Urteil des BVerfG vom 03.02.1999

verfassungsbeschwerde, freiheitsentziehung, polizei, rechtsschutzinteresse

-
1
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 804/97 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn H.
gegen a) den Beschluß des Oberlandesgerichts Köln
vom 3. April 1997 - 16 Wx 85/97 -,
b) den Beschluß des Landgerichts Köln
vom 27. Februar 1997 - 1 T 73/97 -,
c) den Beschluß des Amtsgerichts Köln
vom 23. Februar 1997 - 503 Gs 707/97 -,
d) die Freiheitsentziehung durch den Polizeipräsi-
denten Köln am 23. Februar 1997
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die
Richter Sommer,
Broß
und die Richterin Osterloh
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a Abs. 2 Buchst. b, 93b BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 3. Februar 1999 einstimmig
beschlossen:
Der Beschluß des Oberlandesgerichts Köln vom 3. April 1997 - 16 Wx 85/97 - und der
Beschluß des Landgerichts Köln vom 27. Februar 1997 - 1 T 73/97 - verletzen Artikel 19
Absatz 4 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht
Köln zurückverwiesen.
Die weitergehende Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Gründe:
Die
Verfassungsbeschwerde
richtet
sich
gegen Beschlüsse
in
einem
Freiheitsentziehungsverfahren.
I.
2
3
4
5
6
7
8
Der Beschwerdeführer wurde bei einer Unterschriftensammlung von der Polizei
aufgefordert, sich zu entfernen. Da er diese Aufforderung nicht befolgte, wurde er in
Gewahrsam genommen und dem Amtsrichter vorgeführt. Dieser ordnete die Fortdauer der
Freiheitsentziehung bis 19 Uhr desselben Tages an. Zur Begründung bezog sich der
Amtsrichter auf § 35 Abs. 1 Nr. 3 PolG NW. Danach kann die Polizei eine Person in
Gewahrsam nehmen, wenn dies unerläßlich ist, um eine Platzverweisung nach § 34 PolG
NW durchzusetzen.
Die vom Beschwerdeführer eingelegte sofortige und sofortige weitere Beschwerde blieben
ohne Erfolg, weil Landgericht und Oberlandesgericht die Ansicht vertraten, daß nach der
Haftentlassung kein Rechtsschutzbedürfnis für ein Rechtsmittel mehr bestehe.
Mit der Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die genannten Gerichtsbeschlüsse und
gegen die Freiheitsentziehung durch die Polizei wendet, rügt der Beschwerdeführer eine
Verletzung der Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 5 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 4, 20 Abs. 3 und 103 Abs. 1
GG. Er macht u.a. geltend: Für die Freiheitsentziehung habe es keine Rechtsgrundlage
gegeben, da keine Gefahr i.S. des § 34 PolG NW bestanden habe. Landgericht und
Oberlandesgericht hätten ein Feststellungsinteresse zu Unrecht verneint, da mit weiteren
Inhaftierungen in Zukunft zu rechnen sei und Rechtsschutz wegen der Kürze der
Inhaftierungen jeweils nicht zu erlangen sei.
Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen ist Gelegenheit zur Äußerung
gegeben worden. Es hat von einer Stellungnahme abgesehen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93b BVerfGG),
soweit sie sich gegen die im Rubrum zu a) und b) genannten Beschlüsse richtet; insoweit
gibt sie der Verfassungsbeschwerde statt.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, soweit sie sich gegen die Beschlüsse des
Landgerichts und des Oberlandesgerichts richtet. In diesem Umfang ist sie auch
offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG). Die für diese Beurteilung maßgeblichen
Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1
BVerfGG). Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des Oberlandesgerichts
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
1. a) Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschluß vom 30. April
1997 ( ) seine frühere Rechtsprechung, wonach Art. 19 Abs. 4 GG bei erledigten
Grundrechtseingriffen in der Regel eine nachträgliche gerichtliche Prüfung durch die
Fachgerichte nicht verlange, aufgegeben (vgl. auch , ). Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte
Effektivität des Rechtsschutzes verbietet es den Rechtsmittelgerichten, ein von der
jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel ineffektiv zu machen und für den
Beschwerdeführer "leerlaufen" lassen. Hiervon muß sich das Rechtsmittelgericht bei der
Antwort auf die Frage leiten lassen, ob im jeweiligen Einzelfall für ein nach der
Prozeßordnung statthaftes Rechtsmittel ein Rechtsschutzinteresse besteht. Mit dem Gebot,
effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, ist es zwar grundsätzlich vereinbar, wenn die
Gerichte ein Rechtsschutzinteresse nur solange als gegeben ansehen, als ein gerichtliches
Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer
Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung durch einen an
sich beendeten Eingriff zu beseitigen. Darüber hinaus ist ein Rechtsschutzinteresse aber
auch in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe gegeben, in denen die direkte Belastung
durch den angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine
9
10
11
12
13
14
15
Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene die gerichtliche Entscheidung in der von der
Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Effektiver Grundrechtsschutz
gebietet es in diesen Fällen, daß der Betroffene Gelegenheit erhält, die Berechtigung des
schwerwiegenden - wenn auch tatsächlich nicht mehr fortwirkenden - Grundrechtseingriffs
gerichtlich klären zu lassen. Die Funktionenteilung zwischen der Fach- und
Verfassungsgerichtsbarkeit läßt es nicht zu, daß ein Beschwerdeführer, der von einem
seiner Natur nach alsbald erledigten Eingriff schwerwiegend im Schutzbereich eines
individuellen Grundrechts betroffen ist, erst und nur im Wege der Verfassungsbeschwerde
effektiven Grundrechtsschutz einfordern kann. Tiefgreifende Grundrechtseingriffe kommen
vor allem bei Anordnungen in Betracht, die das Grundgesetz - wie in den Fällen des Art. 13
Abs. 2 und Art. 104 Abs. 2 und 3 - vorbeugend dem Richter vorbehalten hat.
b) Zu der genannten Fallgruppe gehört auch die Freiheitsentziehung nach § 35 Abs. 1 Nr. 3
PolG NW. Auch in derartigen Fällen ist die direkte Belastung durch den angegriffenen
Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher
der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung über ein Rechtsmittel in der von der
Prozeßordnung gegebenen Instanz kaum erlangen kann. Freiheitsentziehungen zur
Durchsetzung eines Platzverweises können ihrer Natur nach in der Regel nur ganz
k urz fris tig sein. Solche Freiheitsentziehungen stellen auch einen tiefgreifenden
Grundrechtseingriff dar, so daß im Einzelfall ein Interesse an der Feststellung der
Rechtswidrigkeit der beanstandeten Maßnahme bestehen kann.
2. Nach dem dargestellten Maßstab ist die Verfassungsbeschwerde begründet, soweit sie
zur Entscheidung angenommen ist.
Landgericht und Oberlandesgericht haben in den angegriffenen Beschlüssen die
Beschwerde des Beschwerdeführers ausschließlich unter Hinweis auf die Beendigung der
Freiheitsentziehung für unbegründet gehalten. Sie haben damit den Anspruch des
Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 GG verletzt.
3. Die Entscheidungen beruhen auf dem dargelegten Fehler. Es ist nach dem Vortrag des
Beschwerdeführers nicht auszuschließen, daß sich die Freiheitsentziehung bei näherer
Prüfung im Beschwerdeverfahren als rechtswidrig erweist. Die angegriffenen Beschlüsse
sind daher aufzuheben, die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen.
4. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen den Beschluß des Amtsgerichts und die
Maßnahme der Polizei richtet, kann sie nicht zur Entscheidung angenommen werden.
Insoweit ist sie nach dem Grundsatz der Subsidiarität unzulässig, da - wie sich aus den
vorstehenden
Ausführungen ergibt - eine Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der
Freiheitsentziehung durch die Fachgerichte noch möglich ist.
5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2
BVerfGG. Da der Beschwerdeführer sein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgtes
Rechtsschutzziel im wesentlichen erreicht hat, ist eine Auslagenerstattung in vollem Umfang
angemessen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Osterloh
Sommer
Broß