Urteil des BVerfG vom 24.06.2003

amnesty international, indien, rechtshilfe in strafsachen, zulässigkeit der auslieferung

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Steffen Ufer und Stefan Wirth,
Sophienstraße 3, 80333 München -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 685/03 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des vanuatuischen Staatsangehörigen G...
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 30. April 2003
- OLGAusl. 275/02 (92/02) -,
b) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 4. April 2003 - OLGAusl.
275/02 (92/02) -,
c) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 7. März 2003
- OLGAusl. 275/02 (92/02) -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der Richterinnen und
Richter
Vizepräsident Hassemer,
Sommer,
Jentsch,
Broß,
Osterloh,
Di Fabio,
Mellinghoff,
Lübbe-Wolff
am 24. Juni 2003 beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
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Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung verbundene
Verfassungsbeschwerde betrifft Beschlüsse des Oberlandesgerichts München, mit denen
das Gericht die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Indien zum Zwecke der
Strafverfolgung für zulässig erklärt hat.
I.
1. a) Der Beschwerdeführer ist vanuatuischer, vormals indischer Staatsangehörigkeit. Er
wurde am 15. Dezember 2002 auf dem Flughafen München festgenommen.
Der Festnahme liegt der Haftbefehl des Ersten Spezialgerichts in Alipore/Kalkutta vom 3.
Mai 2002 zu Grunde. Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, in den Jahren 1994 und
1995 insgesamt 108.400.000 indische Rupien (etwa € 2.143.000) in betrügerischer Weise
von der Allahabad Bank erlangt zu haben. Auf der Grundlage einer internationalen
Fahndungsausschreibung ordnete das Oberlandesgericht München durch Haftbefehl vom
18. Dezember 2002 die vorläufige Auslieferungshaft an.
Der indische Staatsminister für auswärtige Angelegenheiten ersuchte mit Note vom 31.
Januar 2003 unter Übergabe des Anklageprotokolls und des Haftbefehls um die Auslieferung
zur Strafverfolgung wegen krimineller Verschwörung und Betrugs.
b) Mit Beschluss vom 14. Februar 2003 ordnete das Oberlandesgericht München die
Haftfortdauer an und stellte die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zurück,
weil der Beschwerdeführer sich nicht mit einer vereinfachten Auslieferung einverstanden
erklärt hatte, ihm die Auslieferungsunterlagen noch nicht eröffnet worden waren und er noch
kein rechtliches Gehör erhalten hatte. Der Beschwerdeführer erhielt am 21. Februar 2003
Akteneinsicht. Am 24. Februar 2003 wurde ihm die Entscheidung des Oberlandesgerichts
München vom 14. Februar 2003 bekannt gegeben.
c) Mit Beschluss vom 7. März 2003 ordnete das Oberlandesgericht erneut Haftfortdauer an
und erklärte die Auslieferung für zulässig.
2. Der Beschwerdeführer erhob mit Schriftsatz vom 13. März 2003 beim Oberlandesgericht
München eine "Gegenvorstellung". Darin beantragte er, die Auslieferung für unzulässig zu
erklären und den Auslieferungshaftbefehl außer Vollzug zu setzen.
Ihm sei nicht hinreichend rechtliches Gehör eingeräumt worden, weil das Gericht bereits 14
Tage nach der Gewährung von Einsicht in die umfangreichen Auslieferungsunterlagen
endgültig über die Zulässigkeit der Auslieferung entschieden habe. Die Auslieferung sei in
mehrfacher Hinsicht unzulässig, insbesondere verstoße sie gegen § 73 IRG, da ihm für die
zur Last gelegten Vermögensdelikte mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe nicht nur eine
unerträglich schwere Strafe drohe, sondern darüber hinaus Folterungen und Misshandlungen
im Ermittlungsverfahren und während einer möglichen Haftzeit.
3. Ebenfalls am 13. März 2003 beantragte der Beschwerdeführer beim
Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der die nach einer
entsprechenden Bewilligung jederzeit drohende Auslieferung verhindert werden sollte.
Die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts lehnte den Antrag mit
Beschluss vom 7. April 2003 - 2 BvQ 14/03 - ab. Die Verfassungsbeschwerde in der
Hauptsache wäre zum Zeitpunkt der Antragstellung unzulässig gewesen, weil dem
Grundsatz der Subsidiarität nicht genügt worden sei.
Der Beschwerdeführer habe noch die Möglichkeit, mit Hilfe eines Antrags nach § 77 IRG in
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Verbindung mit § 33a StPO nachträglich rechtliches Gehör zu den von ihm als übergangen
angesehenen Gesichtspunkten zu erwirken. In dem Beschluss wurde der Beschwerdeführer
auch auf die Möglichkeit hingewiesen, in entsprechender Anwendung von § 33 Abs. 4 IRG
beim Oberlandesgericht München einen Aufschub der Auslieferung zu erwirken.
4. Das Oberlandesgericht München entschied mit Beschluss vom 4. April 2003, der dem
Beschwerdeführer am 8. April 2003 bekannt gegeben wurde, den Einwendungen nicht zu
folgen, und ordnete Haftfortdauer an. Zur Begründung führte es u.a. aus, ein Verstoß gegen
den ordre-public-Vorbehalt in § 73 IRG sei nicht gegeben. Die dem Beschwerdeführer zur
Last gelegten Taten wiesen einen hohen Unrechtsgehalt auf, zu dem der im indischen
Strafrecht vorgesehene Strafrahmen nicht so außer Verhältnis stehe, dass er als schlechthin
unangemessen angesehen werden müsse.
Dem Beschwerdeführer drohten auch keine Folter oder eine andere grausame und
erniedrigende
Behandlung. Ausweislich der Einschätzungen der Bundesregierung
(Auswärtiges Amt, Lagebericht Indien vom 8. Mai 2001 und Schreiben vom 25. März 2003 an
den
Generalstaatsanwalt beim
Oberlandesgericht
München)
kämen
zwar
Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe vor, diese würden jedoch verstärkt
rechtlich geahndet. Obwohl Folter durch Gesetz verboten sei, handele es sich um eine häufig
von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode. Sie werde jedoch durch den Staat nicht
zielgerichteter gefördert, vielmehr bestrafe er Folterer und habe in letzter Zeit auch eine
Kampagne zur Bewusstseinserhöhung unter den Sicherheitskräften in die Wege geleitet. Die
Gefahr für den Beschwerdeführer sei auch deshalb gering, weil das Ermittlungsverfahren
gegen ihn weitgehend abgeschlossen sei und er in Indien über einen Rechtsbeistand verfüge.
5. a) Mit Schriftsatz vom 10. April 2003 beantragte der Beschwerdeführer beim
Oberlandesgericht München Akteneinsicht betreffend den in der Entscheidung vom 4. April
2003 zitierten Asyllagebericht der Bundesregierung, die Gewährung rechtlichen Gehörs
gemäß § 77 IRG in Verbindung mit § 33a StPO und den Aufschub der Auslieferung in
entsprechender Anwendung von § 33 Abs. 4 IRG.
b) Nach der Akteneinsicht beantragte der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 23. April
2003, die Auslieferung für unzulässig zu erklären. Dem Beschwerdeführer drohten in Indien
die Folter sowie eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung, weshalb die
geplante Auslieferung gegen § 73 IRG verstoße. Die Mindestvollstreckungsdauer für die dem
Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten betrage in Indien 25 Jahre. Diese Strafe sei 2,5
Mal so hoch, wie die Höchststrafe für ein solches Delikt in Deutschland, die zehn Jahre
betrage. Ihm drohe somit eine unerträglich hohe Strafe.
c) Mit Verbalnote vom 23. April 2003 teilte das Auswärtige Amt der indischen Botschaft mit,
das s die Bundesregierung die Auslieferung des Beschwerdeführers "nach Maßgabe der
Grundsätze des deutsch-indischen Auslieferungsvertrages vom 27. Juni 2001" bewilligt
habe.
d) Mit Beschluss vom 25. April 2003 gewährte das Oberlandesgericht München einen
Aufschub der Auslieferung bis zur Entscheidung über die Gegenvorstellung des
Beschwerdeführers. Diese Entscheidung wurde der indischen Botschaft vom Auswärtigen
Amt notifiziert.
e) Mit Beschluss vom 30. April 2003 erklärte das Oberlandesgericht München die
Auslieferung des Beschwerdeführers erneut für zulässig und hob die Entscheidung über den
Aufschub der Auslieferung auf.
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In seiner Begründung stellt das Oberlandesgericht vor allem darauf ab, dass die
Auslieferung nicht gegen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung verstoße (§ 73 IRG).
Unter Bezugnahme auf seinen Beschluss vom 4. April 2003 und auf den Asyllagebericht der
Bundesregierung führt es im Wesentlichen aus, dass in Indien vor allem durch
Polizeibehörden Folter zwar als Vernehmungs- und Erpressungsmittel angewendet werde,
dieses Vorgehen jedoch vom indischen Staat nicht geduldet, sondern vielmehr bekämpft
werde. So sei Indien der Anti-Folterkonvention der Vereinten Nationen beigetreten und habe
innerstaatlich
eine Kampagne zur Bewusstseinsänderung begonnen. Ferner habe
Deutschland mit Indien im Jahre 2001 in Kenntnis der im Asyllagebericht angesprochenen
Umstände einen Auslieferungsvertrag geschlossen, was darauf hindeute, dass die im
Asyllagebericht erwähnten Menschenrechtsverletzungen in Indien nicht der Normalfall seien,
sondern Ausnahmecharakter hätten.
Es bestünden keine begründeten Anhaltspunkte, dass der Beschwerdeführer in Indien
menschenunwürdiger Behandlung ausgesetzt sein werde. Ein etwa noch verbleibendes
Risiko habe sich nicht zu einer konkreten, unmittelbaren Gefahr verdichtet. Die Ermittlungen
gegen den Beschwerdeführer seien abgeschlossen, das Verfahren gegen die Mitangeklagten
sei durchgeführt worden, ohne dass von Folterungen – etwa der zahlreichen Mitangeklagten
– in diesem Zusammenhang etwas bekannt geworden sei. Schließlich sei der
Beschwerdeführer in Indien anwaltlich vertreten. Dieselben Überlegungen gälten für die
Haftbedingungen.
Die Sanktionsdrohung in Indien sei zwar eine "in hohem Maße harte Strafe", könne jedoch
nicht
als "unerträglich schwere Strafe" im Sinne der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts gewertet werden. Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass dem
Beschwerdeführer
auch
in Deutschland für die angeklagten Delikte eine
Gesamtfreiheitsstrafe von maximal 15 Jahren drohe.
II.
Der Beschwerdeführer hat am 5. Mai 2003 Verfassungsbeschwerde erhoben und zugleich
einen – weiteren - Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt. Er rügt, dass ihn
die angegriffenen Entscheidungen des Oberlandesgerichts München in seinen Grundrechten
aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 3 Abs. 1 GG verletzen und zudem gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstießen. Im Einzelnen trägt er vor:
1. Folterungen und Misshandlungen von straftatverdächtigen Personen seien in Indien weit
verbreitet, nach dem Jahresbericht von amnesty international für Indien für das Jahr 1998
und nach dessen Länderkurzbericht Indien vom Februar 2003 seien sie sogar an der
Tagesordnung. Auch nach dem Asyllagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8. Mai 2001
handele es sich dabei in Indien um eine häufig von der Polizei angewandte
Vernehmungsmethode.
Die
Begründung
des
Oberlandesgerichts
München, dass Folter in Indien
Ausnahmecharakter habe und insoweit lediglich ein "Restrisiko" bestehe, könne nur als
objektiv willkürlich angesehen werden. Die Feststellungen von amnesty international und der
Bundesregierung würden mit der hypothetischen Erwägung zurückgewiesen, dass
Deutschland andernfalls keinen Auslieferungsvertrag mit Indien geschlossen hätte. Da
konkrete entgegenstehende Erkenntnisse vorlägen, dass dieser wünschenswerte Zustand
nicht bestehe, könne nicht vom Soll- auf den Ist-Zustand geschlossen werden.
Es sei objektiv unmöglich, über die substantiierte Darstellung des hohen Risikos eines
Inhaftierten, in Indien gefoltert zu werden, hinaus, konkrete den Verfolgten betreffende
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Umstände anzuführen. Wenn das Oberlandesgericht München von einer "konkreten,
unmittelbar bevorstehenden Gefahr" spreche, dann lege es einen völlig überzogenen
Maßstab an. Wegen der drohenden Gefahr der Folterung verletzten die angegriffenen
Beschlüsse Art. 1 Abs. 1 GG und verstießen gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG.
2. Nach dem Jahresbericht 1998 von amnesty international für Indien seien viele Häftlinge
unt er Bedingungen festgehalten, die grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Strafe gleichkämen. Viele Haftanstalten seien extrem überfüllt. Es mangele
a n ärztlicher Versorgung und sanitären Einrichtungen. Auch nach dem Lagebericht des
Auswärtigen Amtes vom 8. Mai 2001 seien die Haftbedingungen, insbesondere in den großen
Gefängnissen "desolat". Die Gefangenen litten unter einer Überbelegung, die die eigentliche
Kapazität um das Fünffache übersteige. Der Großteil der Gefangenen, der in Kategorie C
- bei drei Unterbringungsklassen - untergebracht sei, müsse sich mit unzumutbaren
Verhältnissen bescheiden. Hier komme es vor, dass sich bis zu 50 Inhaftierte eine
Großraumzelle teilen müssten, keine Betten zur Verfügung stünden und im Winter Decken
fehlten. Da dem Beschwerdeführer im Falle einer Verurteilung eine langjährige Freiheitsstrafe
unter diesen Bedingungen drohe, begründe eine Auslieferung an Indien die Gefahr einer
grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Bestrafung. Wenn den genannten
Berichten vom Oberlandesgericht allein entgegengehalten werde, es gebe keine
Erkenntnisse, die eine konkrete Gefahr für den Beschwerdeführer als unmittelbar
bevorstehend erscheinen ließen, so sei dies nicht nachvollziehbar. Den Berichten ließen sich
k e i n e Anhaltspunkte entnehmen, dass eine konkrete Gefahr, unter derartigen
Haftbedingungen in Indien inhaftiert zu werden, nur für bestimmte Personen oder nur unter
bestimmten Umständen bestehe. Auch insoweit verletzten die Beschlüsse des
Oberlandesgerichts Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG.
3. Für das Vermögensdelikt drohe ihm als Höchststrafe lebenslange Freiheitsstrafe, was in
Indien eine Mindestvollstreckungsdauer von 25 Jahren bedeute, die damit 2,5 Mal so hoch
sei, wie die in Deutschland für ein vergleichbares Delikt drohende Freiheitsstrafe. Dies stelle
eine unerträglich schwere Strafe dar. Eine Auslieferung würde deshalb gegen den Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 1 Abs. 1 und
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verstoßen.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die
Annahmevoraussetzungen
des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht erfüllt sind. Der
Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu,
weil die aufgeworfenen Fragen in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung geklärt sind
(vgl. BVerfGE 63, 332 <337 f.>; 75, 1 <18 ff.>). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde
ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Grundrechte angezeigt; sie hat
keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben deutsche
Gerichte in Auslieferungsverfahren zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde
liegenden Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen
völkerrechtlichen Mindeststandard und mit den unabdingbaren verfassungsrechtlichen
Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 63, 332 <337 f.>; 75, 1
<19>).
Die Grenzen, die einer Auslieferung hierdurch gezogen werden, hat das
Bundesverfassungsgericht
hinsichtlich der
Ausgestaltung
des
Straf-
und
Vollstreckungsverfahrens, das den Auszuliefernden in dem ersuchenden Staat erwartet,
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konkretisiert. Danach zählt zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der
Kernbereich
des
aus dem
Rechtsstaatsprinzip
abzuleitenden
Gebots
der
Verhältnismäßigkeit. Den zuständigen Organen der Bundesrepublik Deutschland ist es
danach verwehrt, einen Verfolgten auszuliefern, wenn die Strafe, die ihm im ersuchenden
Staat droht, unerträglich hart, mithin unter jedem denkbaren Gesichtspunkt unangemessen
erschiene.
Ebenso zählt es zu den unabdingbaren Grundsätzen der deutschen
verfassungsrechtlichen Ordnung, dass eine angedrohte oder verhängte Strafe nicht
grausam, unmenschlich oder erniedrigend sein darf. Die zuständigen Organe der
Bundesrepublik Deutschland sind deshalb gehindert, an der Auslieferung eines Verfolgten
mitzuwirken, wenn dieser eine solche Strafe zu gewärtigen oder zu verbüßen hat.
Anderes gilt hingegen dann, wenn die zu vollstreckende Strafe lediglich als in hohem Maße
hart anzusehen ist und bei einer strengen Beurteilung anhand deutschen Verfassungsrechts
nicht mehr als angemessen erachtet werden könnte. Das Grundgesetz geht nämlich von der
Eingliederung des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der
Staatengemeinschaft aus (vgl. Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23 bis 26 GG). Es
gebietet damit zugleich, fremde Rechtsordnungen und –anschauungen grundsätzlich zu
achten (vgl. BVerfGE 75, 1 <16 f.>), auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen
innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. Soll der in gegenseitigem Interesse
bestehende zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr erhalten und auch die außenpolitische
Handlungsfreiheit der Bundesregierung unangetastet bleiben, so dürfen die Gerichte als
unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung nur die Verletzung der unabdingbaren
Grundsätze der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung zu Grunde legen.
2. Nach diesem verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab ist der Verfassungsbeschwerde
ein Verfassungsverstoß durch die angefochtenen Entscheidungen nicht zu entnehmen.
a) Soweit der Beschwerdeführer unter Hinweis auf Berichte von amnesty international und
Auswärtigem Amt geltend macht, ihm drohten als strafverdächtiger Person in Indien Folter
und Misshandlungen, so rügt er im Kern die aus seiner Sicht falsche Einschätzung der
tatsächlichen Verhältnisse seitens des Gerichts.
Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der
dafür zuständigen Fachgerichte (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>; 30, 173 <196 f>; 57, 250 <272>;
74, 102 <127> stRspr). Auch in Auslieferungsverfahren prüft das Bundesverfassungsgericht
insoweit nur, ob die Rechtsanwendung oder das dazu eingeschlagene Verfahren unter
keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist und sich daher der Schluss
aufdrängt, dass die Entscheidung auf sachfremden und damit willkürlichen Erwägungen
beruht (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
vom 11. Dezember 2000 – 2 BvR 2184/00 -; vgl. auch BVerfGE 80, 48 <51>). Diese
Grenzen sind in dem hier zu entscheidenden Fall nicht überschritten.
aa) (1) Das Oberlandesgericht München stellt in seinem Beschluss vom 30. April 2003
bezüglich
der behaupteten Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung bei einer
Auslieferung ausdrücklich darauf ab, dass begründete Anhaltspunkte für die Gefahr einer
menschenrechtswidrigen Behandlung vorliegen müssen. Dieser Prüfungsmaßstab entspricht
sowohl
der
vom
Oberlandesgericht
zitierten Rechtsprechung
des
Bundesverfassungsgerichts (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 31. Mai 1994 - 2 BvR 1193/93 -, NJW 1994, S. 2883 =
NStZ 1994, S. 492) als auch der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl.
EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989, Series A No. 161, S. 35 Ziff. 91 = NJW 1990, S. 2183, 2185 -
Soering; Reports of Judgments and Decisions 1996-V, 1853, Ziff. 73 f. – Chahal), der
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inhaltlich gleichbedeutend von "begründeten Tatsachen" (substantial grounds ) für ein
"tatsächliches Risiko" (real risk ) von Folter spricht. Daher hat das Oberlandesgericht
entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers keinen überzogenen Maßstab
angewendet. Insbesondere kann allein aus der Formulierung des Beschlusses vom 30. April
2003, wonach für eine "konkrete Gefahr [...] als unmittelbar bevorstehend" keine
Erkenntnisse vorlägen, nicht geschlossen werden, dass das Oberlandesgericht nunmehr
einen anderen Maßstab anlegen wollte.
(2) Eine Gefahr in dem beschriebenen Sinne kann angenommen werden, wenn stichhaltige
Gründe vorgetragen sind, nach denen gerade in dem konkreten Fall eine "beachtliche
Wahrscheinlichkeit" (vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1992 - 2 BvR 1901/91 -, abgedruckt in:
Eser/Lagodny/Willkitzki,
Internationale
Rechtshilfe
in Strafsachen,
Rechtsprechungssammlung, 2. Aufl. 1993, Nr. U 202) besteht, in dem ersuchenden Staat
das Opfer von Folter oder anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung zu werden.
Auf konkrete Anhaltspunkte gerade im Fall des Auszuliefernden kommt es in der Regel nur
dann nicht an, wenn in dem ersuchenden Staat eine ständige Praxis grober, offenkundiger
oder massenhafter Verletzungen der Menschenrechte herrscht (vgl. dazu den Wortlaut von
Art. 3 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. Dezember 1984 - UN-Antifolterkonvention,
BGBl 1990 II S. 246 <248>). Die Auslieferung in Staaten, die eine ständige Praxis
umfassender und systematischer Menschrechtsrechtsverletzungen aufweisen, wird
regelmäßig die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung der elementaren Grundsätze der
deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung begründen.
b) Es ist nicht ersichtlich, dass die Feststellungen in den angegriffenen Entscheidungen, mit
denen eine entsprechende Gefahr von Folter für den Beschwerdeführer verneint wurde,
willkürlich sind.
Für eine solche Annahme reicht der Hinweis des Beschwerdeführers auf die Berichte von
amnesty international und des Auswärtigen Amtes, wonach Folterungen und Misshandlungen
von strafverdächtigen Personen in Indien weit verbreitet sowie Folter eine "häufig von der
Polizei angewandte Vernehmungsmethode" und ein Erpressungsmittel seien, nicht aus.
(1) Das Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 30. April 2003 nicht in Zweifel
gez ogen, dass in Indien Folter zum Teil als Vernehmungsmethode oder als
Erpressungsmittel angewendet wird. Für seine Einschätzung, dass dem Beschwerdeführer
gleichwohl keine konkrete Gefahr von Folter drohe, hat es sich darauf gestützt, dass
Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe zwar vorkämen, jedoch verstärkt
rechtlich geahndet würden. Dies entspricht der Einschätzung des Auswärtigen Amtes in
seinem Lagebericht "Indien". Ferner hat das Gericht darauf hingewiesen, dass Folter in Indien
durch Gesetz verboten sei und nicht durch den Staat zielgerichtet gefördert werde, der
indische Staat vielmehr Folterer bestrafe und in letzter Zeit auch eine Kampagne zur
Bewusstseinserhöhung unter seinen Sicherheitskräften in die Wege geleitet habe. Auch dies
findet seine Grundlage in dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes.
Bereits diese Gesichtspunkte lassen die Einschätzung des Oberlandesgerichts
nachvollziehbar erscheinen, allein auf Grund des Umstandes, dass Folter in Indien eine
häufig von der Polizei angewandte Vernehmungsmethode oder ein Erpressungsmittel sei,
drohe
dem Beschwerdeführer keine konkrete Gefahr von Folter mit beachtlicher
Wahrscheinlichkeit, insgesamt sei Indien demnach kein Staat, in dem eine ständige Praxis
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umfassender oder systematischer Menschrechtsrechtsverletzungen herrsche.
(2) (a) Diese Einschätzung des Oberlandesgerichts wird auch von seiner Erwägung
getragen, dass der zwischen Deutschland und Indien am 27. Juni 2001 geschlossene
Auslieferungsvertrag zu berücksichtigen sei. Der Vertrag sei zwar noch nicht ratifiziert, der
Umstand des Vertragsschlusses spreche jedoch dafür, dass die im Asyllagebericht des
Auswärtigen Amtes erwähnten Methoden gerade nicht der Normalfall seien, sondern
Ausnahmecharakter hätten, andernfalls es nicht zu einem solchen Abkommen gekommen
wäre. Dem kann der Beschwerdeführer nicht mit Erfolg entgegenhalten, dies sei eine
willkürliche
"hypothetische" Erwägung, da man angesichts der entgegenstehenden
Erkenntnisse nicht vom Soll- auf den Ist-Zustand schließen könne.
(b) Die Tatsache des Vertragsschlusses unterstützt ein Verständnis des in seinen
Aus s agen heterogenen und auf die Situation politisch Verfolgter konzentrierten
Asyllageberichts, wonach eine systematische menschenrechtswidrige Praxis gerade auch
im Strafvollzug nicht bestehe, weil ansonsten unter Federführung des Auswärtigen Amtes ein
Auslieferungsvertrag jedenfalls im Jahr 2001 gar nicht erst geschlossen worden wäre.
Darüber hinaus mindert auch die Tatsache des Vertragsschlusses selbst eine etwaige
Gefahr für den Beschwerdeführer, weil aus ihm heraus Rechtspflichten für die Republik
Indien in Bezug auf die Achtung des menschenrechtlichen Mindeststandards im konkreten
Fall der Auslieferung erwachsen. Schon aus der Tatsache des Vertragsschlusses folgt ein
völkerrechtliches Frustrationsverbot, wonach die Vertragsparteien verpflichtet sind, nach der
Unterzeichnung und vor der Ratifikation des Abkommens alles zu unterlassen, was den
Zielen des Vertrags zuwiderläuft (siehe Art. 18 des Wiener Übereinkommens über das Recht
der Verträge vom 23. Mai 1969, BGBl 1985 II S. 926; Verdross/Simma, Universelles
Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, §§ 705, 719 m.w.N.). Die menschenunwürdige Behandlung von
Personen, die von Deutschland nach Indien auf noch vertragsloser Grundlage ausgeliefert
werden, würde dem Vertrag widersprechen, da eine solche Praxis die Schaffung einer
stabilen bilateralen Beziehung in Rechtshilfe- und Auslieferungssachen – die durch den
Abschluss des Abkommens angestrebt wird – verhindern würde. Art. 5 des
Auslieferungsvertrags enthält einen ordre-public-Vorbehalt, der die Ablehnung eines
Auslieferungsersuchens im Fall des § 73 IRG gestatten würde (vgl. Denkschrift der
Bundesregierung zu dem Vertrag, zu Artikel 5, BRDrucks 241/03, S. 17). Funktionell
betrachtet treten damit die Rechtsbindungen des Auslieferungsvertrags an die Stelle der
Zusicherung im vertragslosen Zustand. Eine solche Zusicherung der Einhaltung
menschenrechtlicher
Mindeststandards
im Strafverfahren oder menschenwürdiger
Haftbedingungen kann im Vertragszustand regelmäßig nicht verlangt werden, weil damit der
anderen Seite ein Vertragsbruch unterstellt wird; dies gilt gerade im aktuellen Zeitpunkt des
Inkraftsetzens des Vertrags.
Hierbei handelt es sich um Erwägungen, die einen Rückschluss auf die tatsächliche Lage in
Indien für den Beschwerdeführer erlauben. In dem konkreten Fall hat die Bundesregierung die
Auslieferung des Beschwerdeführers mit Verbalnote vom 23. April 2003 "nach Maßgabe der
Grundsätze des deutsch-indischen Auslieferungsvertrages" bewilligt. Daraus folgt, dass das
deutsch-indische Auslieferungsabkommen, obwohl nicht formell in Kraft getreten, auf Grund
des völkerrechtlichen Frustrationsverbotes und der Ausgestaltung der Bewilligung materiell
zur Grundlage der Auslieferung des Beschwerdeführers geworden ist. Dabei ist auch zu
berücksichtigen, dass Indien den Ratifikationsprozess bereits abgeschlossen und damit
nochmals seinen Willen bekundet hat, die mit dem Abkommen begründeten völkerrechtlichen
Verpflichtungen einzuhalten.
Hielte sich Indien nicht an die materiellen Regelungen des Abkommens, läge darin ein
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Verstoß gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen. Die Bewilligung steht demnach unter
der Bedingung, dass Indien den Beschwerdeführer nach der Übergabe entsprechend den
völkerrechtlichen Mindeststandards behandelt.
Außerdem findet die Einschätzung des Oberlandesgerichts auch in der im vorliegenden
Verfahren der Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht München gegebenen Mitteilung
des Auswärtigen Amtes vom 25. März 2003 eine Stütze. Danach habe bereits der bisherige
vertragslose Auslieferungsverkehr mit Indien auf der Grundlage stattgefunden, dass
menschenrechtliche Mindeststandards im indischen Strafverfahren und Strafvollzug
eingehalten würden; im Einzelfall sei jeweils auf den deutsch-indischen Auslieferungsvertrag
Bezug genommen worden, der am 27. Juni 2001 unterzeichnet worden sei und
voraussichtlich im Laufe dieses Jahres in Kraft treten werde. Dies kann nichts anderes
bedeuten als dass, auch wenn in Indien generell Folter und Misshandlungen weit verbreitet
sind, jedenfalls für von der Bundesrepublik Deutschland unter Bezugnahme auf den deutsch-
indischen
Auslieferungsvertrag ausgelieferte Personen nach Einschätzung der
Bundesregierung die menschenrechtlichen Mindeststandards im indischen Strafverfahren
und Strafvollzug eingehalten worden sind.
Es kann im Übrigen angenommen werden, dass die Bundesregierung über ihre
diplomatischen Vertretungen das weitere Verfahren in Indien von sich aus beobachtet.
(3) Der Beschwerdeführer hat auch keine Gründe vorgetragen, die gerade in seinem Fall
eine
menschenunwürdige Behandlung bei der Rückkehr nach Indien beachtlich
wahrscheinlich machen. Das Oberlandesgericht weist nachvollziehbar darauf hin, es sei
nicht bekannt, dass die Mitangeklagten des Beschwerdeführers in der Vergangenheit
gefoltert worden seien. Der Beschwerdeführer, der von einem indischen Rechtsbeistand
vertreten wird, hat nichts vorgetragen, was diese Feststellung in Frage stellen könnte.
c) Im Hinblick auf menschenunwürdige Haftbedingungen gelten weitgehend die
Ausführungen zur Gefahr der menschenrechtswidrigen Behandlung durch Folter (vgl. III. 2. a
und b). Der Beschwerdeführer rügt auch insoweit im Kern die aus seiner Sicht unzureichende
Auseinandersetzung des Gerichts mit den tatsächlichen Verhältnissen im indischen
Strafvollzug.
aa) Diese Rüge wird vom Bundesverfassungsgericht am Maßstab des Willkürverbots des
Art. 3 Abs. 1 GG nur daraufhin überprüft, ob die Rechtsanwendung und das dazu
eingeschlagene Verfahren unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar sind
und sich daher der Schluss aufdrängt, die Entscheidung beruhe auf sachfremden und daher
willkürlichen Erwägungen (vgl. oben III. 2. a).
bb) Dies vermag die Beschwerdebegründung nicht darzutun. Der Hinweis des
Beschwerdeführers auf die Berichte von amnesty international und den Asyllagebericht des
Auswärtigen Amtes reicht hierfür nicht aus.
Das Oberlandesgericht hat in der Begründung seines Beschlusses vom 30. April 2003 zu
diesem Vorbringen zwar nur knapp im Anschluss an seine Ausführungen zu der geltend
gemachten Foltergefahr erklärt, gleiches gelte für die vorgetragenen Haftbedingungen;
Erkenntnisse für eine konkrete Gefahr für den Beschwerdeführer lägen nicht vor.
Damit hat das Gericht aber – jedenfalls auch - Bezug genommen auf seine tragende
Erwägung
zur
Foltergefahr, bei der der Abschluss des deutsch-indischen
Auslieferungsvertrags zu berücksichtigen sei. Aus den oben genannten Gründen kann für die
Haftbedingungen im Strafverfahren und im Strafvollzug nichts anderes gelten als für die vom
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Beschwerdeführer angeführte Foltergefahr: Unabhängig von den Haftbedingungen für einen
Großteil der Inhaftierten sind keine Anhaltspunkte erkennbar, dass speziell bei den von der
Bundesrepublik
Deutschland
nach Indien ausgelieferten Personen dort die
menschenrechtlichen Mindeststandards nicht eingehalten würden.
cc) Dass im Fall des Beschwerdeführers Besonderheiten vorliegen, die eine andere – wenn
auch ansonsten weit verbreitete - Behandlung in der Haft besorgen lassen, hat er nicht
dargelegt.
d) Es ist schließlich auch nicht ersichtlich, dass das Oberlandesgericht München den bei
einer Auslieferung zu beachtenden Kernbereich der Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips
berührt hat, indem es die Auslieferung des Beschwerdeführers nach Indien ungeachtet der
ihm dort maximal drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe für zulässig erklärt hat.
aa) Der Beschwerdeführer wird beschuldigt, in erheblichem Umfang Vermögensdelikte im
Wege einer kriminellen Verschwörung begangen zu haben. Durch die Straftaten ist ein
Schaden von rund € 2.140.000,-- eingetreten, sodass sie einen insgesamt hohen
Unrechtsgehalt aufweisen. Es ist daher nicht unerträglich hart im Sinne der Rechtsprechung
d e s Bundesverfassungsgerichts (vgl. oben unter III. 1. und BVerfGE 75, 1 <16 ff.>,
Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 4. März
1994 - 2 BvR 2037/93 -, NJW 1994, S. 2884), wenn der indische demokratische
Gesetzgeber den Strafrahmen für diese Straftaten bis zur lebenslänglichen Freiheitsstrafe
festgesetzt hat.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Staaten generell und speziell im Bereich der
Vermögensdelikte unterschiedliche Auffassungen über die Strafwürdigkeit von kriminellem
Verhalten haben können. Das Bundesverfassungsgericht kann deshalb nur prüfen, ob eine
i m ersuchenden Staat drohende Strafe "schlechthin unangemessen" ist, selbst wenn im
Einzelfall die konkret angedrohte Strafe für den Beschwerdeführer eine Härte bedeutet.
bb) Das Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss vom 30. April 2003 schließlich darauf
hingewiesen, dass auch nach der deutschen Rechtslage für die dem Beschwerdeführer zur
Last gelegten Taten, in der konkreten Begehungsform der Mittäterschaft, ein Strafhöchstmaß
von 15 Jahren Gesamtfreiheitsstrafe in Betracht käme.
3. Mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlass
einer einstweiligen Anordnung.
IV.
Diese Entscheidung ist mit sechs gegen zwei Stimmen ergangen.
Hassemer
Sommer
Jentsch
Broß
Osterloh
Di Fabio
Mellinghoff
Lübbe-Wolff
Abweichende Meinung
des Richters Sommer und der Richterin Lübbe-Wolff
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 24. Juni 2003
- 2 BvR 685/03 -
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Wir können die Entscheidung der Senatsmehrheit nicht mittragen. Nach unserer
Überzeugung verletzen die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in seinen
Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4
GG, weil das Oberlandesgericht in Bezug auf die Frage, ob der Beschwerdeführer im Falle
seiner Auslieferung nach Indien menschenwürdewidrigen Haftbedingungen ausgesetzt sein
wird, seiner verfassungsrechtlichen Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung nicht nachgekommen
ist.
Mit der Senatsmehrheit gehen wir davon aus, dass deutsche Gerichte im
Auslieferungsverfahren zu prüfen haben, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden
Akte mit dem nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen
völkerrechtlichen Mindeststandard und mit sonstigen unabdingbaren verfassungsrechtlichen
Grundsätzen ihrer öffentlichen Ordnung vereinbar sind (vgl. BVerfGE 63, 332 <337>; 75, 1
<19 f.>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
9. November 2000 - 2 BvR 1560/00 -, NJW 2001, S. 3111 <3112>). Hieraus ergeben sich für
das Auslieferungsverfahren auch Anforderungen an die gerichtliche Ermittlung des
Sachverhalts. Die Reichweite der gerichtlichen Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung hängt
dabei im Einzelnen davon ab, inwieweit die Umstände des jeweiligen Falles zu - weiterer -
Aufklärung Anlass geben (vgl. BVerfGE 59, 280 <282>; 63, 332 <337>). Die Ermittlung des
Sachverhalts genügt jedenfalls dann den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn
sie nach Art und Umfang ungeeignet ist, den effektiven gerichtlichen Schutz der Rechte des
Betroffenen sicherzustellen, und damit die materiellen Rechte des Betroffenen durch die
Gestaltung des Verfahrens unterläuft. So liegt es hier.
Der angegriffene Beschluss vom 7. März 2003, mit dem das Oberlandesgericht erstmals
die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärte, geht auf die Frage möglicher
Auslieferungshindernisse aus § 73 IRG nur implizit mit einem einzigen begründungslosen
Satz ein ("Rechtliche Hindernisse, die der Auslieferung entgegen stehen könnten,
insbesondere Verfolgungsverjährung, liegen nicht vor"). In seiner Gegenvorstellung vom 13.
März 2003 machte der Beschwerdeführer unter Berufung auf entsprechende Angaben von
amnesty international neben anderem ausdrücklich geltend, dass eine Inhaftierung in Indien
wegen extremer Überfüllung der Anstalten, mangelnder ärztlicher Versorgung und
unzumutbarer
sanitärer
Einrichtungen
einer
"grausamen, unmenschlichen oder
erniedrigenden Strafe" (vgl. Art. 3 EMRK) gleichkomme. Diese Gegenvorstellung wies das
Gericht mit dem angegriffenen Beschluss vom 4. April 2003 zurück, ohne auf die Frage der
Haftbedingungen mit einem Wort einzugehen.
Für andere Aspekte der Beschlussbegründung bezog das Gericht sich in diesem
Beschluss unter anderem auf den Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage in Indien vom 8. Mai 2001 und auf ein Schreiben des
Auswärtigen Amtes vom 25. März 2003. Nachdem der Beschwerdeführer Gelegenheit
gehabt hatte, diese Dokumente immerhin nachträglich (vgl. BVerfGE 70, 180 <189>) im
Wege der Akteneinsicht zur Kenntnis zu nehmen, machte er in seinem auf
Unzulässigerklärung der Auslieferung gerichteten Antrag vom 23. April 2003 erneut unter
anderem wegen menschenrechtswidriger Haftbedingungen in Indien Einwände geltend, die er
nunmehr auch auf den Lagebericht stützte.
Ungeachtet dieses Antragsvorbringens ging das Oberlandesgericht der Frage, ob dem
Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung eine Haftunterbringung unter derartigen
Bedingungen droht, auch im angegriffenen Beschluss vom 30. April 2003 nicht weiter nach.
Für eine den Beschwerdeführer betreffende Gefahr der Folter oder sonstigen
menschenrechtswidrigen Behandlung sieht der Beschluss aus einer Anzahl von
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Erwägungen, die in der Begründung der Senatsentscheidung im Einzelnen wiedergegeben
sind, keine "begründeten Anhaltspunkte". Auf die Frage der Haftbedingungen geht er nur mit
der Feststellung ein,
"Gleiches" gelte für die "erneut vorgetragenen Haftbedingungen"; auch hierzu lägen keine
Erkenntnisse vor, die eine konkrete Gefahr für den Antragsteller als unmittelbar bevorstehend
erscheinen ließen.
Angesichts der im Lagebericht des Auswärtigen Amtes enthaltenen Feststellungen zu den
Haftbedingungen ist diese Sachverhaltswürdigung nicht nachvollziehbar und mit der
verfassungsrechtlichen Sachaufklärungspflicht des Gerichts nicht vereinbar. Im Lagebericht
heißt es wörtlich: "Die Haftbedingungen , insbesondere in den großen indischen
Gefängnissen (Tihar, New Delhi; Yeravada, Pune) sind desolat . Die Gefangenen leiden unter
einer Überbelegung, die die eigentliche Kapazität um das fünffache übersteigt. Es wird in drei
Klassen der Unterbringung unterschieden, wobei insbesondere die A-Kategorie gewisse
Privilegien (Einzelzelle, Transistorradio, Verpflegung durch Angehörige) bietet. Der Großteil
der Gefangenen (Kategorie C) muss sich allerdings mit unzumutbaren Verhältnissen
bescheiden. Hier kommt es vor, dass sich bis zu 50 Inhaftierte eine Großraumzelle teilen
müssen, keine Betten zur Verfügung stehen und im Winter Decken fehlen"
(Unterstreichungen i.O.). Aufgrund dieser Feststellungen bestand Anlass, aufzuklären, ob
dem Beschwerdeführer im Falle seiner Auslieferung nach Indien eine Unterbringung in
Haftverhältnissen droht, wie sie hier für Gefangene der Kategorie C dargestellt werden.
Eine Person durch Auslieferung derartigen Haftbedingungen auszusetzen, widerspräche
fundamentalen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung, nämlich dem Grundrecht des
Betroffenen aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Darüber hinaus dürfte eine
langjährige Inhaftierung unter Bedingungen, wie sie hier beschrieben werden, auch eine
unmenschliche, grausame oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Art. 3 EMRK)
darstellen (vgl. zur Anwendbarkeit auf Haftbedingungen EGMR, Urteil v. 7.7.1989 ,
NJW 1990, S. 2183 <2187>) und als solche zugleich gegen den innerstaatlich gemäß Art. 25
GG verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard verstoßen (vgl. EGMR, a.a.O. S. 2184;
zum Charakter des Verbots grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung als
ius cogens vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 3. Aufl. 1998,
Rn. 33 zu § 73 IRG; Popp, Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, 2001,
Rn. 343; Graßhof/Backhaus, EuGRZ 1996, S. 445 <448>). Es wird nicht hinreichend
deutlich, ob die Feststellung des Lageberichts, der "Großteil" der Gefangenen, nämlich
diejenigen in der Kategorie C, sei "unzumutbaren" Haftbedingungen ausgesetzt, sich auf den
Großteil aller Gefangenen oder auf den Großteil derer in den großen indischen Gefängnissen
bezieht. Auch die Bedingungen, von denen abhängt, ob ein Gefangener in die Kategorie C
gerät, werden im Lagebericht nicht angegeben. Gerade angesichts dieser Unklarheiten durfte
das Gericht nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts davon ausgehen, dass für eine
d e m Beschwerdeführer drohende Gefahr menschenwürdewidriger Behandlung keine
begründeten Anhaltspunkte vorlägen. An der danach erforderlichen weiteren Sachaufklärung
war das Gericht weder aus völkerrechtlichen Gründen gehindert noch durfte es sich von ihr
durch diplomatische Rücksichten abhalten lassen.
Entgegen der Auffassung der Senatsmehrheit hat das Oberlandesgericht seiner Pflicht zur
Sachverhaltsprüfung und -ermittlung auch nicht durch den Verweis genügt, dass die gegen
eine Foltergefahr angeführten Gründe in gleicher Weise auch für die Haftbedingungen gälten.
Zur Frage der Haftbedingungen haben diese Gründe größtenteils keinerlei Bezug. Das von
der Senatsmehrheit als tragfähig hervorgehobene Argument, dass die Tatsache der
Unterzeichnung eines deutsch-indischen Auslieferungsvertrages für Verhältnisse spreche,
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die einer Auslieferung im Regelfall nicht entgegenstehen, lässt sich zwar auch auf die
Haftverhältnisse beziehen, konnte aber den Verzicht auf Klärung der durch den
Asyllagebericht aufgeworfenen Bedenken nicht rechtfertigen.
Dem Abschluss und auch bereits der Unterzeichnung eines Auslieferungsvertrages mag
eine für die Beurteilung konkreter Auslieferungsfälle relevante Indizwirkung zukommen
können. Inhalt und Reichweite dieser Indizwirkung dürfen aber nicht unter Absehung von
anderweitigen Informationen bestimmt werden. Im vorliegenden Fall hat das Auswärtige Amt
zwar mit seinem Schreiben vom 25. März 2003 erklärt, bereits der bisherige, vertragslose
Auslieferungsverkehr mit Indien habe "auf der Grundlage" stattgefunden, "dass
menschenrechtliche Mindeststandards im indischen Strafverfahren und im indischen
Strafvollzug eingehalten werden". Im Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und
abschiebungsrelevante Lage in Indien wird allerdings unter dem Datum vom 8. Mai 2001
unter anderem festgestellt, Folter sei in Indien, obgleich gesetzlich verboten, "eine häufig von
der Polizei angewandte Vernehmungsmethode". Angesichts dieser sieben Wochen vor der
Unterzeichnung
des
Auslieferungsvertrages
getroffenen Feststellung, die das
Oberlandesgericht noch in seiner Entscheidung vom 4. April 2003 richtig wiedergegeben hat,
ist - auch wenn das Oberlandesgericht eine gerade für den Beschwerdeführer bestehende
Foltergefahr in vertretbarer Weise verneint hat - schon schwer nachvollziehbar, wie das
Gericht in seinem Beschluss vom 30. April 2003 davon ausgehen konnte, die
Vertragsunterzeichnung begründe eine Indizwirkung dahingehend, dass regelmäßig von
ordnungsgemäßen, einer Auslieferung nicht entgegenstehenden Verhältnissen in Indien
auszugehen sei. Jedenfalls kann die Indizwirkung, von der das Fachgericht ausgegangen ist,
aber von Verfassungs wegen keine unwiderlegbare sein. Der Rechtsstaat kennt keine von
Rechts wegen jeder Widerlegung entzogenen Annahmen über die Wirklichkeit. Bezüglich der
Haftbedingungen war im vorliegenden Fall die vom Oberlandesgericht angenommene
Indizwirkung durch die oben wiedergegebenen Feststellungen im Lagebericht des
Auswärtigen Amtes erschüttert. Die verfassungsrechtlich gebotene Konsequenz daraus hat
das Oberlandesgericht nicht gezogen.
Sommer
Lübbe-Wolff