Urteil des BVerfG vom 08.06.2004

verfassungsbeschwerde, gefährdung der gesundheit, öffentliche gewalt, vorläufige einstellung

- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Ingrid Witte-Rohde,
Schanzenstraße 1, 20357 Hamburg -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 785/04 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau E ...
gegen die Ladung der Großen Strafkammer 19 des Landgerichts Hamburg zur
Hauptverhandlung am 10. Mai 2004 sowie zahlreichen und über den
errechneten Geburtstermin hinausreichenden Fortsetzungsterminen in der
Strafsache 619 Kls 3/04, die Versagung der Abtrennung des
Strafverfahrens und der vorläufigen Verfahrenseinstellung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 8. Juni 2004 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen
Auslagen im Verfassungsbeschwerde-Verfahren zu erstatten.
Gründe:
Die
Verfassungsbeschwerde
betrifft
die Berücksichtigung
einer
Risikoschwangerschaft bei der Beurteilung der Verhandlungsfähigkeit.
I.
1. Vor dem Landgericht ist ein Strafverfahren gegen die Beschwerdeführerin und
drei weitere Angeklagte unter anderem wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln
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i n nicht geringer Menge in acht Fällen und wegen Geldwäsche in drei Fällen
anhängig. Der geständigen und auf freiem Fuß befindlichen Beschwerdeführerin
werden die Beteiligung an einer Betäubungsmitteltat und drei Vergehen der
Geldwäsche zur Last gelegt. Die Mitangeklagten haben von ihrem Schweigerecht
Gebrauch gemacht. Sie befanden sich jedenfalls bis zum 17. Mai 2004 in der seit 24.
Oktober 2003 vollzogenen Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft hatte das
Ermittlungsverfahren gegen die Beschwerdeführerin zunächst getrennt geführt, die
Verfahren
bei
Abschluss
des Ermittlungsverfahrens
aber
wegen
Sachzusammenhangs verbunden und einheitlich Anklage zum Landgericht erhoben.
a) Schon im Zwischenverfahren beantragte die Beschwerdeführerin unter Vorlage
eines ärztlichen Attests ihres Gynäkologen die Abtrennung des gegen sie geführten
Verfahrens und seine vorläufige Einstellung gemäß § 205 StPO. Zur Begründung trug
sie im Wesentlichen vor, dass sie sich in der 27. Woche einer
"Risikoschwangerschaft" befinde. Sie habe bisher drei Kinder zur Welt gebracht, die
sämtlich zu früh geboren worden seien; ihr zuletzt (im Jahr 2003) geborenes Kind sei
im Alter von drei Monaten einem Nierenversagen erlegen. Seit Februar habe
Wehentätigkeit eingesetzt, die medikamentös behandelt werde. Bei dieser Sachlage
bedeute die Teilnahme an einer Hauptverhandlung eine unverhältnismäßige
Gefährdung der Gesundheit der werdenden Mutter und des ungeborenen Kindes, die
durch die Hinzuziehung eines Arztes während der Hauptverhandlung und eine
zeitlich schonende Verhandlungsführung nicht aufgefangen werden könne. Die
verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung einer wirksamen Strafrechtspflege
rechtfertige die Durchführung der Hauptverhandlung nicht, weil die zu befürchtenden
Schäden für Mutter und Kind überwögen, zumal das Kind im Falle einer vorzeitig
durch die Strapazen einer Hauptverhandlung ausgelösten Geburt wahrscheinlich
nicht überlebensfähig sei oder zumindest bleibende Schäden davontragen könne.
D ie Hauptverhandlung könne gefahrlos nach der Geburt des Kindes durchgeführt
werden.
b) Die Strafkammer holte ein Sachverständigengutachten zur Frage der
Verhandlungsfähigkeit ein, das auf der Grundlage einer Untersuchung der
Beschwerdeführerin am 19. April 2004 zu folgendem Ergebnis kam:
"In der Gesamtbeurteilung der geburtshilflichen Situation ergibt sich somit, daß bei
d e r Patientin eine Risikoschwangerschaft vorliegt. Sie ist Zustand nach drei mal
Frühgeburten in früheren Schwangerschaftszeiten. In der jetzigen Schwangerschaft
besteht ebenfalls eine deutliche Cervixverkürzung und die Gefahr einer
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Muttermundseröffnung in der 33. Schwangerschaftswoche.
Aus medizinischer Sicht ist deshalb der Patientin eine stationäre Aufnahme mit
entsprechender Beobachtung angeraten worden. Dies impliziert, daß (der) Patientin
absolute Ruhe, überwiegend im liegenden Zustand, ggf. unterstützt mit
wehenhemmenden Mitteln, anzuraten ist. Demzufolge ist eine gerichtliche
Verhandlungsfähigkeit aus medizinischer Sicht nicht gegeben, da durch die
entstehenden Stressmomente vorzeitige Wehentätigkeit und damit die Frühgeburt
gefördert wird."
Nach der Unterschrift des Sachverständigen enthält das Gutachten das
Postskriptum:
"Eine
Verhandlungsfähigkeit
besteht
ab
der
36. +
4. Schwangerschaftswoche, also ab dem 10. Mai".
c) Der Vorsitzende der Strafkammer hob die ursprünglich auf den 22. April 2004
anberaumte Hauptverhandlung auf und bestimmte neuen Termin auf den 10. Mai
2004 mit Fortsetzungsterminen bis einschließlich 16. Juni 2004 und damit über den
errechneten Geburtstermin hinaus.
d) Die Verteidigerin der Beschwerdeführerin erhob gegen die Ladungsverfügung
und die Ablehnung der Abtrennung und vorläufigen Einstellung des Strafverfahrens
gemäß § 205 StPO Gegenvorstellung, mit der sie vortrug, dass die vorgesehene
Verfahrensweise der Strafkammer gegen den Grundsatz fairen Verfahrens verstoße
und ihrer Mandantin den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 6 Abs. 4 GG
verweigere. Zu dem geplanten Hauptverhandlungstermin am 10. Mai 2004 werde ihre
Mandantin etwa vier Wochen vor dem geplanten Geburtstermin stehen; sie bedürfe
deshalb des besonderen Schutzes durch den Staat.
e) Im Rahmen einer Entscheidung über die Haftfortdauer bezüglich der drei
Mitangeklagten lehnte die Strafkammer die beantragte Abtrennung des Verfahrens
und Einstellung gemäß § 205 StPO ab. Eine Abtrennung des Verfahrens komme
nicht in Betracht; die Verbindung der Verfahren sei sachgerecht, weil es sich um eine
zusammenhängende Strafsache handele. Die Beschwerdeführerin sei geständig und
habe auch Angaben zu den Mitangeklagten gemacht. Eine Aufsplitterung des
Verfahrens würde zu erheblichen Nachteilen führen, weil die Hauptverhandlung
gegen die Beschwerdeführerin zu einem späteren Zeitpunkt, möglicherweise noch
parallel zu der Verhandlung gegen die Mitangeklagten, durchgeführt werden müsse;
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eine umfangreiche und schwierige Hauptverhandlung müsse wiederholt werden;
auch die Wahrheitsfindung könne beeinträchtigt werden; es bestünde "sogar die
Gefahr abweichender Tatsachenfeststellungen und unterschiedlicher rechtlicher
Beurteilungen des gleichen Lebenssachverhalts". Dieser Gefahr könne auch nicht
dadurch begegnet werden, dass die Beschwerdeführerin in der Hauptverhandlung
gegen die drei Mitangeklagten als Zeugin vernommen werde, weil sie sich
möglicherweise auf ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 StPO, jedenfalls aber
auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen könne.
2. a) Mit ihrer fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die
Beschwerdeführerin eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1
und Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und trägt im Wesentlichen
vor:
Die Ladung zur Hauptverhandlung und die Ablehnung der Abtrennung des gegen
sie geführten Verfahrens und der vorläufigen Verfahrenseinstellung nach § 205 StPO
wegen vorübergehender Verhandlungsunfähigkeit verletzten Art. 6 Abs. 4 GG. Ein
Eingriff in den Schutzbereich dieser Grundrechtsgarantie liege jedenfalls vor, wenn
eine staatliche Maßnahme Leib und Leben des ungeborenen Kindes gefährde. So
liege es hier: Das gynäkologische Sachverständigengutachten stelle einen deutlich
pathologischen Befund des Kindes (beginnende Kopf-Thorax-Diskrepanz) fest, der
ärztlicher Überwachung bedürfe. Daher sei die vom Sachverständigen in ein
Postskriptum
gefasste
Aussage,
ab
dem
10.
Mai
2004
bestehe
Verhandlungsfähigkeit, nicht nachvollziehbar; eine mögliche Erklärung liege darin,
dass ein nach der 37. Schwangerschaftswoche geborenes Kind nicht mehr als
Frühgeburt gelte. Damit sei aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob das Kind
unter den Bedingungen einer Hauptverhandlung lebend zur Welt kommen werde. Die
vom Sachverständigen festgestellte Wachstumsretardierung weise darauf hin, dass
das Kind durch die Plazenta nicht mehr ausreichend versorgt werde. Mit
fortschreitender Schwangerschaft steige das Risiko eines intrauterinen Kindstods,
ohne dass dies ohne weiteres erkennbar sei.
Die Entscheidung der Kammer, die die Beschwerdeführerin als werdende Mutter
einem solchen Risiko aussetze und allein auf das Risiko einer Frühgeburt abstelle,
negiere den durch Art. 6 Abs. 4 GG verbürgten Schutzanspruch. Die
verfassungsrechtliche Pflicht zur Gewährleistung einer effektiven Strafrechtspflege
fordere die Durchführung der Hauptverhandlung zum geplanten Zeitpunkt nicht; ihr
könne ohne weiteres mit einer Hauptverhandlung nach der Geburt des Kindes
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Genüge getan werden. Mögliche prozessökonomische Nachteile seien – wegen des
Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter – hinzunehmen, zumal auch Strafverfahren
gegen andere Tatbeteiligte getrennt geführt und verhandelt würden. Die
Beschwerdeführerin stehe zum Zeitpunkt des Beginns der Hauptverhandlung etwa
vier Wochen vor dem geplanten Geburtstermin und wäre als Arbeitnehmerin durch
ein absolutes Beschäftigungsverbot geschützt. Auch wenn die Vorschriften des
Mutterschutzgesetzes keine unmittelbare Anwendung finden könnten, dürfe eine
schwangere Angeklagte im Strafverfahren nicht gänzlich schutzlos gestellt werden.
Darüber hinaus erweise sich die Entscheidung der Strafkammer als
unverhältnismäßig und willkürlich, weil völlig offen sei, wie die Verhandlung
durchgeführt werden solle und ob die Beschwerdeführerin an ihr überhaupt bis zum
Ende werde teilnehmen können. Es sei insbesondere unzumutbar, sie über den
geplanten Geburtstermin hinaus zur Teilnahme an einer Hauptverhandlung zu
verpflichten, die gerade in diesem Zeitraum besonders intensiv (ganztägige
Verhandlungen) geführt werden solle. Die Erwägung der Kammer, wonach die
Beschwerdeführerin in einer Unterbrechung der Hauptverhandlung ihr Kind zur Welt
bringen und fortan mit dem Kind – unter Zubilligung von Stillpausen - an der
Hauptverhandlung teilnehmen solle, sei nicht nur unpraktikabel, sondern zugleich ein
unzumutbarer Eingriff in Art. 6 Abs. 4 GG. Bei der von der Strafkammer geplanten
Verfahrensweise könne die Angeklagte sich nicht sachgerecht verteidigen.
3. Wegen der Eilbedürftigkeit hat das Bundesverfassungsgericht - ohne vorherige
Anhörung - im Wege einer einstweiligen Anordnung vom 3. Mai 2004 die
Strafkammer angewiesen, bis zur Entscheidung in der Hauptsache keine
Hauptverhandlung gegen die Beschwerdeführerin durchzuführen.
4. Die Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg hat mit Schreiben vom 17.
Mai 2004 im Anhörungsverfahrens zur Hauptsache mitgeteilt, dass die Strafkammer
die Hauptverhandlungstermine abgesetzt und von einer Verfahrensabtrennung
abgesehen habe. Im Übrigen hat das Land von einer Stellungnahme zur Hauptsache
abgesehen.
5. Die Beschwerdeführerin hat am 26. Mai 2004 entbunden.
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein
Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen sind beantwortet (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a
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BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte der
Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG); denn die
Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>).
Soweit sich die Beschwerdeführerin gegen die Terminsladung wendet, hat sich die
Hauptsache erledigt (1.). Soweit sie sich gegen die Ablehnung der
Verfahrensabtrennung richtet, ist die Verfassungsbeschwerde nicht hinreichend
substantiiert (2.).
1. Mit der Absetzung der ab dem 10. Mai 2004 anberaumten
Hauptverhandlungstermine
hat
sich
die
Hauptsache erledigt.
Das
Beschwerdevorbringen richtete sich nicht gegen die Durchführung einer
Hauptverhandlung überhaupt, sondern nur gegen die Durchführung einer
mehrtägigen Hauptverhandlung, die vor dem berechneten Geburtstermin beginnt und
über diesen hinausgeht. Mit der Aufhebung der Ladungsverfügung durch die
Strafkammer ist der die Beschwerdeführerin belastende hoheitliche Akt weggefallen.
Die
Verfassungsbeschwerde
ist
daher
unzulässig
geworden.
Ein
Rechtschutzbedürfnis für eine Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der
erfolgten Sachbehandlung besteht nicht mehr. Nach der Absetzung der
Hauptverhandlungstermine und der Geburt des Kindes sind Anhaltspunkte für die
Gefahr einer Wiederholung der beanstandeten Verfahrensweise und eine weitere
Beeinträchtigung nicht erkennbar. Die Berücksichtigung der durch eine
Hauptverhandlung verursachten Gesundheitsgefährdung und eine darauf beruhende
Verhandlungsunfähigkeit
wirft
keine
neuen verfassungsrechtlichen Fragen
grundsätzlicher Art auf (BVerfGE 51, 324).
2. Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Ablehnung der
Verfahrensabtrennung richtet, entspricht sie nicht den Mindestanforderungen der
§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG. Die Beschwerdeführerin hat nicht dargelegt,
inwieweit sie allein durch die fortbestehende Verfahrensverbindung in ihren
Grundrechten verletzt sein könnte. Aus dem Beschwerdevortrag erhellt vielmehr, dass
d i e Verfahrensabtrennung lediglich begehrt wurde, um - unabhängig von den
Mitangeklagten, deren Verhandlung wegen der bereits über die Frist des § 121 StPO
hinaus andauernden Untersuchungshaft zeitnah hätte erfolgen müssen - einen
Hauptverhandlungstermin, der die Zeitspanne der Schwangerschaft und des
voraussichtlichen Geburtstermins nicht mehr tangierte, ermöglichen zu können.
Nachdem das Kind zwischenzeitlich zur Welt gekommen ist, ist das mit der begehrten
Verfahrensabtrennung erstrebte Fernziel entfallen. Sonstige Umstände, die eine
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Verfahrensabtrennung
von Verfassungs wegen geboten hätten, hat die
Beschwerdeführerin nicht vorgetragen und sind auch nicht ersichtlich.
III.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34 a Abs. 3 BVerfGG (vgl.
BVerfGE 85, 109 <114>). Danach ist über die Erstattung der Auslagen der
Beschwerdeführerin nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden. Dabei kommt
insbesondere dem Grund, der zur Erledigung geführt hat, wesentliche Bedeutung zu
(vgl. BVerfGE 85, 109 <114 f.>; 87, 394 <397>). Maßgeblich kann etwa sein, ob die
öffentliche Gewalt von sich aus den mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen
Akt beseitigt, ob eine Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde unterstellt werden
kann oder ob die verfassungsrechtliche Lage - etwa durch eine Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts in einem gleich liegenden Fall - bereits geklärt ist (vgl.
BVerfGE 85, 109 <115 f.>).
1. Nach diesen Grundsätzen ist es im vorliegenden Fall billig, die
Auslagenerstattung anzuordnen, weil die Verfassungsbeschwerde im Zeitpunkt ihrer
Erhebung zulässig und begründet war und die Erledigung durch die Absetzung der
angegriffenen Hauptverhandlungstermine eingetreten ist (vgl. BVerfGE 69, 161
<168>; 72, 34 <37>). Die Absetzung wiederum war durch die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz ausgelöst
worden. Hätte das Bundesverfassungsgericht zu diesem frühen Zeitpunkt bereits in
der Hauptsache entscheiden können, so hätte die Verfassungsbeschwerde
weitgehend Erfolg gehabt.
2. Die durch die Strafkammer bestätigte Terminsbestimmung durch den
Vorsitzenden verletzte die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Art. 2
Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, weil das Landgericht die
Ausstrahlungswirkung des Art. 6 Abs. 4 GG grundlegend verkannt hatte.
a) Nach Art. 6 Abs. 4 GG hat jede, insbesondere jede werdende Mutter Anspruch auf
den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft (vgl. BVerfGE 32, 273
<277>; 52, 357 <365>; 55, 154 <157>; 88, 203 <258>). Der Schutz des Art. 6 Abs. 4
G G erfasst Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Neben dem verbindlichen
Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, der vor allem die Gewährung einer
Schonzeit vor und nach der Geburt fordert (vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 7. Aufl.
2004, Art. 6, Rn. 50), ist die Verfassungsnorm Ausdruck einer verfassungsrechtlichen
Wertentscheidung, die für den gesamten Bereich des öffentlichen und privaten
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Rechts verbindlich ist (vgl. BVerfGE 32, 273 <277>; 47, 1 <20>; 52, 357 <365>;
zustimmend Schmitt-Kammler, in: Sachs, Grundgesetz, 3. Aufl., Art. 6, Rn. 81).
Zwar hat das Bundesverfassungsgericht bislang noch nicht entschieden, ob die
Verfassungsnorm ein echtes Grundrecht enthält (vgl. Gröschner, in: Dreier, GG, 2.
Aufl., Art. 6, Rn. 140, 143; befürwortend Pieroth, a.a.O., Rn. 44; Coester-Waltjen, in:
von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl., Art. 6, Rn. 105; in diesem Sinne auch BVerwGE 47,
2 3 <27>). Diese Frage kann auch hier offen bleiben. Denn als Ausdruck einer
grundlegenden Wertentscheidung fordert Art. 6 Abs. 4 GG Beachtung auch bei
Auslegung und Anwendung einfachen Gesetzesrechts durch die Gerichte.
b) Die Terminsbestimmung zeigt, dass die Strafkammer der besonderen
Schutzbedürftigkeit
der Beschwerdeführerin
angesichts
des
unmittelbar
bevorstehenden Geburtstermins nicht Rechnung getragen hatte.
Die Ausführungen der Strafkammer in dem Haftfortdauerbeschluss, mit dem sie
zugleich die Abtrennung des Verfahrens gegen die Beschwerdeführerin abgelehnt
hatte, legen nahe, dass sie aus Gründen der Prozessökonomie und aus Furcht vor
möglicherweise
abweichenden Sachverhaltsfeststellungen
an
der
Verfahrensverbindung festgehalten hat. Divergierende Sachverhaltsfeststellungen
gehören freilich zum strafrichterlichen Alltag und sind in der Natur des Strafprozesses
angelegt. Dem Bestreben, abweichende Feststellungen zu vermeiden, kommt daher
gegenüber grundrechtlich geschützten Belangen der Angeklagten grundsätzlich kein
Vorrang
zu.
Wenn
die
Strafkammer
dessen ungeachtet von einer
Verfahrensabtrennung abgesehen hat, hätte sie berücksichtigen müssen, dass eine
zeitnahe Hauptverhandlung, welche wegen der bereits über die Frist des § 121 StPO
hinaus andauernden Untersuchungshaft bezüglich der Mittäter nach Auffassung der
Strafkammer erforderlich gewesen war, die schutzwürdigen Belange der
Beschwerdeführerin beeinträchtigte. Dass die Strafkammer sich bei der
unverzüglichen Terminierung der Hauptverhandlung dessen bewusst gewesen wäre,
ist nicht ersichtlich. Schon die Terminierung der Hauptverhandlung gegen die
Beschwerdeführerin hatte daher gegen Art. 6 Abs. 4 GG verstoßen.
c) Zudem hatte die Strafkammer bei der ihr von Amts wegen obliegenden Prüfung
der Verhandlungsfähigkeit die besondere Situation der Beschwerdeführerin nicht
bedacht und auch damit die Ausstrahlungswirkung des Art. 6 Abs. 4 GG und des
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG
missachtet:
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(1) Nach der vom Bundesverfassungsgericht gebilligten Ansicht bedeutet
Verhandlungsfähigkeit im strafprozessualen Sinne, dass die Angeklagte in der Lage
sei n muss, ihre Interessen innerhalb und außerhalb der Verhandlung vernünftig
wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen
und Prozesserklärungen abzugeben und entgegen zu nehmen (vgl. Pfeiffer, in:
Karlsruher-Kommentar, StPO, 5. Aufl., Einl., Rn. 126). Beurteilungsmaßstab ist dabei
jeweils der konkret anstehende Verfahrensabschnitt mit seinen spezifischen
Anforderungen an die physische und psychische Leistungsfähigkeit des Betroffenen
(vgl. Rieß, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 205, Rn. 14, 15).
Verhandlungsunfähigkeit liegt auch vor, wenn die Fortführung des Verfahrens mit
einer konkreten Lebens- oder schwerwiegenden Gesundheitsgefährdung verbunden
ist (vgl. BVerfGE 51, 324 <346 f.>).
(2) Hier hatte die Beschwerdeführerin im fachgerichtlichen Verfahren substantiiert
vorgetragen, dass die Fortsetzung der Hauptverhandlung mit einer konkreten
Gesundheitsgefahr für sie selbst und mit einer Gefährdung ihres ungeborenen Kindes
verbunden und dass sie auf Grund der weit fortgeschrittenen Risikoschwangerschaft
physisch und psychisch nicht in der Lage sei, sich in der bevorstehenden
Hauptverhandlung angemessen zu verteidigen. Zur Bekräftigung ihres Vorbringens
hatte sie sich auf ein wissenschaftliches Werk zur psychiatrischen Begutachtung
berufen, das die Schwangerschaft im letzten Trimenon als Sonderfall der
Verhandlungsfähigkeit abhandelt.
(3) Die Strafkammer hatte sich mit diesen konkreten und eine uneingeschränkte
Verhandlungsfähigkeit in Frage stellenden Besonderheiten des Einzelfalls nicht
auseinander gesetzt und damit die grundrechtlich geschützten Positionen der
Beschwerdeführerin nicht hinreichend bedacht. Die im Postskriptum der
sachverständigen Stellungnahme enthaltene Einschätzung war nicht geeignet, die
Bejahung der Verhandlungsfähigkeit zu tragen. Ohne Angabe der medizinischen
Anknüpfungstatsachen lässt sich diese Einschätzung nicht ohne weiteres mit dem
sonstigen
Ergebnis des
Gutachtens
vereinbaren,
welches
die
Verhandlungsunfähigkeit feststellte und aus medizinischer Sicht absolute Ruhe für
erforderlich hielt. Soweit das Landgericht davon ausgegangen sein sollte, dass nach
dem im Postskriptum genannten Zeitraum eine durch die Anstrengung der
Hauptverhandlung ausgelöste, vorzeitige Wehentätigkeit nicht mehr die Gefahr berge,
dass das Kind deutlich zu früh zur Welt komme, hätte es einer Auseinandersetzung
darüber bedurft, welche Auswirkungen die Anstrengungen der Hauptverhandlung im
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Übrigen auf die Gesundheit von Mutter und Kind hätten haben können. Es kann
mithin nicht festgestellt werden, ob sich die Strafkammer darüber im Klaren war, dass
das Rechtsstaatsprinzip einer Sachaufklärung und Strafverfolgung um jeden Preis
entgegenstehen kann (vgl. BVerfGE 51, 324 <345>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff