Urteil des BVerfG vom 19.05.2010

freiheit der person, verfassungsbeschwerde, erlass, sicherungsverwahrung

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 769/10 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn D ...,
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Koblenz vom 30. März 2010 - 1
Ws 116/10 -,
b) den Beschluss der Strafvollstreckungskammer Diez des Landgerichts
Koblenz vom 26. Februar 2010 - 7 StVK 184/09 -
hier:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
den Richter Mellinghoff
und die Richterin Lübbe-Wolff
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 19. Mai 2010 einstimmig
beschlossen:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Gründe:
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen
Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr
schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl
dringend geboten ist. Auch in einem Verfahren über eine Verfassungsbeschwerde
kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden (vgl. BVerfGE 66, 39 <56> ;
stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen
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Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben. Etwas
anderes gilt nur, wenn sich die Verfassungsbeschwerde von vornherein als
unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist. Bei offenem Ausgang des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht dagegen
die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge,
die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen,
die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der
Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 87, 334
<338>; 89, 109 <110>; stRspr). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt
dabei nur in Betracht, wenn die für den Erlass sprechenden Gründe deutlich
überwiegen (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 15. Oktober 2008 - 2
BvR 236/08 -, NVwZ 2009, S. 103 <104>).
2. Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung bleibt aufgrund der gebotenen
Folgenabwägung ohne Erfolg. Die durch das - nach Ablehnung des Antrags auf
Verweisung an die Große Kammer am 10. Mai 2010 nunmehr endgültige -
Kammerurteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom
17. Dezember 2009 (Beschwerde Nr. 19359/04) zur Sicherungsverwahrung
aufgeworfenen Rechtsfragen werden im Hauptsacheverfahren zu klären sein.
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die
Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so entstünde dem Beschwerdeführer
durch die Fortsetzung der Freiheitsentziehung ein schwerer und nicht wieder
gutzumachender Verlust an persönlicher Freiheit (vgl. BVerfGE 22, 178 <180>; 84,
3 4 1 <344>). Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) hat unter den
grundrechtlich verbürgten Rechten besonderes Gewicht (vgl. BVerfGE 65, 317 <322>;
104, 220 <234>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom
22. Dezember 2009 - 2 BvR 2365/09 -, juris, Rn. 3).
b) Erginge die einstweilige Anordnung, wiese aber das Bundesverfassungsgericht
die Verfassungsbeschwerde später als unbegründet zurück oder gäbe ihr ohne die
Folge einer Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Maßregelvollzug statt, so
entstünden ebenfalls schwerwiegende Nachteile. Die Fachgerichte haben die Gefahr
bejaht, dass der seit über 10 Jahren in der Sicherungsverwahrung befindliche
Beschwerdeführer - der 1996 unter anderem wegen versuchten schweren
Menschenhandels, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, sexueller Nötigung und
Förderung der Prostitution strafgerichtlich verurteilt worden war - infolge seines
Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder
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körperlich schwer geschädigt werden. Die Fachgerichte haben insoweit auf drohende
Straftaten des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und
ähnliche Delikte abgestellt. Diese Annahme ist nachvollziehbar begründet. In
Anbetracht dessen und angesichts der Schwere der drohenden Taten überwiegt das
Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegenüber dem Freiheitsgrundrecht des
Beschwerdeführers.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Voßkuhle
Mellinghoff
Lübbe-Wolff