Urteil des BVerfG vom 13.07.2011

freiheit der person, hamburger, ersuchte behörde, recht auf freiheit

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Ünal Zeran,
Schulterblatt 124, 20357 Hamburg -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 742/10 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn A ...,
gegen a) den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar
2010 - 2 Wx 111/09 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 22. September 2009 -
329 T 52/09 -,
c) den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 14. August 2009 - 219j
XIV 41031/09 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Di Fabio,
Gerhardt
und die Richterin Hermanns
am 13. Juli 2011 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Amtsgerichts Hamburg vom 14. August 2009 - 219j XIV
41031/09 -, des Landgerichts Hamburg vom 22. September 2009 - 329 T 52/09 -
und des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar 2010 - 2 Wx 111/09 -
verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2
in Verbindung mit Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes, soweit sie die
Haftantragstellung durch die Hamburger Ausländerbehörde betreffen.
Der Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts wird aufgehoben und die
Sache an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
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Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer drei Viertel seiner
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren auf 8.000 € (in Worten: achttausend Euro)
festgesetzt.
Gründe:
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Reichweite des in Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG
verankerten
Gebots
zur
Beachtung
der
Formvorschriften
in
Freiheitsentziehungsverfahren.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger. Nach einem erfolglosen
Asylantrag und einer Zurückschiebung nach Dänemark im Jahre 2002 reiste er 2009
erneut nach Deutschland ein. Am 27. Juli 2009 wurde er in Hamburg vorläufig
festgenommen. Wegen des Verdachts der unerlaubten Einreise und des unerlaubten
Aufenthalts wurde gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet, in
welchem am 28. Juli 2009 Haftbefehl erging.
2. Die aufgrund des früheren Asylantrages des Beschwerdeführers zuständige
Ausländerbehörde des Kreises U. bat die Hamburger Ausländerbehörde mit
Schreiben vom 3. August 2009, „die Abschiebung des Betroffenen in Amtshilfe zu
organisieren, ggf. die Haft zur Sicherung der Abschiebung zu beantragen und wenn
notwendig die Passersatzpapierbeschaffung einzuleiten“. Auf Antrag der Hamburger
Ausländerbehörde ordnete das Amtsgericht Hamburg gegen den Beschwerdeführer
daraufhin mit Beschluss vom 14. August 2009 die Sicherungshaft nach § 62 Abs. 2
AufenthG an.
3. Gegen die Anordnung der Sicherungshaft legte der Beschwerdeführer sofortige
Beschwerde ein, in welcher er unter anderem die Zuständigkeit der Hamburger
Ausländerbehörde für die Stellung des Haftantrages in Frage stellte und eine an
Verfahrensmängeln leidende Anhörung durch das Amtsgericht bemängelte. Auch
rügte er, das Amtsgericht habe die Ausländerakten nicht beigezogen und daher den
Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt. Die sofortige Beschwerde blieb ohne
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Erfolg. Das Landgericht hielt die Hamburger Ausländerbehörde aufgrund des
Amtshilfeersuchens für die Antragstellung für zuständig, ohne dazu Näheres
auszuführen. Die Ausländerakten lagen dem Landgericht bei seiner Entscheidung
vor.
4. Die sofortige weitere Beschwerde, mit der der Beschwerdeführer die Feststellung
der Rechtswidrigkeit der am 18. Dezember 2009 erledigten Freiheitsentziehung
begehrte, wies das Oberlandesgericht mit Beschluss vom 24. Februar 2010 zurück.
Die Stellung des Haftantrages durch die Hamburger Ausländerbehörde im Wege der
Amtshilfe begegne keinen rechtlichen Bedenken. Art. 35 Abs. 1 GG hebe die
Verpflichtung zur Amtshilfe hervor; die nähere gesetzliche Ausgestaltung der
Amtshilfe in §§ 4 ff. des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes ergebe
keine Unzulässigkeit der Amtshilfe. Diese sei unter anderem dann möglich, wenn die
ersuchende Behörde die Handlung nur mit wesentlich größerem Aufwand vornehmen
könnte als die ersuchte Behörde. Diese Voraussetzung sei hier erfüllt gewesen, weil
sich der Beschwerdeführer in Hamburg in Haft befunden habe. Die Organisation der
Abschiebung
in
Nordrhein-Westfalen einschließlich einer Verlegung des
Beschwerdeführers dorthin hätte das Verfahren mit großer Wahrscheinlichkeit
verzögert. Umgekehrt hätte die zuständige Ausländerbehörde in U. eine Abschiebung
über den Flughafen Hamburg nur mit unvertretbarem organisatorischen, personellen
und ökonomischen Aufwand durchführen können, weil ein Beamter nach Hamburg
h ä t t e anreisen müssen, um dort die erforderlichen Verfahrenshandlungen
vorzunehmen. Das Verfahren vor dem Amtsgericht leide auch nicht an formellen
Fehlern. Die unterlassene Beiziehung der Ausländerakte durch das Amtsgericht sei
nur dann beachtlich, wenn sich aus den Akten Tatsachen oder Anhaltspunkte
ergäben, die gegen das Vorliegen der Voraussetzungen der beantragten Haft
sprechen; dies sei hier nicht der Fall gewesen. Im Übrigen sei ein Verstoß jedenfalls
geheilt, nachdem das Landgericht die Akten vor seiner Entscheidung beigezogen
habe. Bei der Beiziehung von Verfahrensakten handele es sich anders als bei der
Anhörung des Betroffenen nicht um einen nicht mehr heilbaren Formverstoß.
II.
Mit
der
Verfassungsbeschwerde
macht
der Beschwerdeführer geltend,
Zuständigkeitsnormen
komme
bei freiheitsentziehenden Maßnahmen eine
grundrechtssichernde Funktion zu; Art. 104 Abs. 1 GG erhebe die in einem
freiheitsbeschränkenden
Gesetz
enthaltenen
Formvorschriften zum
Verfassungsgebot. Der Haftantrag sei durch die örtlich unzuständige Behörde gestellt
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worden, und die Voraussetzungen für eine Amtshilfe hätten in formeller und
materieller Hinsicht nicht vorgelegen. Es sei zweifelhaft, ob der Kreis U. ein
hinreichend bestimmtes Amtshilfeersuchen gestellt habe, weil er die Entscheidung
über die Stellung eines Haftantrages der Hamburger Ausländerbehörde überlassen
habe. Die Amtshilfe dürfe sich außerdem nur auf Hilfstätigkeiten erstrecken und
könne nicht, wie hier, die gänzliche Übernahme eines Falles betreffen. Darüber
hinaus wäre die Antragstellung der Ausländerbehörde U. ohne zusätzlichen Aufwand
selbst möglich gewesen, indem sie den Haftantrag und die zugehörigen Unterlagen
übersandt hätte. Auf die Erwägungen des Oberlandesgerichts bezüglich anderer
Verfahrenshandlungen als der Antragstellung komme es insoweit nicht an.
Ferner rügt der Beschwerdeführer die unterlassene Beiziehung der Ausländerakte
durch das Amtsgericht. Es gehöre zur unverzichtbaren Voraussetzung eines
rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen über den Entzug der
persönlichen Freiheit sich auf eine zureichende Sachverhaltsgrundlage stützen; zur
gebotenen Sachverhaltsaufklärung sei dabei regelmäßig die Ausländerakte
beizuziehen. Die relevanten Unterlagen seien dem Amtsgericht auch nicht
unabhängig von der Ausländerakte bekannt gewesen.
III.
Zur Verfassungsbeschwerde sind folgende Stellungnahmen eingegangen: Die
Behörde für Inneres und Sport der Freien und Hansestadt Hamburg hat sich der
Rechtsauffassung des Hanseatischen Oberlandesgerichts angeschlossen. Der Kreis
U. hat im Wesentlichen ausgeführt, eine Zuständigkeit der Hamburger
Ausländerbehörde sei nach Nr. 71.1.4.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum
Aufenthaltsgesetz (AufenthG-VwV) begründet, weil der Beschwerdeführer in
Hamburg aufgegriffen worden sei; des Amtshilfeersuchens habe es daher nicht
bedurft. Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat eine Äußerung des Vorsitzenden
des V. Zivilsenats übermittelt. Dieser hält es bereits für zweifelhaft, ob es sich bei dem
Schreiben des Kreises U. vom 3. August 2009 um ein Amtshilfeersuchen handele,
weil Amtshilfe begrifflich die auf ein Ersuchen geleistete ergänzende Hilfe zwischen
Behörden sei, während das Ersuchen hier mehrere Teilakte umfasse. Zudem seien
jedenfalls die Voraussetzungen für eine Amtshilfe nicht erfüllt, insbesondere weil die
Haftantragstellung, auf die es hier allein ankomme, für den Kreis U. nicht mit einem
unverhältnismäßigen Aufwand verbunden gewesen wäre (§ 5 Abs. 1 Nr. 5
HmbVwVfG). Eine originäre Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde sei
nach
den
insoweit einschlägigen
Vorschriften
des
Hamburgischen
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Verwaltungsverfahrensgesetzes nicht gegeben.
Die Ausländerakte sowie die Akte des Ausgangsverfahrens sind beigezogen
worden.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet im Sinne von
§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG, soweit sie die Haftantragstellung durch die Hamburger
Ausländerbehörde rügt. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde insoweit zur
Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1
BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits
entschieden
93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Im Übrigen wird die
Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93b Satz 1
BVerfGG).
I.
Soweit der Beschwerdeführer rügt, das Amtsgericht habe die Ausländerakten nicht
beigezogen, sind die Annahmevoraussetzungen nicht erfüllt. Insoweit ist die
Verfassungsbeschwerde unzulässig, weil sie nicht hinreichend substantiiert ist (§ 23
Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG).
1. Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch Maßstäbe
für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für Anforderungen in Bezug auf die
tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen (BVerfGE 70, 297 <308>).
Um den Anforderungen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG
zu genügen, sind bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung regelmäßig die
Akten der Ausländerbehörde beizuziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 - 2 BvR 1033/06 -, NVwZ 2008, S. 304 f.).
Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße,
wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden
Maßnahme in Rede steht (BVerfGK 7, 87 <100>).
2. Inwiefern diese Maßstäbe hier dadurch verletzt worden sein können, dass das
Amtsgericht die Ausländerakten nicht beigezogen hat, ist nicht hinreichend dargelegt.
Insbesondere ist nicht dargetan, welche Informationen in der Ausländerakte enthalten
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waren, aufgrund derer das Amtsgericht zu einer abweichenden Beurteilung der
Haftfrage hätte gelangen müssen. Von einer weiteren Begründung wird insoweit
abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
II.
Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet. Die
angegriffenen Beschlüsse verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf
Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG.
1. a) Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes
Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE
10, 302 <322>; 29, 312 <316>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden
allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit
vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des
unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26>; 94, 166 <198>; 96, 10 <21>). Nach
Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit
der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der
darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen
des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>).
Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen
Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er
neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem
Gesetz ergebenden freiheitsschützenden Formvorschriften zu beachten, zum
Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195 f.>; 58, 208
<220> ).
b) Inhalt und Reichweite der Formvorschriften, deren Beachtung über Art. 104 Abs. 1
Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben ist, sind von den Fachgerichten so
auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung
entfalten können. Jenseits der Grenze der Aushöhlung und Entwertung des
Grundrechts über das Verfahrensrecht verbleibt den Fachgerichten aber Raum, sich
zwischen mehreren möglichen Deutungen des Gesetzes zu entscheiden. Es bleibt in
erster Linie Aufgabe der Fachgerichte, den Sinn des Gesetzesrechts mit Hilfe der
anerkannten
Methoden
der
Rechtsfindung
zu
ergründen.
Das
Bundesverfassungsgericht greift erst dann korrigierend ein, wenn das fachgerichtliche
Auslegungsergebnis über die vom Grundgesetz gezogenen Grenzen hinausgreift,
insbesondere wenn es mit Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf
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persönliche Freiheit nicht zu vereinbaren ist oder wenn es sachlich schlechthin
unhaltbar und somit willkürlich ist ( BVerfGE 65, 317 <322 f.> ; BVerfG, Beschluss der
1. Kammer des Zweiten Senats vom 25. Februar 2009 - 2 BvR 1537/08 -, juris,
Rn. 14).
2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben stehen die angegriffenen
Entscheidungen nicht im Einklang.
a) Das Verfahren bei Freiheitsentziehungen richtete sich zu dem maßgeblichen
Zeitpunkt gemäß § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der bis zum 31. August 2009
geltenden Fassung nach dem Gesetz über das gerichtliche Verfahren bei
Freiheitsentziehungen (FreihEntzG). Nach dessen § 3 Satz 1 konnte die
Freiheitsentziehung
nur
das Amtsgericht auf Antrag der zuständigen
Verwaltungsbehörde anordnen. § 3 Satz 1 FreihEntzG gehörte mit seiner
Bestimmung, dass ein Haftantrag von der zuständigen Behörde zu stellen ist, zu den
Formvorschriften, deren Beachtung durch Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum
Verfassungsgebot erhoben ist (BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten
Senats vom 25. Februar 2009 - 2 BvR 1537/08 -, juris, Rn. 16, und vom 4. Oktober
2010 - 2 BvR 1825/08 -, juris, Rn. 36).
b) Die Gerichte haben, indem sie eine Zuständigkeit der Hamburger
Ausländerbehörde für die Stellung des Haftantrages angenommen haben, § 3 Satz 1
FreihEntzG in einer Weise angewendet, die unter keinem rechtlichen Aspekt
vertretbar ist.
aa) Das Amtsgericht hat sich mit der Frage der Zuständigkeit der Ausländerbehörde
nicht auseinandergesetzt. Das Landgericht hat ohne weitere Begründung eine
z u l ä s s i g e Antragstellung im Wege der Amtshilfe angenommen. Das
Oberlandesgericht ist ebenfalls der Auffassung, die Ausländerbehörde in Hamburg
sei nach den Vorschriften des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes über
die Amtshilfe zur Stellung des Antrages befugt gewesen. Diese Rechtsauffassung
verfehlt den Gehalt der herangezogenen Bestimmungen in verfassungsrechtlich
erheblicher Weise.
(1) Dabei kann dahinstehen, ob die Vorschriften über die Amtshilfe in
Abschiebungshaftsachen überhaupt eine von der ersuchenden Behörde abgeleitete
Zuständigkeit der ersuchten Behörde begründen können (umstr.; verneinend OLG
Frankfurt am Main, Beschluss vom 13. November 1998 - 20 W 442/98 -; ebenso OLG
München, Beschluss vom 28. September 2006 - 34 Wx 115/06 -; jeweils zitiert nach
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Winkelmann, Online-Kommentar Migrationsrecht.net, Freiheitsentziehungs- und
Haftrecht, S. 35 <38> bzw. S. 9 <13>; offen gelassen in OLG Karlsruhe, Beschluss
vom 15. Mai 2008 - 14 Wx 10/08 -; OLG Köln, Beschluss vom 15. Oktober 2008 - 16
Wx 215/08; KG, Beschluss vom 25. August 2006 - 25 W 70/05 -; jeweils zitiert nach
Winkelmann, a.a.O., S. 21 <24 f.>, S. 17 <19> bzw. S. 30 <34>).
(2) Jedenfalls sind die Voraussetzungen einer Amtshilfe hier in mehrfacher Hinsicht
nicht erfüllt.
(a) Die Amtshilfe umfasst, was der Vorsitzende des V. Zivilsenats des
Bundesgerichtshofs in seiner Stellungnahme zutreffend hervorhebt, nur eine auf
Ersuchen einer anderen Behörde geleistete ergänzende Hilfe (vgl. die Legaldefinition
des § 4 Abs. 1 des Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetzes in der bis zum
27. Dezember 2009 gültigen Fassung - HmbVwVfG 2009). Daraus ergibt sich, dass
Amtshilfe notwendig auf bestimmte Teilakte eines Verwaltungsverfahrens begrenzt ist
und nicht mit einer vollständigen Übernahme von Verwaltungsaufgaben einhergehen
darf. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht geht die dem Grundsatz nach in Art. 35
Abs. 1 GG normierte Amtshilfe nicht über eine Aushilfe im Einzelfall hinaus (vgl.
BVerfGE 63, 1 <32> ). Amtshilfe besteht demnach in dem lediglich ergänzenden
Beistand, den eine Behörde einer anderen leistet, um dieser die Durchführung ihrer
öffentlichen Aufgaben zu ermöglichen oder zu erleichtern (vgl. Bauer, in: Dreier, GG,
Bd. 2, 1998, Art. 35 Rn. 11). Sie beschränkt sich auf ein punktuelles
Zusammenwirken mit Ausnahmecharakter (vgl. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG für die
Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 2009, Art. 35 Rn. 4).
(b) Demnach handelte es sich - ungeachtet der Verwendung der Bezeichnung
„Amtshilfe“ durch beide beteiligten Behörden - bei dem Haftantrag der Hamburger
Ausländerbehörde nicht um eine von § 4 Abs. 1 HmbVwVfG 2009 erfasste
Amtshilfehandlung. Dies ergibt sich bereits aus dem Schreiben des Kreises U. vom 3.
August
2009,
welches
sich nicht darauf beschränkt, die Hamburger
Ausländerbehörde um eine einzelne Unterstützungshandlung zu ersuchen. Vielmehr
beinhaltet das Schreiben die Bitte, „die Abschiebung des Betroffenen in Amtshilfe zu
organisieren, ggf. die Haft zur Sicherung der Abschiebung zu beantragen und wenn
notwendig die Passersatzpapierbeschaffung einzuleiten“. Der Kreis U. gab damit das
weitere Verfahren der Abschiebung aus der Hand und legte es in die Verantwortung
der Hamburger Ausländerbehörde. Eigene weitere Maßnahmen seitens des Kreises
U. zum Zwecke der erstrebten Abschiebung waren nicht vorgesehen und wären
angesichts der gewählten Vorgehensweise auch nicht mehr möglich gewesen, zumal
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sich der Kreis U. offensichtlich keine Kontroll- oder Einflussmöglichkeiten auf künftige
Verfahrensschritte vorbehalten hatte. Dieses Vorgehen übersteigt die Grenzen eines
Amtshilfeersuchens und kommt einer Abgabe des Verfahrens gleich.
Eine dem entsprechende Übernahmeabsicht offenbart sich in dem Haftantrag der
Hamburger Ausländerbehörde vom 12. August 2009, worin diese erklärt, den
Beschwerdeführer im Anschluss an das gegen ihn geführte Strafverfahren aus der
Haft heraus in die Türkei abschieben zu wollen. Hierhin liegt ersichtlich eine über
eine Hilfeleistung bei einzelnen Verfahrenshandlungen hinausgehende Übernahme
des Verfahrens in Bezug auf alle für die erstrebte Abschiebung erforderlichen
Verfahrenshandlungen. Die Hamburger Ausländerbehörde brachte in dem Haftantrag
zum Ausdruck, dass sie die Verantwortung für die gesamte weitere Durchführung des
Abschiebungsverfahrens und der damit verbundenen Schritte bei sich sieht.
(c) Darüber hinaus wären auch die Voraussetzungen für ein Tätigwerden in
Amtshilfe offensichtlich nicht erfüllt. Das Oberlandesgericht legt seiner Entscheidung -
ohne die Vorschrift zu nennen - § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 zu Grunde, wonach
e i n e Behörde insbesondere dann um Amtshilfe ersuchen kann, wenn sie die
Amtshandlung nur mit wesentlich größerem Aufwand vornehmen könnte als die
ersuchte Behörde. Dieses Erfordernis sieht das Oberlandesgericht als erfüllt an und
stellt unter anderem darauf ab, dass der Beschwerdeführer in Hamburg aufgegriffen
worden war und sich dort in Untersuchungshaft befand. Daher sei es zweckmäßig
gewesen, die Abschiebung einschließlich der Stellung eines Haftantrages durch die
Hamburger
Ausländerbehörde
zu
organisieren.
Eine
Überstellung des
Beschwerdeführers in den Zuständigkeitsbereich des Kreises U. sei demgegenüber
ebenso untunlich wie eine Durchführung der Abschiebung von Hamburg aus durch
die Ausländerbehörde U..
Diese Erwägungen sind nicht geeignet, eine zur Amtshilfe berechtigende und
verpflichtende Situation im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 zu
begründen. Ausgehend von der Qualifizierung der Amtshilfe als ergänzende
Unterstützung wäre im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 5 HmbVwVfG 2009 für die
Ermittlung des Aufwandes nicht auf das gesamte Verwaltungsverfahren, sondern nur
auf den Teilakt abzustellen gewesen, für den die Erforderlichkeit einer Amtshilfe
festgestellt werden soll. Dies betraf hier allein die Stellung des Haftantrages. Auf die
Frage, ob die zuständige Behörde auch für weitere Verfahrensschritte Amtshilfe in
Anspruch nehmen kann, kommt es demgegenüber nicht an (vgl. nur OLG Köln,
Beschluss vom 15. Oktober 2008 - 16 Wx 215/08 -, juris, Rn. 8 f.).
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Es ist nichts dafür ersichtlich, dass es für die Ausländerbehörde des Kreises U.
einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeutet hätte, selbst den Haftantrag zu stellen.
Die Übermittlung des schriftlichen Haftantrages an das Amtsgericht Hamburg - etwa
per Telefax - wäre für sie nicht mit größerem Aufwand verbunden gewesen als für die
Hamburger Ausländerbehörde. Davon getrennt zu beantworten wäre die Frage
gewesen, ob etwa für die Wahrnehmung des Anhörungstermins vor dem Amtsgericht
oder andere Verfahrensschritte eine Amtshilfe zulässig gewesen wäre.
bb) Es lässt sich auch nicht feststellen, dass die Gerichte im Ergebnis aus anderen,
ohne weiteres erkennbaren Gründen zu Recht die Zuständigkeit der Hamburger
Ausländerbehörde angenommen haben (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.> ). Das
Landgericht und das Oberlandesgericht sind vielmehr zu Recht von einer originären
örtlichen Zuständigkeit nur des Kreises U. ausgegangen. Eine originäre örtliche
Zuständigkeit der Hamburger Ausländerbehörde ergibt sich aus der mangels
Regelung im Aufenthaltsgesetz einschlägigen landesrechtlichen Bestimmung des § 3
HmbVwVfG 2009 nicht. Insbesondere fehlen für einen die Zuständigkeit
begründenden gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 3 Abs. 2 Nr. 3a HmbVwVfG
2009 zum Zeitpunkt der Haftantragstellung zureichende Anhaltspunkte dafür, dass
der erst kurz zuvor in das Bundesgebiet eingereiste Beschwerdeführer bereits zum
damaligen Zeitpunkt beabsichtigte, sich nicht nur vorübergehend in Hamburg
aufzuhalten (vgl. die Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs. 3
Satz 2 SGB I). Die gegen den Beschwerdeführer angeordnete Untersuchungshaft ist
angesi chts deren vorläufigen Charakters ebenfalls nicht geeignet, einen
gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen. Für eine Eilzuständigkeit der Hamburger
Ausländerbehörde nach § 3 Abs. 5 Satz 1 HmbVwVfG 2009 wegen Gefahr im Verzug
besteht bereits angesichts des zwischen der Kenntniserlangung der Behörde von der
Festnahme des Beschwerdeführers und der Stellung des Haftantrages liegenden
Zeitraumes von über einer Woche kein Anhaltspunkt.
Soweit der Kreis U. in seiner Stellungnahme auf die Allgemeine
Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AufenthG-VwV) Bezug nimmt - hier in
Betracht zu ziehen wäre allenfalls eine Bezugnahme auf die zum Zeitpunkt der
Haftantragstellung
geltenden
Vorläufigen Anwendungshinweise
des
Bundesministeriums
des
Innern
zum Aufenthaltsgesetz
und
zum
Freizügigkeitsgesetz/EU vom 22. Dezember 2004 -, ist daran zu erinnern, dass
Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG bei Freiheitsbeschränkungen auch Zuständigkeitsfragen in
den Vorbehalt des Gesetzes einbezieht (vgl. BVerfGE 105, 239 <247> ) und
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Verwaltungsvorschriften insoweit eine Abweichung von der gesetzlichen
Zuständigkeitsordnung nicht rechtfertigen können (vgl. BVerfG, Beschluss der 1.
Kammer des Zweiten Senats vom 4. Oktober 2010, a.a.O., Rn. 43).
C.
Die Kammer hebt nach § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG den
Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 24. Februar 2010 auf und
verweist die Sache an das Hanseatische Oberlandesgericht zurück.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2, Abs. 3
BVerfGG.
Di Fabio
Gerhardt
Hermanns