Urteil des BVerfG vom 07.07.2010

echte rückwirkung, verkündung, realisation stiller reserven, öffentliche gewalt

- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Ulrich Ziegler c/o Bansbach, Schübel,
Brösztl & Partner GmbH, Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Steuerberatungsgesellschaft,
Gänsheidestraße 72 - 74, 70184 Stuttgart -
Leitsatz
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 7. Juli 2010
- 2 BvR 748/05 -
- 2 BvR 753/05 -
- 2 BvR 1738/05 -
Die Absenkung der Beteiligungsquote bei der Besteuerung privater Veräußerungen
von Kapitalanteilen durch § 17 Abs. 1 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in
der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 war mit belastenden
Folgen einer unechten Rückwirkung verbunden, die zum Teil den Grundsätzen des
verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes widersprechen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 748/05 -
- 2 BvR 753/05 -
- 2 BvR 1738/05 -
Im Namen des Volkes
In den Verfahren
über die Verfassungsbeschwerden
1.
a) der Frau S...
b) des Herrn S...
I. unmittelbar gegen
das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 1. März 2005 - VIII R 25/02 -,
II. mittelbar gegen
§ 17 Abs. 1 Satz 1 und 4 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Prof. Dr. Arndt Raupach, Dr. Dirk Pohl und Dr. Gero Burwitz,
Rechtsanwälte bei McDermott Will & Emery Rechtsanwälte LLP,
Nymphenburger Straße 3, 80335 München -
Einkommensteuergesetz in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I S. 402)
- 2 BvR 748/05 -,
2.
des Herrn G...
I. unmittelbar gegen
a) das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 1. März 2005 - VIII R 92/03 -,
b) das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 25. September 2003 - IV 229/2002
-,
c) die Einspruchsentscheidung des Finanzamts Würzburg vom 24. Mai 2002 -
257/11335099 - RbSt 6 RbL 1b-Ap30- 2001 Nr. 73 -,
d) den Einkommensteuerbescheid 1999 des Finanzamts Würzburg vom 22.
Oktober 2001 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 7. März 2003 -
113/35099 -,
II. mittelbar gegen
§ 17 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1
Einkommensteuergesetz in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I S. 402)
- 2 BvR 753/05 -,
3.
des Herrn B...
I. unmittelbar gegen
das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 10. August 2005 - VIII R 22/05 -,
II. mittelbar gegen
§ 17 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1
Einkommensteuergesetz in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I S. 402)
- 2 BvR 1738/05 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der
Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff,
Gerhardt,
Landau
am 7. Juli 2010 beschlossen:
§ 17 Absatz 1 Satz 4 in Verbindung mit § 52 Absatz 1 Satz 1
Einkommensteuergesetz in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (Bundesgesetzblatt I Seite 402) verstößt gegen
die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und ist nichtig,
soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden,
die bis zur Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/ 2002 am 31. März
1999 entstanden sind und die entweder - bei einer Veräußerung bis zu diesem
Zeitpunkt - nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert worden sind oder
- bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes - sowohl zum Zeitpunkt der
Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden
Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können.
Die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 1. März 2005 - VIII R 25/02 -, vom 1. März
2005 - VIII R 92/03 - und vom 10. August 2005 - VIII R 22/05 - werden aufgehoben.
Die Verfahren werden an den Bundesfinanzhof zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat den Beschwerdeführern ihre notwendigen
Auslagen zu erstatten.
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Gründe:
A.
Die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Verfassungsbeschwerden
betreffen die Frage, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass Gewinne aus der
privaten Veräußerung von Beteiligungen an Kapitalgesellschaften nach § 17 Abs. 1
in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz - EStG - in der
Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 vom 24. März 1999 (BGBl I
S. 402) der Einkommensteuer unterworfen sind, insbesondere soweit sich die damit
einhergehende Absenkung der Beteiligungsgrenze von mehr als 25 % auf
mindestens 10 % auch auf nach altem Recht bestehende Beteiligungsverhältnisse
bezieht.
I.
1. Das Einkommensteuergesetz unterscheidet nach § 2 Abs. 2 EStG zwischen
Gewinneinkunftsarten
und Überschusseinkunftsarten.
Im
Rahmen
der
Gewinneinkunftsarten, zu denen die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft,
Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit zählen, unterliegt der Wertzuwachs bei den
zum Betriebsvermögen gehörenden Wirtschaftsgütern der Besteuerung zum
Zeitpunkt ihrer Realisierung insbesondere in Gestalt eines Veräußerungsgewinns.
Bei den Überschusseinkunftsarten, zu denen die Einkünfte aus nichtselbständiger
Arbeit, aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung sowie „sonstige
Einkünfte“ gehören, gilt das für die Einkünfteerzielung eingesetzte Vermögen als
Privatvermögen. Wertsteigerungen des Privatvermögens bleiben grundsätzlich auch
im
Fall
einer
Veräußerung
einkommensteuerfrei,
wenn nicht
das
Einkommensteuergesetz
die
Besteuerung
„privater“ Veräußerungsgewinne
besonders vorsieht. Nach der bis zum 31. Dezember 1998 geltenden Rechtslage war
das für die Gewinne aus der Veräußerung von im Privatvermögen gehaltenen
Anteilen an einer Kapitalgesellschaft der Fall, die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 und 4 EStG
a.F. als Einkünfte aus Gewerbebetrieb der Einkommensteuer unterlagen, wenn der
Steuerpflichtige innerhalb der letzten fünf Jahre vor der Veräußerung - das heißt zu
irgendeinem Zeitpunkt innerhalb dieses Zeitraums - zu mehr als 25 % beteiligt war.
2. Diese Regelung geht auf das Einkommensteuergesetz vom 10. August 1925
(RGBl I S. 189) zurück, nach dessen § 30 Abs. 3 die Veräußerung von Anteilen an
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einer „Erwerbsgesellschaft“ der Veräußerung eines Gewerbebetriebs oder
Teilbetriebs gleichgestellt war und deshalb der Einkommensteuer unterlag, wenn der
Veräußernde innerhalb der letzten zehn Jahre zu mehr als 25 % beteiligt war. § 17
Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes vom 16. Oktober 1934 (RGBl I S. 1005)
übernahm diese Regelung, verkürzte allerdings den maßgeblichen Zeitraum auf die
letzten fünf Jahre vor der Veräußerung. Diese Fassung blieb trotz verschiedener
Reforminitiativen bis Ende des Jahres 1998 im Kern unverändert. Der Vorschlag der
Steuerreformkommission 1971, die Beteiligungsgrenze auf 10 % zu senken (vgl.
Bundesministerium der Finanzen , Gutachten der Steuerreformkommission
1 9 7 1 , S. 88), mündete zwar in einen entsprechenden Gesetzentwurf der
Bundesregierung (vgl. BTDrucks 7/1470, S. 33, 264), wurde aber nicht Gesetz. Der
Bundesrat sprach sich im Jahr 1993 ebenfalls erfolglos für eine Beteiligungsgrenze
von 10 % aus (vgl. BTDrucks 12/5940, S. 4, 28). Zuletzt sahen die von einer
Regierungskommission im Jahr 1997 unterbreiteten „Petersberger Steuervorschläge“
eine zehnprozentige Beteiligungsgrenze vor (vgl. NJW 1997, Beilage zu Heft 13, S. 5
<8>). Der darauf zurückgehende Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1999 (vgl.
BTDrucks 13/7480, S. 38, 199) fand jedoch nicht die Zustimmung des Bundesrates
(vgl. BTDrucks 13/8177).
3. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998 wurde die Beteiligungsgrenze durch
das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 schließlich doch auf 10 % gesenkt.
a) Der zugrundeliegende Gesetzentwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN datiert vom 9. November 1998. In der Begründung heißt es, durch die
Herabsetzung der Beteiligungsgrenze solle die Besteuerungsgrundlage verbreitert
werden. Außerdem diene die Neuregelung der Missbrauchsbegrenzung. Der
Anwendungsbereich des § 50c Abs. 11 EStG, der vielfach deshalb Kritik erfahre, weil
er die steuerlichen Folgen beim Erwerber und nicht beim Veräußerer der Beteiligung
ansetze,
werde zurückgedrängt. Es bestünden keine verfassungsrechtlichen
Bedenken, dass auch solche Wertzuwächse der Besteuerung unterlägen, die bis zur
Änderung nicht steuerverhaftet gewesen seien. Deren Ausklammerung durch
gesonderte Feststellung des Werts der bereits bestehenden Beteiligungen gehe mit
einem unzumutbaren Aufwand einher. Das Feststellungsverfahren sei sehr
streitanfällig und würde zu langwierigen Rechtsbehelfsverfahren führen (vgl.
BTDrucks 14/23, S. 178).
b) Mit Beschluss vom 13. November 1998 überwies der Deutsche Bundestag den
Gesetzentwurf
an
den Finanzausschuss, der am 2. März 1999 seine
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Beschlussempfehlung fasste (vgl. BTDrucks 14/442). Im dazugehörigen Bericht wird
die Herabsetzung der Beteiligungsgrenze als Teil eines Katalogs von Maßnahmen
z u r Gegenfinanzierung
der
im
Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002
vorgesehenen Steuererleichterungen aufgeführt (vgl. BTDrucks 14/443, S. 2 ff., S. 4,
linke Spalte, letzter Spiegelstrich). Der Bundestag fasste in der Sitzung am 4. März
1999 in namentlicher Abstimmung den endgültigen Gesetzesbeschluss (vgl. BT-
Plenarprotokoll 14/25, S. 1956 ff.). Der Bundesrat stimmte in seiner Sitzung am 19.
März 1999 zu (vgl. BRDrucks 129/99). Nach Ausfertigung durch den
Bundespräsidenten am 24. März 1999 wurde das Steuerentlastungsgesetz
1999/2000/ 2002 am 31. März 1999 verkündet (BGBl I S. 402).
c) In der für das Streitjahr maßgeblichen Fassung lauten die einschlägigen
Vorschriften des Einkommensteuergesetzes:
§ 2
Umfang der Besteuerung, Begriffsbestimmungen
(1) Der Einkommensteuer unterliegen
(...)
2. Einkünfte aus Gewerbebetrieb,
(...)
die der Steuerpflichtige während seiner
unbeschränkten
Einkommensteuerpflicht
oder als inländische Einkünfte während seiner beschränkten
Einkommensteuerpflicht erzielt. (...)
(...)
§ 17
Veräußerung von Anteilen an Kapitalgesellschaften
(1) Zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehört auch der
Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer
Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf
Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war. (...)
Anteile an einer Kapitalgesellschaft sind Aktien, Anteile an einer
Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Kuxe, Genussscheine oder
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ähnliche
Beteiligungen
und Anwartschaften auf solche
Beteiligungen. Eine wesentliche Beteiligung ist gegeben, wenn der
Veräußerer zu mindestens 10 vom Hundert unmittelbar oder
mittelbar beteiligt war. (...)
(2) Veräußerungsgewinn im Sinne des Absatzes 1 ist der Betrag, um
den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten
die Anschaffungskosten übersteigt. (...)
(...)
§ 52
Anwendungsvorschriften
(1) Diese Fassung des Gesetzes ist, soweit in den folgenden
Absätzen nichts anderes bestimmt ist, erstmals für den
Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden. (...)
(...)
II.
1. a) Die Beschwerdeführer in dem Verfahren 2 BvR 748/05, zusammen veranlagte
Eheleute, hielten Beteiligungen an einer GmbH in Höhe von insgesamt 70 %, wobei
auf den Beschwerdeführer 60 % und auf die Beschwerdeführerin 10 % entfielen. Mit
Vertrag vom 29. Dezember 1998 übertrug die Beschwerdeführerin mit sofortiger
Wirkung einen Teil zu einem Preis von 600 DM auf den Beschwerdeführer, wodurch
sich ihre Beteiligung auf 9,92 % verringerte, die sie mit Vertrag vom 28. Juni 1999 zu
einem Preis von 992.000 DM an einen Dritten veräußerte. Aufgrund der
Rechtsänderungen durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 ging das
Finanzamt von einer Beteiligungsgrenze von mindestens 10 % innerhalb der fünf
Jahre vor der Veräußerung aus und rechnete den Gewinn in Höhe von 916.356 DM
dem zu versteuernden Einkommen zu.
Nach erfolgloser Durchführung des Einspruchsverfahrens änderte das Finanzgericht
Baden-Württemberg den Einkommensteuerbescheid mit Urteil vom 19. März 2002 - 1
K 63/00 - (EFG 2002, S. 701 ff.) insoweit ab. Die Neufassung der Beteiligungsgrenze
durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 müsse, damit sie nicht zu einer
unzulässigen Rückwirkung führe, verfassungskonform so ausgelegt werden, dass sie
erst ab dem Jahr 1999 gelte und für die davorliegenden Jahre die alte
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Beteiligungsgrenze maßgeblich sei. Danach habe die Beschwerdeführerin die
Besteuerung durch die Verringerung ihres Anteils von 10 % auf 9,92 % noch vor dem
Jahreswechsel vermeiden können. Auf die Revision des Finanzamts hob der
Bundesfinanzhof diese Entscheidung mit dem mit der Verfassungsbeschwerde
angegriffenen Urteil vom 1. März 2005 - VIII R 25/02 - auf (BStBl II S. 436 ff. = BFHE
209, 275 ff.).
b) Der Beschwerdeführer in dem Verfahren 2 BvR 753/05 war mit Anteilen zu
20.000 DM an einer GmbH beteiligt, deren Stammkapital sich auf 150.000 DM belief.
Mit Vertrag vom 11. März 1999 veräußerte er einen Teil seiner Beteiligung zu einem
Preis von 1.510.000 DM. Den Gewinn rechnete das Finanzamt dem zu versteuernden
Einkommen zu. Die dagegen erhobene Klage wies das Finanzgericht Nürnberg mit
Urteil vom 15. September 2003 - IV 229/2002 - ab (EFG 2004, S. 105 ff.). Soweit die
geänderte Beteiligungsgrenze auch für solche Beteiligungen gelte, die bereits bei der
Rechtsänderung bestanden hätten, sei dies verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden. Die dagegen gerichtete Revision des Beschwerdeführers wies der
Bundesfinanzhof mit Urteil vom 1. März 2005 - VIII R 92/03 - zurück (BStBl II S. 398 ff.
= BFHE 209, 285 ff.).
c) Der Beschwerdeführer in dem Verfahren 2 BvR 1738/05 hielt seit dem Jahr 1993
einen GmbH-Anteil von 24,02 % und veräußerte diese Beteiligung mit Vertrag vom
23. Juli 2001 für 100.000 DM. Den Gewinn rechnete das Finanzamt dem zu
versteuernden Einkommen zu. Die dagegen erhobene Klage wies das
Niedersächsische Finanzgericht mit Urteil vom 14. Februar 2005 - 3 K 679/04 - ab
(EFG 2005, S. 1041 ff.). Zwar müsse § 17 Abs. 1 EStG in verfassungskonformer
Weise so verstanden werden, dass es bei der Betrachtung des zurückliegenden
Zeitraums auf die im jeweiligen Veranlagungszeitraum gültige Beteiligungsgrenze
ankomme. Im Fall des Beschwerdeführers ändere dies aber nichts, weil dieser die ab
dem Jahr 1999 gültige Beteiligungsgrenze von 10 % überschritten habe. Dass
aufgrund dessen der gesamte Veräußerungsgewinn der Besteuerung unterliege, sei
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die dagegen gerichtete Revision wies
d e r Bundesfinanzhof mit Urteil vom 10. August 2005 - VIII R 22/05 - zurück
(BFH/NV 2005, S. 2188).
2. a) Nach Auffassung des VIII. Senats des Bundesfinanzhofs ist für eine Auslegung,
nach der es für die Steuerbarkeit auf die im jeweiligen Veranlagungszeitraum gültige
Beteiligungsgrenze ankommt, kein Raum. Nach Wortlaut, Systematik und
Entstehungsgeschichte könne § 17 Abs. 1 EStG in der Fassung des
30
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 nur so verstanden werden, dass der
Gewinn der Besteuerung unterliege, wenn der Steuerpflichtige innerhalb der letzten
fünf Jahre vor der Veräußerung zu mindestens 10 % beteiligt gewesen sei. Für ein
anderes Verständnis bestehe auch keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit.
Soweit die geänderte Beteiligungsgrenze den Zeitraum vor der Rechtsänderung
tatbestandlich
einbeziehe,
überwiege
das Änderungsinteresse
das
Vertrauensschutzinteresse der Betroffenen. Die Erwartung des Einzelnen, das
geltende Steuerrecht werde fortbestehen, sei verfassungsrechtlich nicht geschützt,
was grundsätzlich auch dann gelte, wenn er auf der Grundlage der bisher geltenden
steuerlichen
Lage disponiert habe. Der Gesetzgeber sei durch den
verfassungsrechtlichen
Vertrauensschutz
nicht
gehindert gewesen,
die
Rahmenbedingungen für die Erfassung von Veräußerungsgewinnen im Sinne des
§ 17 EStG zum Nachteil der betroffenen Steuerpflichtigen zu ändern. Ausweislich der
Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber die Besteuerungsgrundlage für
Veräußerungsgewinne verbreitern und Missbräuche eindämmen wollen. Das seien
sachliche Gründe, die eine belastende Rechtsänderung rechtfertigten.
Zwar habe der IX. Senat des Bundesfinanzhofs in seinem Vorlagebeschluss an das
Bundesverfassungsgericht vom 16. Dezember 2003 - IX R 46/02 - (BStBl II 2004, S.
284 ff. = BFHE 204, 228 ff.) die rückwirkende Verlängerung der zur Besteuerung
führenden Veräußerungsfrist für Grundstücke von zwei Jahren auf zehn Jahre durch
§ 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 als verfassungswidrig beurteilt. Diese Einschätzung beruhe aber auf
Gründen, die auf die Absenkung der Beteiligungsgrenze durch das
Steuerentlastungsgesetz nicht übertragbar seien. Wer eine Beteiligung halte, die
nach Maßgabe alten Rechts unterhalb der Wesentlichkeitsgrenze gelegen habe, sei
weniger schutzwürdig als derjenige, der über ein Grundstück verfüge, bei dem die
alte, zweijährige Veräußerungsfrist bereits abgelaufen sei. Während die
eingetretenen Wertzuwächse im letzteren Fall definitiv steuerfrei seien, bleibe der
Wertzuwachs
von
Beteiligungen
an
Kapitalgesellschaften
stets „latent
steuerverstrickt“. Schütte beispielsweise die Gesellschaft Gewinne aus, unterlägen
diese in jedem Fall der Einkommensteuer. Dasselbe gelte, wenn die Gesellschaft
aufgelöst, ihre Unternehmen unter Aufdeckung der stillen Reserven veräußert und der
Liquidationsüberschuss an die Gesellschafter verteilt würden. Auf diese Umstände
habe auch ein im Sinne des § 17 Abs. 1 EStG „wesentlich“ Beteiligter je nach Größe
der Beteiligung keinen Einfluss. Ebenso sei denkbar, dass seine Beteiligung, ohne
dass er dies verhindern könne, „in die Wesentlichkeit hineinwachse“ mit der Folge,
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32
dass der gesamte Wertzuwachs der Besteuerung unterliege. Das sei etwa der Fall,
wenn die Kapitalgesellschaft eigene Anteile erwerbe und hierdurch die Beteiligung
des Steuerpflichtigen die Wesentlichkeitsgrenze überschreite, weil der Nennwert der
eigenen Anteile der Kapitalgesellschaft vom Grund- oder Stammkapital abzuziehen
sei. Vergleichbar sei die Lage, wenn der Steuerpflichtige an der Kapitalgesellschaft
mittelbar über eine andere Kapitalgesellschaft beteiligt sei und diese weitere Anteile
erwerbe, denn auch dadurch könne eine Beteiligung ohne Zutun des
Steuerpflichtigen zu einer wesentlichen werden.
Schließlich sei das Vertrauen in den unveränderten Fortbestand des § 17 Abs. 1
EStG a.F. schon durch die Einfügung des Absatz 11 in § 50c EStG durch das Gesetz
zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform vom 29. Oktober 1997 (BGBl I S.
2590) abgeschwächt gewesen. Damit habe der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, die
Einmalbesteuerung ausgeschütteter Gewinne inländischer Kapitalgesellschaften zu
gewährleisten. Außerdem habe er verhindern wollen, dass durch die Veräußerung
n i c h t wesentlicher Beteiligungen Ausschüttungen in nicht steuerbare
Veräußerungsgewinne umgewandelt würden. § 50c Abs. 11 EStG sei
entsprechenden Gestaltungen entgegengetreten, indem er die sogenannte
ausschüttungsbedingte Teilwertabschreibung untersagt und auf diese Weise die
Besteuerung der Erträge sichergestellt habe. Das sei als systemwidrig kritisiert
worden, weil die Ausschüttung an sich beim Veräußerer der Beteiligung angefallen
wäre. Ausweislich der Gesetzesbegründung habe der Gesetzgeber dem zumindest
teilweise durch die Absenkung der Beteiligungsgrenze in § 17 Abs. 1 EStG
Rechnung tragen wollen, wodurch er den Anwendungsbereich des § 50c Abs. 11
EStG zurückgedrängt habe.
b) Im Übrigen ist die zehnprozentige Beteiligungsgrenze nach Auffassung des VIII.
Senats des Bundesfinanzhofs als solche verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Es stehe mit dem allgemeinen Gleichheitssatz in Einklang, dass Gewinne aus der
privaten Veräußerung einer Beteiligung nur dann der Besteuerung unterlägen, wenn
diese mehr als 10 % betrage. Für die alte Beteiligungsgrenze von 25 % habe das
Bundesverfassungsgericht dies in BVerfGE 27, 111 ff. wegen der „Nähe“ einer
s o l c h e n Beteiligung zur Geschäftsführung der Gesellschaft und der
mitunternehmerähnlichen Stellung des Anteilseigners bereits ausgesprochen. Ob
davon auch bei einer Beteiligung von 10 % die Rede sein könne, könne dahinstehen,
denn
der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht die höhere
Beteiligungsgrenze für verfassungsgemäß befunden habe, könne nicht so verstanden
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werden, dass dem Gesetzgeber jede andere Regelung und damit eine Neugestaltung
des
steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes verwehrt seien. Bezüglich der
steuerlichen Erfassung von Wertsteigerungen im Privatvermögen habe er durch das
Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 - berücksichtige man die darin ebenfalls
vorgesehene Verlängerung der Veräußerungsfrist für Grundstücke -
einen Paradigmenwechsel zugunsten einer breiteren steuerlichen Erfassung von
Wertsteigerungen im Privatvermögen eingeleitet, die er durch die weitere Absenkung
der Beteiligungsgrenze auf 1 % durch das Steuersenkungsgesetz vom 23. Oktober
2000 (BGBl I S. 1433) fortgeführt habe. Wenn der Gesetzgeber dadurch die durch die
Erzielung von Veräußerungsgewinnen gesteigerte Leistungsfähigkeit verstärkt zum
Gegenstand
der
Besteuerung mache, liege dies im Rahmen seines
Gestaltungsspielraums.
III.
1. Die Beschwerdeführer halten die verfassungsrechtlichen Grundsätze des
Vertrauensschutzes
für verletzt.
Die
Erstreckung
der
abgesenkten
Wesentlichkeitsgrenze auf bereits abgelaufene Veranlagungszeiträume bewirke eine
unzulässige „echte“ Rückwirkung, soweit sie auch bereits angesammelte, nicht
steuerverstrickte stille Reserven und damit Sachverhalte erfasse, die unter
Berücksichtigung
des einkommensteuerrechtlichen Periodizitätsprinzips bereits
abgeschlossen seien. Nichts anderes ergebe sich, wenn man die für „unechte“
Rückwirkungen
geltenden
Maßstäbe
anlege,
denn das Vertrauen der
Steuerpflichtigen sei aufgrund der jahrzehntelangen Geltung der vorherigen
Beteiligungsgrenze besonders schutzwürdig und überwiege das Änderungsinteresse
des Gesetzgebers. Die rückwirkende Absenkung der Beteiligungsgrenze könne nicht
anders beurteilt werden als die rückwirkende Verlängerung der Veräußerungsfrist für
Grundstücke, die der IX. Senat des Bundesfinanzhofs zutreffend als
verfassungswidrig gekennzeichnet habe. In beiden Fällen handele es sich um
grundsätzlich steuerfreie Wertzuwächse im Privatvermögen, die nachträglich der
Besteuerung unterworfen würden.
Das Gegenargument des VIII. Senats, im Gegensatz zu Wertzuwächsen bei
Grundstücken nach Ablauf der Zweijahresfrist seien Wertzuwächse bei Beteiligungen
„latent steuerverhaftet“, überzeuge nicht. Zwar könne der Steuerpflichtige, wie der
Senat anführe, unter Umständen nicht verhindern, dass Wertzuwächse an ihn
ausgeschüttet oder spätestens im Fall einer Liquidation der Gesellschaft als Einkünfte
aus Kapitalvermögen steuerpflichtig würden. Darin liege aber eine lediglich teilweise
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Realisation stiller Reserven, denn der Firmenwert als solcher gehe mit der
Zerschlagung einer Gesellschaft unter und könne auch nicht an den Gesellschafter
ausgeschüttet werden. Deshalb sei die Liquidation bei werthaltigen Unternehmen,
und um diese gehe es gerade, ein lediglich theoretischer Fall, denn nur
unverkäufliche Unternehmen würden liquidiert. Die Steuerbarkeit von Dividenden sei
ebenfalls keine Besonderheit, denn auch der Grundstückseigentümer habe Erträge
aus dem Grundstück wie insbesondere Miet- oder Pachteinnahmen laufend zu
versteuern. Zurückzuweisen sei schließlich das Argument, in anderen Fällen könne
eine Beteiligung ebenfalls ohne Zutun des Steuerpflichtigen in die Wesentlichkeit
„hineinwachsen“. Gegenstand des Vertrauens sei eine gesetzliche Regelung. Dies
sei nicht vergleichbar mit dem allgemeinen Risiko, dass sich der Beteiligungsumfang
ändere. Im Übrigen kämen die vom VIII. Senat beispielhaft angeführten
Konstellationen in der Rechtswirklichkeit eher selten vor, und wenn, dann wirke der
Steuerpflichtige am Gesellschafterbeschluss über den Erwerb eigener Anteile durch
die Gesellschaft mit und sei aufgrund dessen „vorgewarnt“, so dass er seine
Beteiligung rechtzeitig abstoßen könne.
Der ehemalige § 50c Abs. 11 EStG sei nicht geeignet, das Vertrauen der
Anteilseigner als weniger schutzwürdig erscheinen zu lassen, weil er die alte
Wesentlichkeitsgrenze gerade unverändert gelassen und nicht den Veräußerer,
sondern den Erwerber der Beteiligung besteuert habe. Auch unter dem Gesichtspunkt
der Praktikabilität des Vollzugs sei es nicht gerechtfertigt gewesen, von einer
Übergangsregelung abzusehen, die den bereits akkumulierten steuerfreien
Wertzuwachs ausklammert. Schließlich sei der Gesetzgeber beispielsweise bei der
Neuregelung der Bodengewinnbesteuerung im Jahr 1971 entsprechend verfahren.
2. Der Beschwerdeführer in dem Verfahren 2 BvR 753/05 hält überdies die
zehnprozentige Beteiligungsgrenze als solche für gleichheitswidrig. Sie weiche von
dem
in
der grundsätzlichen
Unterscheidung
von
Gewinn-
und
Überschusseinkunftsarten angelegten Prinzip ab, dass Wertsteigerungen im
Privatvermögen nicht der Besteuerung unterlägen. Für die alte Beteiligungsgrenze
von 25 % habe das Bundesverfassungsgericht dies in BVerfGE 27, 111 ff. akzeptiert,
jedoch tragend auf die Nähe einer solchen Beteiligung zur Mitunternehmerschaft
abgestellt. Davon könne aber bei einer Beteiligung von nur 10 % nicht mehr die Rede
sein. Ebenso wenig könnten die durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002
vorgenommenen Modifikationen zugunsten einer weitergehenden steuerlichen
Erfassung von Wertzuwächsen im Privatvermögen mit dem VIII. Senat des
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Bundesfinanzhofs als „Paradigmenwechsel“ interpretiert werden. Eine „neue
Sachgesetzlichkeit“ habe der Gesetzgeber nicht geschaffen, denn die grundsätzliche
Unterscheidung von Gewinn- und Überschusseinkünften sei unverändert geblieben.
Die weitergehende Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze auf 1 % durch das
Steuersenkungsgesetz im Jahr 2000 sei im Zusammenhang mit der gleichzeitigen
Einführung des „Halbeinkünfteverfahrens“ zu sehen und müsse schon deshalb außer
Betracht bleiben, weil ein späteres Gesetz ein früheres nicht rechtfertigen könne.
Davon abgesehen habe auch darin keine grundsätzliche Abkehr vom „Dualismus der
Einkunftsarten“ gelegen.
Schließlich erweise sich auch der Gesichtspunkt der Missbrauchsbekämpfung als
nicht durchgreifend, denn es könne nicht davon ausgegangen werden, dass jeder,
der eine Beteiligung zwischen 10 und 25 % an einer Kapitalgesellschaft halte und
diese veräußere, generell missbräuchlich handele. Wenn der Gesetzgeber
Missbrauch bekämpfen wolle, müsse er diesen als solchen angehen, könne aber
nicht pauschal eine Beteiligungsgrenze absenken.
IV.
Zu den Verfassungsbeschwerden haben das Bundesministerium der Finanzen
namens der Bundesregierung sowie der IX. und XI. Senat des Bundesfinanzhofs
Stellung genommen.
1. Das Bundesministerium der Finanzen ist der Auffassung, der Umstand, dass das
Bundesverfassungsgericht die Beteiligungsgrenze von 25 % für verfassungsgemäß
befunden habe, könne nicht so verstanden werden, dass dem Gesetzgeber jegliche
Neugestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestandes verwehrt sei. Die
Ähnlichkeit zum Mitunternehmer sei auch bei einer Beteiligungsgrenze von 10 %
noch gegeben. Im Übrigen rechtfertige sich die Neuregelung aus dem Erfordernis der
Gegenfinanzierung
der durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002
gewährten Steuererleichterungen und aus dem Ziel der Missbrauchsbekämpfung. Die
Grundsituation, dass sich der jeweilige Gesetzgeber einerseits unter politischem
Handlungszwang sehe, andererseits aber für steuersystematische Idealvorstellungen
mehrheitsfähige Ergebnisse nur selten erreichbar seien, dürfe den Gesetzgeber nicht
lähmen.
Soweit sich die abgesenkte Beteiligungsgrenze tatbestandlich auch auf den
zurückliegenden
Zeitraum
beziehe, sei dies mit dem VIII. Senat des
Bundesfinanzhofs verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Darin liege kein Zugriff
41
42
auf einen bereits abgeschlossenen Sachverhalt, denn nach der tatbestandlichen
Struktur des § 17 Abs. 1 EStG sei dieser erst mit der Veräußerung abgeschlossen.
Die bloße Erwartung des Steuerpflichtigen, das geltende Steuerrecht werde
fortbestehen, sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
verfassungsrechtlich nicht geschützt. Der Inhaber einer nach bisherigem Recht
unwesentlichen Beteiligung habe zu keinem Zeitpunkt darauf vertrauen können, den
Wertzuwachs im Fall der Veräußerung steuerfrei zu realisieren, denn dieser bleibe
stets „latent steuerverhaftet“, wie sich insbesondere aus der vom VIII. Senat
angeführten Rechtsprechung zum „Hineinwachsen in die Wesentlichkeit“ ergebe. Im
Übrigen sei dieser zutreffend davon ausgegangen, dass das Vertrauen der
Steuerpflichtigen schon aufgrund der Einführung des § 50c Abs. 11 EStG weniger
schutzwürdig gewesen sei. Vor diesem Hintergrund seien die gesetzgeberischen
Ziele der Verbreiterung der Bemessungsgrundlage und der Missbrauchsbekämpfung
hinreichend tragfähig für die angegriffene Rechtsänderung.
2. Nach Auffassung des IX. und des XI. Senats des Bundesfinanzhofs sind die
rückwirkende Verlängerung der Veräußerungsfrist für Grundstücke und die
rückwirkende Absenkung der Beteiligungsgrenze als im Wesentlichen gleich
gelagerte Konstellationen beide als verfassungsrechtlich unzulässig zu beurteilen. Im
Fall des § 17 EStG habe der Steuerpflichtige, so der IX. Senat, beim Erwerb einer
nach altem Recht unwesentlichen Beteiligung von der Möglichkeit einer jederzeit
nicht steuerbaren Veräußerung ausgehen können. Ob der vom VIII. Senat angeführte
Ausnahmefall der Liquidation von Unternehmen und die Tatsache, dass die
Beteiligungsgrenze bereits mehrfach Gegenstand von Änderungsinitiativen gewesen
sei, es rechtfertigten, den Vertrauensschutz der Steuerpflichtigen anders als bei
Grundstückserwerbern im Sinne des § 23 EStG zu gewichten, sei zweifelhaft. Der XI.
Senat befürwortet aufgrund dessen eine verfassungskonforme Auslegung des § 17
EStG, nach der es auf die im jeweiligen Veranlagungszeitraum gültige
Beteiligungsgrenze ankommt.
B.
§ 17 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Satz 1 Einkommensteuergesetz in
der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 ist wegen Verstoßes
gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes teilweise
verfassungswidrig (I.). Die zehnprozentige Beteiligungsgrenze als solche ist jedoch
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (II.).
43
44
45
46
I.
Die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes sind in dem aus der
Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang verletzt.
1. a) Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen
Verhaltens
nachträglich belastend ändert, bedarf dies einer besonderen
Rechtfertigung vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des
Grundgesetzes, unter deren Schutz Sachverhalte „ins Werk gesetzt“ worden sind (vgl.
BVerfGE 45, 142 <167 f.>; 63, 343 <356 f.>; 72, 200 <242>; 97, 67 <78 f.>). Die
Grundrechte wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im Zusammenwirken die
Verlässlichkeit der Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die
Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und damit als eine
Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen in seiner
Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an
ihn betreffende Umstände ohne Weiteres im Nachhinein belastendere Rechtsfolgen
knüpfen, als sie zum Zeitpunkt seines rechtserheblichen Verhaltens galten (vgl.
BVerfGE 30, 272 <285>; 63, 343 <357>; 72, 200 <257 f.>; 97, 67 <78>; 105, 17 <37>;
114, 258 <300 f.>).
b) Eine Rechtsnorm entfaltet „echte“ Rückwirkung, wenn ihre Rechtsfolge mit
belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits
abgeschlossene Tatbestände gelten soll („Rückbewirkung von Rechtsfolgen“). Das
ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Erst mit der Verkündung, das heißt,
mit der Ausgabe des ersten Stücks des Verkündungsblattes, ist eine Norm rechtlich
existent. Bis zu diesem Zeitpunkt, zumindest aber bis zum endgültigen
Gesetzesbeschluss (vgl. BVerfGE 97, 67 <79> m.w.N.), muss der von einem Gesetz
Betroffene grundsätzlich darauf vertrauen können, dass seine auf geltendes Recht
gegründete Rechtsposition nicht durch eine zeitlich rückwirkende Änderung der
gesetzlichen Rechtsfolgenanordnung nachteilig verändert wird (vgl. BVerfGE 63, 343
<353 f.>; 67, 1 <15>; 72, 200 <241 f.>; 97, 67 <78 f.>; 114, 258 <300>).
c) Soweit belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten,
tatbestandlich aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst
werden („tatbestandliche Rückanknüpfung“), liegt eine „unechte“ Rückwirkung vor
(vgl. BVerfGE 63, 343 <356>; 72, 200 <242>; 97, 67 <79>; 105, 17 <37 f.>). Eine
solche unechte Rückwirkung ist nicht grundsätzlich unzulässig, denn die Gewährung
vollständigen Schutzes zu Gunsten des Fortbestehens der bisherigen Rechtslage
47
48
würde den dem Gemeinwohl verpflichteten Gesetzgeber in wichtigen Bereichen
lähmen und den Konflikt zwischen der Verlässlichkeit der Rechtsordnung und der
Notwendigkeit ihrer Änderung im Hinblick auf einen Wandel der Lebensverhältnisse
in nicht mehr vertretbarer Weise zu Lasten der Anpassungsfähigkeit der
Rechtsordnung lösen (vgl. BVerfGE 63, 343 <357>; 105, 17 <40>; 114, 258 <301>).
Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz geht insbesondere nicht so weit, den
Staatsbürger vor jeder Enttäuschung zu bewahren (vgl. BVerfGE 63, 312 <331>; 67, 1
<15>; 71, 255 <272>; 76, 256 <349 f.>). Soweit nicht besondere Momente der
Schutzwürdigkeit hinzutreten, genießt die bloß allgemeine Erwartung, das geltende
Recht
werde
zukünftig
unverändert fortbestehen,
keinen
besonderen
verfassungsrechtlichen Schutz (vgl. BVerfGE 38, 61 <83>; 68, 193 <222>; 105, 17
<40>; 109, 133 <180 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 8. Dezember
2009 - 2 BvR 758/07 -, NVwZ 2010, S. 634 <640>).
Der Gesetzgeber muss aber, soweit er für künftige Rechtsfolgen an zurückliegende
Sachverhalte anknüpft, dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz in
hinreichendem Maß Rechnung tragen. Die Interessen der Allgemeinheit, die mit der
Regelung verfolgt werden, und das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der
Rechtslage sind abzuwägen (vgl. BVerfGE 30, 392 <404>; 50, 386 <395>; 67, 1 <15>;
75, 246 <280>; 105, 17 <37>; 114, 258 <300>). Der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit muss gewahrt sein (vgl. BVerfGE 72, 200 <242 f.>; 95, 64 <86>;
101, 239 <263>; 116, 96 <132>; 122, 374 <394>; 123, 186 <257>). Eine unechte
Rückwirkung ist mit den Grundsätzen grundrechtlichen und rechtsstaatlichen
Vertrauensschutzes daher nur vereinbar, wenn sie zur Förderung des
Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich ist und wenn bei einer Gesamtabwägung
zwischen dem Gewicht des enttäuschten Vertrauens und dem Gewicht und der
Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden Gründe die Grenze der
Zumutbarkeit gewahrt bleibt.
d) Die maßgebliche Rechtsfolge steuerrechtlicher Normen ist das Entstehen der
Steuerschuld. Im Sachbereich des Steuerrechts liegt eine echte Rückwirkung
(Rückbewirkung von Rechtsfolgen) daher nur vor, wenn der Gesetzgeber eine bereits
entstandene
Steuerschuld nachträglich abändert. Für den Bereich des
Einkommensteuerrechts bedeutet dies, dass die Änderung von Normen mit Wirkung
für den laufenden Veranlagungszeitraum der Kategorie der unechten Rückwirkung
zuzuordnen ist; denn nach § 38 AO in Verbindung mit § 36 Abs. 1 EStG entsteht die
Einkommensteuer erst mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums, das heißt nach
49
50
51
§ 25 Abs. 1 EStG des Kalenderjahres (vgl. BVerfGE 72, 200 <252 f.>; 97, 67 <80>;
vgl. auch bereits BVerfGE 13, 261 <263 f., 272>; 13, 274 <277 f.>; 19, 187 <195>; 30,
272 <285>).
e) An diesen Grundsätzen ist auch angesichts der im Schrifttum geäußerten Kritik
festzuhalten. Wie im Zusammenhang mit den Verfahren betreffend die rückwirkende
Verlängerung der Veräußerungsfrist für Grundstücke ausgeführt, findet die Kategorie
der echten Rückwirkung - verstanden als zeitliche Rückbewirkung von Rechtsfolgen
a u f abgeschlossene Tatbestände - ihre Rechtfertigung darin, dass mit ihr eine
Fallgruppe gekennzeichnet ist, in der der Vertrauensschutz regelmäßig Vorrang hat,
weil der in der Vergangenheit liegende Sachverhalt mit dem Eintritt der Rechtsfolge
kraft gesetzlicher Anordnung einen Grad an Abgeschlossenheit erreicht hat, über den
sich der Gesetzgeber vorbehaltlich besonders schwerwiegender Gründe nicht mehr
hinwegsetzen darf. Das ändert aber nichts daran, dass die belastenden Wirkungen
einer Enttäuschung schutzwürdigen Vertrauens auch im Übrigen stets einer
hinreichenden Begründung nach den Maßstäben der Verhältnismäßigkeit bedürfen.
Das gilt auch, wenn der Gesetzgeber das Einkommensteuerrecht während des
laufenden Veranlagungszeitraums umgestaltet und die Rechtsänderungen auf
dessen Beginn bezieht. Auch hier muss der Normadressat eine Enttäuschung seines
Vertrauens in die alte Rechtslage nur hinnehmen, soweit dies aufgrund besonderer,
gerade die Rückanknüpfung rechtfertigender öffentlicher Interessen unter Wahrung
der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Juli 2010 - 2
BvL 14/02, 2/04 und 13/05 -, unter C. II. 1. e> mit Nachweisen auch zur Kritik).
2. Die Absenkung der Beteiligungsgrenze von mehr als 25 % auf mindestens 10 %
durch § 17 Abs. 1 Satz 4 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 bewirkt nach diesen Grundsätzen keine echte Rückwirkung, weil die
Neuregelung nach der Übergangsvorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG im Hinblick
auf das Entstehen der Steuerschuld erstmalig für den bei Verkündung noch laufenden
Veranlagungszeitraum mit dessen Ablauf Wirkung entfaltet. Sie geht aber mit einer
unechten
Rückwirkung
einher,
soweit
sie
sich
tatbestandlich auf
Beteiligungsverhältnisse
bezieht,
die
bereits
vor
der Verkündung des
Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 am 31. März 1999 bestanden haben.
Das ist verfassungsrechtlich nur teilweise gerechtfertigt.
a) Soweit aufgrund der geänderten Beteiligungsgrenze Wertsteigerungen
steuererheblich werden, die erst nach der Verkündung eintreten, begegnet die darin
liegende gesetzgeberische Neubewertung der „Wesentlichkeit“ einer Beteiligung im
52
53
Sinne des § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes
kei nen verfassungsrechtlichen Bedenken. Der Steuerpflichtige, der eine nach
Maßgabe alten Rechts als „unwesentlich“ angesehene Beteiligung erworben hat, hat
keinen Anspruch darauf, dass der Gesetzgeber diese Bewertung für alle Zeiten
unverändert lässt. Zwar kann die Entscheidung für den Erwerb von Anteilen im
einzelnen Fall maßgeblich von der Erwartung bestimmt sein, einen etwaigen
Veräußerungsgewinn steuerfrei vereinnahmen zu können. Dies geht jedoch über die
allgemeine Erwartung, das geltende Recht werde unverändert bleiben, nicht hinaus.
Es fehlen besondere Momente der Schutzbedürftigkeit, deretwegen der Gesetzgeber
verpflichtet sein könnte, bei der Bestimmung des zukünftigen Steueraufkommens auf
Erwartungen der Steuerpflichtigen bei zurückliegenden Dispositionen Rücksicht zu
nehmen.
Die bloße Möglichkeit, Gewinne später steuerfrei vereinnahmen zu können,
begründet keine (vertrauens-)rechtlich geschützte Position. Mit Wertsteigerungen
kann im Zeitpunkt des Erwerbs nicht sicher gerechnet werden, so dass auch die
Enttäuschung der Hoffnung auf künftige steuerfreie Vermögenszuwächse nicht als
Beeinträchtigung greifbarer Vermögenswerte zu werten ist. Hinzu kommt, dass
angesichts langjähriger Auseinandersetzungen und verschiedener gescheiterter
Reformversuche zur Erweiterung der Besteuerung privater Veräußerungsgewinne mit
der Möglichkeit einer Realisierung derartiger Ziele seit langem zu rechnen war.
Soweit durch die Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze das beim Erwerb der
Beteiligung betätigte Vertrauen enttäuscht wird, reichen deshalb bereits die
allgemeinen Ziele der Verbreiterung der Besteuerungsgrundlage (vgl. BTDrucks
14/23, S. 178) und der Gegenfinanzierung der durch das Steuerentlastungsgesetz
bewirkten Steuerausfälle (vgl. BTDrucks 14/443, S. 2 ff., S. 4, linke Spalte, letzter
Spiegelstrich) zur Rechtfertigung aus.
b) Die Absenkung der Beteiligungsgrenze verstößt aber gegen die
verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und ist nichtig, soweit in
einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur
Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 am 31. März 1999
entstanden sind und die entweder - bei einer Veräußerung bis zu diesem Zeitpunkt -
nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert worden sind oder - bei einer
Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes - sowohl zum Zeitpunkt der
Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden
Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können.
54
55
aa) Mit dem Entstehen zwischenzeitlicher Wertzuwächse von Beteiligungen, die die
25 %-Grenze nicht überschritten, erfüllten sich ursprünglich beim Erwerb der
Beteiligung vertrauensrechtlich nicht besonders geschützte Erwartungen in Gestalt
eines konkret vorhandenen Vermögensbestands im grundrechtlich geschützten
Verfügungsbereich, der nach altem Recht - soweit auch die Voraussetzungen eines
Spekulationsgeschäfts nicht vorlagen - nicht der Einkommensteuer unterlag. Daraus
ergibt sich ein erhöhter Rechtfertigungsbedarf, soweit die rückwirkende Absenkung
der Wesentlichkeitsgrenze eine solche konkret verfestigte Vermögensposition
nachträglich entwertet. Dabei kommt es allein darauf an, ob diese schon vor dem
Wirksamwerden des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 mit seiner
Verkündung am 31. März 1999 objektiv entstanden war. Die konkrete Motivations-
und Entscheidungslage beim Erwerb der Beteiligung im einzelnen Fall ist aus der für
die Verfassungsmäßigkeit maßgeblichen generalisierenden Sicht des Gesetzgebers
nicht entscheidend. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob und inwieweit der einzelne
Steuerpflichtige
noch
vor der Verkündung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002 im Vertrauen auf die Steuerfreiheit des zwischenzeitlich
eingetretenen Wertzuwachses weitere Dispositionen - sei es in Form einer
Veräußerung, sei es in Form eines bewussten und gewollten Absehens davon -
vorgenommen hat, oder ob er gegebenenfalls wegen des bereits schwebenden
Gesetzgebungsverfahrens eine rückwirkende Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze
als möglich in Betracht ziehen musste. Der erhöhte Rechtfertigungsbedarf folgt schon
aus dem Erwerb eines konkreten Vermögensbestands, an dem auch das
zwischenzeitliche Gesetzgebungsverfahren nichts ändern konnte.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass der Wertzuwachs - mit dem VIII.
Senat des Bundesfinanzhofs gesprochen - insofern „latent steuerverhaftet“ geblieben
war, als nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Steuerpflichtige, sei es mit
oder ohne sein Zutun, „in die Wesentlichkeit hineinwächst“, was auch nach Maßgabe
alten Rechts zur Besteuerung des gesamten Wertzuwachses geführt hätte. Diese
Möglichkeit ändert nichts daran, dass die rückwirkende Absenkung der
Wesentlichkeitsgrenze die Entwertung konkret vorhandener Vermögensbestände zur
Folge hat. Allerdings trifft es zu, dass der Steuerpflichtige sich im Hinblick auf die
zwischenzeitlichen Wertsteigerungen nicht auf Bestandsschutz berufen kann, wenn
im einzelnen Fall ein solches „Hineinwachsen in die Wesentlichkeit“ (nach Maßgabe
des alten Rechts) im Zeitpunkt der Veräußerung tatsächlich erfolgt sein sollte. Dann
wäre die Wertsteigerung auch nach altem Recht zu versteuern gewesen, die
Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze für die Steuerbarkeit also nicht ursächlich, so
56
57
dass derartige Fälle entsprechend dem in der Entscheidungsformel formulierten
Vorbehalt von der Nichtigkeitsfolge auszunehmen sind.
bb) In der Vielzahl der Fälle, in denen eine nach Maßgabe alten Rechts
unwesentliche Beteiligung bereits bis Ende des Jahres 1998 bestanden hat, bewirkt
d i e rückwirkende
Verlängerung
der
Spekulationsfrist
zudem
eine
rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung. Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot
der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit. Danach
muss im Interesse verfassungsrechtlich gebotener steuerlicher Lastengleichheit unter
anderem darauf abgezielt werden, Steuerpflichtige bei gleicher Leistungsfähigkeit
auch gleich hoch zu besteuern (stRspr; vgl. BVerfGE 122, 210 <231> m.w.N.). Damit
steht die rückwirkende Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze nicht im Einklang, denn
sie erfasst nach der Übergangsvorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in der Fassung
des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 bis zum Ende des Jahres 1998
erzielte, nach Maßgabe alten Rechts steuerfreie Wertsteigerungen nur, wenn der
Veräußerungsgewinn ab dem Jahr 1999 entstanden ist. Hat der Steuerpflichtige
seine Beteiligung hingegen bereits bis Ende des Jahres 1998 veräußert und war der
Veräußerungsgewinn
in diesem Zeitraum entstanden, bleiben die erzielten
Wertsteigerungen steuerfrei.
Zwar
bemisst
das
Einkommensteuerrecht
die Leistungsfähigkeit nach
Veranlagungszeiträumen. In dieser Perspektive liegt bezogen auf die Jahre bis 1998
kei ne Ungleichbehandlung vor, wenn der Veräußerungsgewinn erst in einem
anderen, späteren Veranlagungszeitraum entsteht. Dass Wertsteigerungen erst im
Zeitpunkt ihrer Realisation zu versteuern sind, findet seinen Grund aber allein im
Prinzip einer vorsichtigen, substanzschonenden Besteuerung. Die Besteuerung ist
nicht deshalb auf die Realisation bezogen, weil erst zu diesem Zeitpunkt der
Wertzuwachs entsteht, sondern obwohl er bereits vorher beim Steuerpflichtigen
entstanden ist. Es wird also im Zeitpunkt der Realisation ein über den
vorangegangenen
Zeitraum
akkumulierter
Zuwachs
an Leistungsfähigkeit
nachholend der Besteuerung unterworfen (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Juli 2010
- 2 BvL 14/02, 2/04 und 13/05 -, unter C. II. 2. b> bb>). Auf die bloß formale Zuordnung
des Veräußerungsgewinns zu einem bestimmten Veranlagungszeitraum kommt es
daher nicht an, sondern maßgeblich ist, dass sich die höhere Leistungsfähigkeit, auf
die mit der steuerlichen Erfassung des Veräußerungsgewinns zugegriffen wird,
materiell auf den gesamten Zeitraum zwischen Anschaffung und Veräußerung
bezieht. Wenn also die Besteuerung des bis Ende des Jahres 1998 eingetretenen
58
59
60
Wertzuwachses aufgrund der Übergangsvorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 EStG in der
Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 davon abhängt, ob der
Veräußerungsgewinn noch bis Ende des Jahres 1998 oder erst ab dem Jahr 1999
angefallen ist, dann liegt darin bei der gebotenen materiellen Betrachtung bezogen
auf den Zeitraum bis Ende des Jahres 1998 eine ungleiche Bemessung steuerlicher
Leistungsfähigkeit.
cc) Hinreichend gewichtige Gründe, die geeignet sind, die nachträgliche
einkommensteuerrechtliche Belastung bereits entstandener, steuerfrei erworbener
Wertzuwächse zu rechtfertigen, bestehen nicht.
(1) Soweit die Herabsetzung der Beteiligungsgrenze allgemein mit dem Ziel einer
Verbreiterung der Besteuerungsgrundlage begründet wird (vgl. BTDrucks 14/23, S.
178), ist damit nur das allgemeine Änderungsinteresse bezeichnet, aber kein
spezifischer Grund, der geeignet ist, gerade auch den rückwirkenden Zugriff auf
bereits steuerfrei erworbene Wertsteigerungen zu legitimieren. Die bloße Absicht,
staatliche Mehreinkünfte zu erzielen, ist für sich genommen grundsätzlich noch kein
d e n Vertrauensschutz
betroffener
Steuerpflichtiger
überwindendes
Gemeinwohlinteresse, denn dies würde bedeuten, dass der Vertrauensschutz
gegenüber rückwirkenden Verschärfungen des Steuerrechts praktisch leerliefe (vgl.
BVerfGE 105, 17 <45>). Wieweit ausnahmsweise anderes gelten kann, wenn der
Gesetzgeber den allgemeinen Steuertarif mit Wirkung für den laufenden
Veranlagungszeitraum „in maßvollen Grenzen“ anhebt (vgl. BVerfGE 13, 274 <278>;
18, 135 <144>), kann dahinstehen.
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass mit den Mehreinnahmen an anderer
Stelle gewährte Steuererleichterungen gegenfinanziert werden sollen (vgl. BTDrucks
14/443, S. 2 ff., S. 4, linke Spalte, letzter Spiegelstrich), denn eine solche
Umverteilung ist als typischer Gegenstand politischer Gestaltung durch den
Einkommensteuergesetzgeber grundsätzlich zukunftsgerichtet. Das Bedürfnis nach
Gegenfinanzierung
bezeichnet
daher ebenfalls nur einen allgemeinen
Änderungsbedarf, der es rechtfertigt, Wertsteigerungen ab der Verkündung steuerlich
zu erfassen, aber nicht gerade auch die rückwirkende Einbeziehung bereits steuerfrei
erzielter Vermögenszuwächse legitimiert (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Juli 2010
- 2 BvL 14/02, 2/04 und 13/05 -, unter C. II. 2. b> cc> <2>). Dies kann anders zu
beurteilen sein, wenn mit der innerhalb eines Veranlagungszeitraums rückwirkenden
Verschärfung unerwartete Mindereinnahmen oder ein sonstiger außerordentlicher
Finanzbedarf aufgefangen werden soll (vgl. BVerfGE 105, 17 <44 f.>). Ein solcher
61
62
Fall liegt jedoch bei bloßen Umverteilungsmaßnahmen nicht vor, denn der
Gesetzgeber hat die Wahl zwischen Gegenfinanzierung und Verzicht auf Entlastung.
(2)
Auch
der
in
der
Gesetzesbegründung genannte Aspekt der
Missbrauchsbekämpfung (vgl. BTDrucks 14/23, S. 178) rechtfertigt den Zugriff auf
bereits eingetretene steuerfreie Wertsteigerungen nicht. Er bezeichnet ebenfalls ein in
erster Linie in die Zukunft gerichtetes Änderungsinteresse. Im Übrigen handelt es sich
bei der Erschwerung missbräuchlicher Gestaltungen nur um einen Nebeneffekt, denn
generell ist die steuerfreie Veräußerung einer Beteiligung nicht rechtsmissbräuchlich.
Gemeint sind unter anderem Fälle, in denen die Steuerfreiheit des
Veräußerungsgewinns dazu genutzt wird, eine ansonsten steuerpflichtige
Ausschüttung steuerfrei zu realisieren, indem das zukünftige Ausschüttungsvolumen
- für sich gesehen folgerichtig - in den steuerfreien Veräußerungserlös eingerechnet
wird. Erfolgt die Ausschüttung anschließend an den Erwerber und nimmt dieser -
ebenfalls für sich gesehen folgerichtig - eine entsprechende Teilwertabschreibung auf
die Beteiligung vor, führt dies dazu, dass die Ausschüttung im Ergebnis nicht der
Besteuerung unterlegen hat. Rechtsmissbräuchlich ist dies nach der Rechtsprechung
des Bundesfinanzhofs aber nur in besonders gelagerten Fällen, wenn sich aus den
Umständen ergibt, dass die Veräußerung wirtschaftlich tatsächlich nicht gewollt war
(vgl. BFH, Urteil vom 23. Oktober 1996 - I R 55/95 -, BStBl II 1998, S. 90 <91> = BFHE
181, 490 <492 f.>; Weber-Grellet, in: Schmidt, EStG, 29. Aufl. 2010, § 17 Rn. 4, 228
m.w.N. auch zu anderen Konstellationen).
Zwar besteht auch jenseits der Missbrauchsbekämpfung ein berechtigtes Interesse
daran, etwaige Besteuerungslücken zu schließen, die sich aus der mangelnden
Kongruenz der steuerlichen Behandlung von Gewinnausschüttungen einerseits und
Anteilsveräußerungen andererseits ergeben, wie sie zumindest bis zur weiteren
Absenkung der Beteiligungsgrenze auf 1 % durch das Steuersenkungsgesetz vom
23. Oktober 2000 (BGBl I S. 1433) zu verzeichnen war. Auch daraus ergibt sich aber
nur
ein generelles, nicht spezifisch die Rückwirkung legitimierendes
Änderungsinteresse. Es kommt hinzu, dass der Gesetzgeber bereits mit der
Einfügung des § 50c Abs. 11 EStG durch das Gesetz zur Fortsetzung der
Unternehmenssteuerreform vom 29. Oktober 1997 (BGBl I S. 2590) reagiert hatte, der
b i s zu seiner Aufhebung, ebenfalls durch das Steuersenkungsgesetz, die die
Ausschüttung neutralisierende Teilwertabschreibung beim Erwerber für unbeachtlich
erklärte, wenn der Veräußerungsgewinn nicht der Besteuerung unterlag. Die
Absenkung der Wesentlichkeitsgrenze bewirkte nur eine systematisch anders
63
64
gelagerte Erfassung des Problems, indem sie - worauf die Gesetzesbegründung
hinweist - den Anwendungsbereich des § 50c Abs. 11 EStG zurückdrängte. Eine
dringende, mit Wirkung für die Vergangenheit zu schließende Regelungslücke
bestand also auch unter diesem Gesichtspunkt nicht.
(3) Andere Rechtfertigungsgründe, wie etwa einen Finanzierungsbedarf
möglicherweise begleitende ordnungspolitische Sachziele (vgl. etwa BVerfGE 30,
250 <268 ff.>; 50, 386 <396>; 72, 175 <198>; 88, 384 <407>) oder die Notwendigkeit
rascher Korrektur offensichtlicher Fehlsubventionierungen, die auf Ankündigungs-
oder Mitnahmeeffekten beruhen (vgl. BVerfGE 97, 67 <81 f.>), kommen ebenfalls
nicht in Betracht. Soweit die Gesetzesbegründung schließlich auf die Schwierigkeit
und Streitanfälligkeit einer stichtagsbezogenen Wertfeststellung verweist (vgl.
BTDrucks 14/23, S. 178), rechtfertigt auch dies die rückwirkende Erfassung
steuerfreier Wertsteigerungen nicht. Das Erfordernis eines praktikablen Vollzugs kann
allenfalls grobe Schätzungslösungen bei der Wertermittlung rechtfertigen, wie sie der
Bundesfinanzhof in dem dem Verfahren 2 BvL 2/04 zugrundeliegenden
Vorlagebeschluss betreffend die rückwirkende Verlängerung der Veräußerungsfrist
für Grundstücke erörtert hat (vgl. BFH, Beschluss vom 16. Dezember 2003 - IX R
46/02 -, BStBl II 2004, S. 284 <297> = BFHE 204, 228 <255>). Dagegen kommt der
belastende Zugriff auf potentiell relativ lange zurückliegende und im Zweifel
wesentlich niedrigere Anschaffungswerte als eine verfassungsmäßige Typisierung
des maßgeblichen Veräußerungsgewinns nicht in Betracht.
II.
Die unterschiedliche einkommensteuerrechtliche Erfassung von Wertsteigerungen
im Vermögen des Steuerpflichtigen ist mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Sie ist die
systematische
und
insofern
folgerichtige Konsequenz
aus
der
das
Einkommensteuerrecht prägenden Konzeption, nach der die Einkommensteuer
grundsätzlich nur im Rahmen der Gewinneinkunftsarten den Gedanken der
Reinvermögenszugangstheorie aufgreift und deshalb auch den Wertzuwachs bei
Vermögensgegenständen erfasst, während die Einkünfte im Rahmen der übrigen
Einkunftsarten, dem Gedanken der Quellentheorie entsprechend, als Überschuss der
Einnahmen über die Werbungskosten ermittelt werden, so dass hier Zuwächse im
Stammvermögen grundsätzlich außer Betracht bleiben. Dieser sogenannte
Dualismus der Einkunftsarten liegt als historisch gewachsene Grundentscheidung
(vgl. Lang, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl. 2010, § 9 Rn. 181 ff.) innerhalb des
Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber bei der Erschließung von
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Steuerquellen zukommt (vgl. BVerfGE 26, 302 <311 f.>; allgemein BVerfGE 122, 210
<230> m.w.N.). Der Gesetzgeber wäre allerdings nicht gehindert, Gewinne aus jeder
Veräußerung von Gegenständen des Privatvermögens zu besteuern (vgl. BVerfGE
26, 302 <312>; 27, 111 <127>). Ob und inwieweit er von dieser Möglichkeit Gebrauch
macht, ist eine Frage politischer Gestaltung (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Juli 2010
- 2 BvL 14/02, 2/04 und 13/05 -, unter C. III. 2. a> bb>), so dass auch die
zehnprozentige Beteiligungsgrenze als solche verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden ist.
III.
1. Die mit den Verfassungsbeschwerden unter anderem angegriffenen
Entscheidungen
des
Bundesfinanzhofs beruhen auf der teilweise als
verfassungswidrig erkannten Bestimmung des § 17 Abs. 1 Satz 4 in Verbindung mit
§ 52 Absatz 1 Satz 1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes
1999/2000/2002. Als die maßgeblichen letztinstanzlichen Entscheidungen sind sie
daher nach § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Verfahren zur erneuten
Entscheidung an den Bundesfinanzhof zurückzuverweisen.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
C.
Diese Entscheidung ist hinsichtlich der Begründung mit 6:2 Stimmen ergangen.
Voßkuhle
Broß
Osterloh
Di Fabio
Mellinghoff
Lübbe-Wolff
Gerhardt
Landau