II.
1. Mit ihrer rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin im
Wesentlichen eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 16a Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
Das Verwaltungsgericht habe mit seinen Ausführungen zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG in der
Sache eine "politische Verfolgung" festgestellt. Es sei nicht mehr nachvollziehbar, dass es
sich nicht zumindest näher mit der Frage auseinander gesetzt habe, ob die von ihm selbst
gesehene erhebliche Gefährdung nicht auch asylrechtlich beachtlich sei. Dies gelte umso
mehr, als die festgestellte konkrete und individuelle Gefahr unmittelbar an ihre Aktivitäten für
die SOLT und die LTTE vor dem Verlassen Sri Lankas anknüpfe.
Erst Recht verfassungswidrig sei die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts, im
erstinstanzlichen Urteil seien die drohenden Maßnahmen als dem Staat nicht zurechenbare
Exzesshandlungen einzelner Hoheitsträger gewürdigt worden. Die Ausführungen des
Verwaltungsgerichts beinhalteten das genaue Gegenteil.
2. Die Äußerungsberechtigten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das Sächsische
Staatsministerium der Justiz erachtet die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit sie sich
gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts in seinem klageabweisenden Teil richtet. Die
Annahme ist zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der
Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Obwohl
der Beschwerdeführerin auf Grund der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung zu § 53 Abs. 6
Satz 1 AuslG ein - fakultatives - Abschiebungshindernis zur Seite steht, würde ihr durch die
Nichtannahme ein besonders schwerer Nachteil entstehen; denn ihr wird mit der Versagung
des Anspruchs auf Anerkennung als Asylberechtigte ein Status verweigert, der über den
bloßen Abschiebungsschutz deutlich hinausgeht (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Dezember 1994 - 2 BvR 1205/94 -, NVwZ-
Beilage 1995, S. 52).
Die Verfassungsbeschwerde ist mit ihrer Rüge, das Urteil des Verwaltungsgerichts verletze
die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 16a Abs. 1 GG, zulässig und im Sinne
von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet.
1. a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Verfolgung dann
eine politische, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt
Rechtsverletzungen
zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden
Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Ob eine in dieser Weise spezifische
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Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand
ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu
beurteilen, nicht aber nach den subjektiven Gründen und Motiven, die den Verfolgenden dabei
leiten ( BVerfGE 76, 143 <157, 166 f.>; 80, 315 <335>). Auch unmenschliche Behandlung,
insbesondere Folter, kann sich dann als asylrelevante Verfolgung darstellen, wenn sie wegen
asylrelevanter Merkmale oder im Blick auf diese in verschärfter Form eingesetzt wird (
BVerfGE 81, 142 <151>). Politische Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung.
Verfolgungen Dritter sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur
Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt; hierbei ist freilich mit zu bedenken, dass es
keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und
Gewalt zu garantieren (vgl. BVerfGE 80, 315 <334, 336>; 83, 216 <235>).
b) Das Bundesverfassungsgericht hat in Bezug auf den Tatbestand "politisch Verfolgter"
sowohl hinsichtlich der Ermittlung des Sachverhalts selbst als auch seiner rechtlichen
Bewertung zu prüfen, ob die tatsächliche und rechtliche Wertung der Gerichte sowie Art und
Umfang ihrer Ermittlungen der Asylgewährleistung gerecht werden ( BVerfGE 76, 143
<162>). Den Fachgerichten ist dabei ein gewisser Wertungsrahmen zu belassen. Dieser
bezieht sich u.a. auch auf die rechtliche Bewertung des ermittelten Sachverhalts.
Verfassungsrechtlich zu beanstanden ist eine fachgerichtliche Bewertung jedoch dann, wenn
sie anhand der gegebenen Begründung nicht mehr nachvollziehbar ist oder nicht auf einer
hinreichend verlässlichen Grundlage beruht (vgl. zuletzt Beschlüsse der 1. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 2000 - 2 BvR 752/97 - und
vom 3. März 2000 - 2 BvR 39/98 -, Juris).
2. Gemessen an diesen Grundsätzen halten die maßgeblichen Erwägungen, mit denen das
Verwaltungsgericht einen Asylanspruch verneint hat, der verfassungsgerichtlichen
Überprüfung nicht stand. Mit seiner Annahme, die erhöhte Gefährdung der
Beschwerdeführerin könne nicht dem srilankischen Staat zugerechnet werden, hat das
Verwaltungsgericht den ihm eröffneten fachgerichtlichen Wertungsrahmen überschritten.
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts droht der Beschwerdeführerin, wenn sie
nach Sri Lanka zurückkehrt, landesweit die konkrete Gefahr, von den srilankischen
Sicherheitskräften gefoltert und misshandelt zu werden. Das Verwaltungsgericht nimmt an,
das s die Beschwerdeführerin wegen ihrer für glaubhaft erachteten und als exponiert
gewerteten früheren Aktivitäten für die SOLT und die LTTE bei einer der im gesamten Land
zahlreich stattfindenden Routinekontrollen in den konkreten und individualisierten Verdacht
der LTTE-Unterstützung geraten kann. Der Auskunftslage entnimmt das Verwaltungsgericht,
dass bei einem derartigen Verdacht "Gewalt bisher zur allgemein verbreiteten Verhörpraxis"
gehört und dass die solchermaßen verdächtigten Personen auch im Großraum Colombo
besonders gefährdet sind.
Auf der Grundlage dieser tatsächlichen Feststellungen ist nicht mehr nachvollziehbar,
warum die drohenden Folterungen durch staatliche Sicherheitskräfte wegen einer vermuteten
Unterstützung der LTTE dem srilankischen Staat nicht zurechenbar seien und deshalb nur
ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begründen sollen. Der Sache
nach hat das Verwaltungsgericht das drohende Vorgehen der Sicherheitskräfte als bloßen
Amtswalterexzess gewertet. Dies findet keine tragfähige Stütze in der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts. Hiernach
können
zwar vereinzelte
Exzesstaten von
Amtswaltern dem Staat nicht als politische Verfolgung zurechenbar sein (vgl. BVerfGE 80,
315 <352>; Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
vom 20. Mai 1992 - 2 BvR 205/92 -, InfAuslR 1992, S. 283 <287> und vom 11. Mai 1993 - 2
BvR 1989/92 u.a. -, InfAuslR 1993, S. 310 <312>). Entsprechende Feststellungen, die auf
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bloße Einzelexzesse hindeuten könnten, hat das Verwaltungsgericht jedoch nicht getroffen.
Es hat im Gegenteil gerade eine landesweit bestehende und nicht abwendbare konkrete
Gefahr gesehen, dass die Beschwerdeführerin Opfer von Folter und Misshandlung durch die
Sicherheitskräfte wird. Damit aber steht die Annahme, es handele sich bei solchen
Übergriffen lediglich um asylunerhebliche vereinzelte Exzesstaten in unauflösbarem
Widerspruch.
3. Es ist nicht ersichtlich, dass eine erneute, verfassungsgemäße Rechtsanwendung mit
Sicherheit wiederum zum Nachteil der Beschwerdeführerin ausfallen müsste. Das Urteil des
Verwaltungsgerichts ist daher in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang aufzuheben. Die
Sache ist insoweit an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2
BVerfGG), damit über das Asylbegehren der Beschwerdeführerin erneut entschieden werden
kann.
4. Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts, den Antrag auf Zulassung der Berufung
abzulehnen, ist damit gegenstandslos.
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Broß
Osterloh