Urteil des BVerfG vom 14.04.2016

Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde aufgrund materieller Subsidiarität

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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 695/16 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn R... ,
1. unmittelbar gegen
den Beschluss des Landgerichts Aachen vom 16. März 2016 - 33i StVK 188/16 -
2. mittelbar gegen
§ 64 Sicherungsverwahrungsvollzugsgesetz Nordrhein-Westfalen (GV. NRW. S.
212)
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Landau
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473)
am 14. April 2016 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
G r ü n d e :
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Aachen
richtet, ist sie unzulässig, weil nicht ersichtlich ist, dass der Beschwerdeführer den
Grundsatz der Subsidiarität gewahrt hat.
1. Dieser in § 90 Abs. 2 BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz verlangt, dass
Beschwerdeführer alle nach Lage der Dinge zur Verfügung stehenden prozessualen
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Möglichkeiten ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung schon im
fachgerichtlichen Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen (BVerfGE 134, 106 <113 ff.>
unter Verweis auf BVerfGE 107, 395 <414>; 112, 50 <60>). Das kann auch bedeuten, dass
Beschwerdeführer zur Wahrung des Subsidiaritätsgebots gehalten sind, im fachgerichtlichen
Verfahren eine Gehörsverletzung mit den gegebenen Rechtsbehelfen, insbesondere mit einer
Anhörungsrüge, selbst dann anzugreifen, wenn sie im Rahmen der ihnen insoweit
zustehenden Dispositionsfreiheit mit der Verfassungsbeschwerde zwar keinen Verstoß
gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen wollen (BVerfGE 134, 106 <115> unter Verweis auf
BVerfGE 126, 1 <17>), durch den fachgerichtlichen Rechtsbehelf aber die Möglichkeit
wahren, dass bei Erfolg der Gehörsverletzungsrüge in den vor den Fachgerichten
gegebenenfalls
erneut
durchzuführenden
Verfahrensschritten
auch
andere
Grundrechtsverletzungen, durch die sie sich beschwert fühlen, beseitigt werden (BVerfGE
134, 106 <115> unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats
vom 25. April 2005 - 1 BvR 644/05 -, juris Rn. 10).
a) Zum Rechtsweg gehört, soweit statthaft, auch die Anhörungsrüge (vgl. zum Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes etwa BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
Senats vom 17. Juli 2015 - 2 BvR 1245/15 -, juris, Rn. 4). Eine Anhörungsrüge war hier
statthaft und nicht deshalb entbehrlich, weil sie offensichtlich aussichtslos gewesen wäre
(vgl. BVerfGK 7, 403 <407>). Die Verfahrensbeteiligten müssen grundsätzlich Gelegenheit
haben, sich zu Stellungnahmen der Gegenseite in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu
äußern (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2011 - 2 BvR
43/10 -, 2 BvR 86/10 -, 2 BvR 140/10 -, juris, Rn. 2 unter Verweis auf BVerfGE 19, 32 <36>;
49, 325 <328>; BVerfGK 7, 438 <441>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
Senats vom 6. August 1992 - 2 BvR 628/92 -, juris, Rn. 10; Beschluss der 3. Kammer des
Ersten Senats vom 24. Februar 2009 - 1 BvR 188/09 -, NVwZ 2009, S. 580; Beschluss der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juli 2009 - 2 BvR 1575/09 -, juris, Rn. 3). Der
Anspruch auf rechtliches Gehör ist daher verletzt, wenn das Gericht einem
Verfahrensbeteiligten, bevor es eine ihm ungünstige Entscheidung trifft, keine Gelegenheit
gibt, zu der im Verfahren abgegebenen Stellungnahme der Gegenseite Stellung zu nehmen
(BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2011 - 2 BvR 43/10 -,
2 BvR 86/10 -, 2 BvR 140/10 -, juris, Rn. 2 unter Verweis auf BVerfG, Beschluss der 3.
Kammer des Zweiten Senats vom 15. November 2010 - 2 BvR 1183/09 -, juris). Dies gilt -
auch wenn der Gehörsverstoß zur Aufhebung der ergangenen Entscheidung nur unter der
Voraussetzung führt, dass sie auf dem Verstoß beruht (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer
des Zweiten Senats vom 2. März 2011 - 2 BvR 43/10 -, 2 BvR 86/10 -, 2 BvR 140/10 - juris,
Rn. 2 unter Verweis auf BVerfGE 7, 239 <241>; 13, 132 <145>; 52, 131 <152 f.>; 89, 381
<392 f.>; stRspr) - unabhängig davon, ob unter den gegebenen Umständen von der
Möglichkeit auszugehen ist, dass eine mögliche Gegenstellungnahme Einfluss auf das
Entscheidungsergebnis gewinnt, oder nicht. Denn der grundrechtliche Anspruch auf
rechtliches Gehör dient nicht nur der Gewährleistung sachrichtiger Entscheidungen, sondern
auch der Wahrung der Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren (BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 2. März 2011 - 2 BvR 43/10 -, 2 BvR
86/10 -, 2 BvR 140/10-, juris, Rn. 2 unter Verweis auf BVerfGE 107, 395 <409>).
b) Nach dem Vortrag des Beschwerdeführers hat dieser eine Stellungnahme der
Justizvollzugsanstalt in dem Verfahren den einstweiligen Rechtsschutz betreffend nicht zur
Kenntnis- und Stellungnahme erhalten, obgleich das Landgericht Aachen dem
Beschwerdeführer mit Schreiben vom 4. März 2016 die Einholung einer solchen
Stellungnahme angekündigt hatte. Auch in dem angegriffenen Beschluss vom 16. März 2016
wurde eine solche Stellungnahme offenbar verwendet, ohne diese dem Beschwerdeführer
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vorab zu übersenden und eine Frist zur Stellungnahme einzuräumen.
2.
Angesichts
der
Unzulässigkeit
der
Verfassungsbeschwerde
ist
dem
Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung darüber versagt, ob der angegriffene
Beschluss des Landgerichts mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar ist. Hiergegen bestehen
Bedenken, da das Landgericht bei der Beurteilung, ob eine Maßnahme zur Regelung
einzelner Angelegenheiten im Sinne des § 109 Abs. 1 Satz 1 StVollzG vorliegt, nicht geprüft
hat, ob es sich bei der allgemeinen Anordnung um eine Allgemeinverfügung handelt (BVerfG,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Mai 2011 - 2 BvR 722/11 -, juris, Rn.
3). Zudem hat das Landgericht die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt, die körperliche
Durchsuchung bei dem Beschwerdeführer trotz seiner beiden auslegungsfähigen Anträge
vom 1. Februar 2016, mit denen er die Rechtswidrigkeit der Maßnahme rügte, weiter
durchzuführen, offensichtlich nicht als Maßnahme im Sinne dieser Vorschrift erachtet.
3. Schließlich sind im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit der allgemeinen Anordnung und
ihrer Anwendung auf den Beschwerdeführer die besonderen Umstände des Einzelfalls zu
beachten (vgl. zu dem schwerwiegenden Eingriff in das Persönlichkeitsrecht durch
unbekleidete Durchsuchungen etwa BVerfGK 2, 102; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des
Zweiten Senats vom 10. Juli 2013 - 2 BvR 2815/11 -, juris, Rn. 15; Beschluss der 2. Kammer
des Zweiten Senats vom 5. März 2015 - 2 BvR 746/13 -, juris, Rn. 33).
4. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Landau
Kessal-Wulf
König