Urteil des BVerfG vom 18.04.2012

freiheit der person, verfassungsbeschwerde, sicherungsverwahrung, unterbringung

- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Sabine Lehr,
Nordanlage 37, 35390 Gießen -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 741/10 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn B…
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 19.
Februar 2010 - 3 Ws 139/10 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Kassel vom 4. Dezember 2009 - 4
StVK 475/08 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Huber
und die Richterin Kessal-Wulf
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 18. April 2012 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Versagung der Aussetzung einer
anfänglich angeordneten Sicherungsverwahrung zur Bewährung nach §§ 66, 67c
StGB.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 17. Mai
1995 wegen schwerer räuberischer Erpressung in zwei Fällen zu einer
Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt; zugleich wurde in dem Urteil gemäß
§ 66 StGB die Unterbringung des Beschwerdeführers in der Sicherungsverwahrung
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angeordnet. In einem nachfolgenden Urteil des Landgerichts Arnsberg vom 4.
Dezember 1997 wurde der Beschwerdeführer wegen schwerer räuberischer
Erpressung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem vorgenannten Urteil zu
einer
Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt; die Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wurde aufrechterhalten.
Die Sicherungsverwahrung wird seit dem 8. Februar 2009 vollzogen.
Mit Beschluss vom 4. Dezember 2009 hat das Landgericht Kassel entschieden,
dass die Sicherungsverwahrung fortdauere, weil der Beschwerdeführer weiterhin
a l s gefährlich anzusehen und die erneute Begehung von den Anlasstaten
vergleichbaren Straftaten zu befürchten sei. Die sofortige Beschwerde des
Beschwerdeführers
gegen
den Beschluss des Landgerichts hat das
Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 19. Februar 2010 als
unbegründet verworfen.
2. Der Beschwerdeführer greift mit seiner Verfassungsbeschwerde die
Entscheidungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts an. Er rügt die
Verletzung seiner Rechte aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3
GG. Er ist der Auffassung, die Sicherungsverwahrung sei verfassungswidrig, weil es
an einer hinreichenden Trennung zwischen den Untergebrachten und den
Strafgefangenen innerhalb der therapeutischen Einrichtung fehle. Auch sei das Gebot
hinreichender
Sachaufklärung verletzt, weil die Gerichte den für eine
Entlassungsentscheidung relevanten Sachverhalt hinsichtlich seines sozialen
Empfangsraums nicht ausreichend aufgeklärt und einen (Zusatz-)Sachverständigen
nicht angehört hätten und weil der (Haupt-)Sachverständige sein Gutachten lediglich
erstattet, nicht aber erläutert habe.
II.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Die
Voraussetzungen für eine notwendige Annahme (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) liegen nicht
vor; die Annahme ist auch im Übrigen nicht angezeigt.
1. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2
Buchstabe a BVerfGG). Die für die Entscheidung im Wesentlichen maßgeblichen
verfassungsrechtlichen
Fragen
sind
durch
die Rechtsprechung
des
Bundesverfassungsgerichts - unter anderem durch das Urteil des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ( BVerfGE 128, 326 ff. ) - geklärt.
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2. Die Annahme zur Entscheidung ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1
BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil die
Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg hat (BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Die
Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
a) Das Gebot effektiver Sachaufklärung gilt auch im Vollstreckungsverfahren
(BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 18. Juli 1997 - 2 BvR
517/97 -, juris), insbesondere, wenn darüber zu befinden ist, ob die Vollstreckung
einer Freiheitsstrafe oder der Sicherungsverwahrung zur Bewährung ausgesetzt wird
(BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Juni 1999
- 2 BvR 867/99 -, NJW 2000, S. 501; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats
vom 24. Oktober 1999 - 2 BvR 1538/99 -, NJW 2000, S. 502).
b) Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 und 2 GG) darf nur
aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen
eingeschränkt werden (vgl. BVerfGE 70, 297 <307> ). Zudem ist es unverzichtbare
Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den
Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher
Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage
haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297
<307>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Dezember
2003 - 2 BvR 1661/03 -, juris). Für die Strafgerichte ergeben sich daraus
Mindesterfordernisse für eine zuverlässige Wahrheitserforschung, die unter anderem
Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für eine hinreichende
tatsächliche Grundlage richterlicher Entscheidungen setzen (BVerfG, Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Oktober 2009 - 2 BvR 2549/08 -, juris). Die
aus
dem Freiheitsrecht abzuleitenden Anforderungen an die richterliche
Aufklärungspflicht treffen besonders Prognoseentscheidungen (vgl. BVerfGE 70, 297
<309>). Der Richter muss namentlich die Grundlagen seiner Prognose selbständig
bewerten und darf diese Bewertung nicht einer anderen Stelle überlassen. Auch
muss er sich ein möglichst umfassendes Bild von der zu beurteilenden Person
verschaffen (vgl. BVerfGE 70, 297 <310 f.> ; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats vom 18. Juli 1997 - 2 BvR 517/97 -, juris; Beschluss der 2. Kammer
des Zweiten Senats vom 17. Juni 1999 - 2 BvR 867/99 -, NJW 2000, S. 501).
c) Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen Anforderungen. Das
Landgericht hat die Stellungnahme des Sachverständigen wiedergegeben, einer
kritischen Würdigung unterzogen und ist ihr nicht gefolgt. Das Oberlandesgericht hat
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dies mit weitergehender Begründung gebilligt. Das ist verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, denn entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers bindet eine
gutachterliche Empfehlung die Gerichte, denen auch die Berücksichtigung der dem
Freiheitsinteresse
des Beschwerdeführers widerstreitenden Interessen der
Allgemeinheit an Schutz und Sicherheit obliegt, nicht. Sie ist insoweit lediglich
Grundlage einer gültigen Prognoseentscheidung der Fachgerichte.
Eine Verletzung des Aufklärungsgebots kann auch nicht darin gesehen werden,
dass die Fachgerichte zu Gunsten des Beschwerdeführers einen gesicherten
sozialen Empfangsraum ohne weitergehende Aufklärung unterstellt haben. Denn ihre
Weigerung, die Unterbringung zur Bewährung auszusetzen, beruhte ersichtlich
darauf, dass selbst bei einem gesicherten Empfangsraum nicht hinnehmbare
Gefahren für die Allgemeinheit drohten. Schließlich hat das Landgericht Bedeutung
und Tragweite des Freiheitsrechts auch nicht deshalb verkannt, weil es die Anhörung
eines Zusatzgutachters unterlassen hat. Denn nach der mündlichen Anhörung des
(Haupt-)Sachverständigen bestand aus seiner vertretbaren Sicht kein Bedarf an einer
weitergehenden Aufklärung mehr.
d) Die Verfassungsbeschwerde hat schließlich auch nicht wegen Verletzung des
sogenannten
Abstandsgebotes Erfolg. Zwar hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 4. Mai 2011 ( BVerfGE 128, 326 ff. )
die Vorschrift des § 66 StGB deshalb für mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 104 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt. Er hat jedoch zugleich gemäß § 35 BVerfGG
angeordnet, dass die Vorschrift bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber,
längstens bis zum 31. Mai 2013, nach Maßgabe der Gründe weiter anwendbar bleibt.
Die Entscheidung, dass § 66 StGB trotz der Verfassungswidrigkeit weiter
anzuwenden ist, hat zur Folge, dass Entscheidungen, die in der zurückliegenden Zeit
auf diese Regelung gestützt worden sind, verfassungsrechtlich jedenfalls dann nicht
beanstandet werden können (vgl. BVerfGE 103, 1 <20>; 107, 133 <149 f.>), wenn sie
den erhöhten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung genügen,
also darauf beruhen, dass eine Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten aus
konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten
ist (BVerfGE 128, 326 <405 f.>). Das haben die Fachgerichte im Fall des
Beschwerdeführers vertretbar bejaht.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Lübbe-Wolff
Huber
Kessal-Wulf