Urteil des BVerfG vom 15.12.2005

verfassungsbeschwerde, berufliche tätigkeit, strafrechtliche verantwortlichkeit, berufsverbot

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 673/05 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. O ...
gegen a) den Beschluss des Landgerichts Essen vom 29. März 2005 - 26 Qs
30/05 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Essen vom 22. Dezember 2004 - 37 Ls
28 Js 31/02 - 52/04 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio
und Landau
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung
der Bekanntmachung vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473 ) am 15. Dezember 2005
einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Landgerichts Essen vom 29. März 2005 – 26 Qs 30/05 –
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1
des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht
zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung
angenommen.
3. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen
Auslagen zu erstatten.
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Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Grundrechtskonformität eines gegen den
Beschwerdeführer verhängten vorläufigen Berufsverbots nach § 132 a StPO.
A.
I.
Der
nunmehr
siebzigjährige
Beschwerdeführer, der
die
deutsche
Staatsangehörigkeit besitzt, ist als Arzt tätig. Auf seine Kassenzulassung hat er im
September 2003 verzichtet. In den letzten Jahren hat sich seine berufliche Tätigkeit
auf die Privatbehandlung von drogensüchtigen Patienten beschränkt, die er mit Hilfe
von Methadon substituiert.
Im Jahr 2002 nahm die Staatsanwaltschaft strafrechtliche Ermittlungen gegen ihn
auf. Anklage wurde am 8. Juni 2004 erhoben. Dem zum Zeitpunkt der
Anklageerhebung wegen Nichtabgabe der Einkommensteuererklärung in zwei Fällen
vorbestraften Beschwerdeführer wirft die Staatsanwaltschaft unter anderem vor, einen
Patienten zu Diebstählen angestiftet und einen weiteren Patienten sexuell belästigt
zu haben. Die Erlöse aus den Diebstählen - so die Anklage - sollten als Bezahlung
für entstandene Behandlungskosten dienen.
II.
Am 22. Dezember 2004 fand vor dem Schöffengericht in Essen Termin zur
Hauptverhandlung
statt. Auf
Grund
des
Einlassungsverhaltens
des
Beschwerdeführers beantragte die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft die
Einholung eines Gutachtens über dessen strafrechtliche Verantwortlichkeit. Daneben
beantragte sie die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots. Das Gericht setzte
das Verfahren aus. Eine neue Hauptverhandlung hat bislang nicht stattgefunden.
Zugleich ordnete das Amtsgericht ein vorläufiges Berufsverbot gemäß § 132 a StPO
g e g e n den Beschwerdeführer an. Zur Begründung führte es aus, der
Beschwerdeführer sei der Anstiftung zum Diebstahl und eines sexuellen Übergriffs
auf
einen
Patienten
dringend
verdächtig. Ausweislich des "bisherigen
Ermittlungsergebnisses" und des Ergebnisses der "teilweise durchgeführten
Beweisaufnahme" stellten die Taten eine "grobe Verletzung ärztlicher Pflichten dar,
die zudem die Gefahr der Begehung weiterer ähnlicher Taten begründe".
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Die gegen den Beschluss des Amtsgerichts gerichtete Beschwerde verwarf das
Landgericht am 29. März 2005 als unbegründet. Die dem Beschwerdeführer
vorgeworfenen Taten stellten eine "Verletzung der ärztlichen Pflichten dar". Der
Beschwerdeführer sei "dringend verdächtig, die ihm durch seinen Beruf gegebenen
Möglichkeiten bei seiner Berufstätigkeit bewusst und planmäßig zur Begehung von
Straftaten ausgenutzt zu haben". Nach dem "bisherigen Ermittlungsergebnis sowie
dem Ergebnis der bisher durchgeführten Beweisaufnahme" bestünden dringende
Gründe für die Annahme, dass gegen den Beschwerdeführer ein (endgültiges)
Berufsverbot nach § 70 StGB verhängt werde.
III.
Gegen den landgerichtlichen Beschluss und den Beschluss des Amtsgerichts
Essen richtet sich die Verfassungsbeschwerde. Der Beschwerdeführer sieht sich
durch die Anordnung des vorläufigen Berufsverbots unter anderem in seinem
Grundrecht auf "freie Berufsausübung" verletzt. Es fehle auf Grund der durchgeführten
Hauptverhandlung nicht nur an einer dringenden Verdachtslage hinsichtlich der ihm
vorgeworfenen Straftaten. Daneben liege auch keine, die Anordnung eines
Berufsverbots
legitimierende Wiederholungsgefahr vor. Seit Beginn des
Strafverfahrens seien weitere strafrechtliche Vorwürfe gegen ihn - den
Beschwerdeführer – nicht erhoben worden. Insgesamt habe er sich während des
Zeitraums von zehn Jahren, über den hinweg er Drogenpatienten behandelt habe,
nichts zu Schulden kommen lassen. Die Ausnahme stelle die Verurteilung in einem
Steuerstrafverfahren dar. Die Verurteilung sei jedoch nur deshalb in Rechtskraft
erwachsen, weil er aus Unkenntnis der rechtlichen Situation kein Rechtsmittel
eingelegt habe.
B.
Das
Justizministerium
des
Landes Nordrhein-Westfalen hat von einer
Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde abgesehen.
C.
Die Verfassungsbeschwerde wird, soweit sie eine Verletzung des Grundrechts aus
Art. 12 GG durch den Beschluss des Landgerichts rügt, zur Entscheidung
angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers
angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
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Die Zuständigkeit der Kammer ist gegeben. Die Anforderungen, die in rechtlicher
und tatsächlicher Hinsicht an die Verhängung eines vorläufigen Berufsverbots zu
s t e l l e n sind,
sind
bereits
Gegenstand
bundesverfassungsgerichtlicher
Entscheidungen im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG gewesen (vgl. BVerfGE
44, 105 ff.; 48, 292 ff. ).
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auch gegen den Beschluss des
Amtsgerichts wendet, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie insoweit
unzulässig ist.
I.
1. Durch den Beschluss des Amtsgerichts ist der Beschwerdeführer nicht mehr
beschwert. Dieser Beschluss ist durch die auf die Beschwerde hin ergangene
Entscheidung des Landgerichts prozessual überholt.
2. Darüber hinaus ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. Der Grundsatz der
Subsidiarität des verfassungsgerichtlichen Verfahrens aus § 90 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG steht der Zulässigkeit des Rechtsbehelfs des Beschwerdeführers nicht
entgegen. Ein gesicherter weiterer Rechtsweg ist nicht eröffnet. Zu einer rechtlichen
Überprüfung der Maßnahme nach § 132 a StPO im Rechtsmittelverfahren käme es
nur dann, wenn das Amtsgericht im Falle eines vom Beschwerdeführer
angefochtenen Urteils das vorläufige Berufsverbot aufrechterhalten würde. Dem
Beschwerdeführer ist vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Folgen eines
Berufsverbots ein Zuwarten auf die etwaige Möglichkeit einer weiteren
fachgerichtlichen Überprüfbarkeit der gegen ihn angeordneten Maßnahme nicht
zumutbar (vgl. BVerfGE 17, 252 <257>).
II.
Soweit zulässig, ist die Verfassungsbeschwerde begründet. Die Begründung der
Entscheidung des Landgerichts vom 29. März 2005 wird dem Grundrecht des
Beschwerdeführers aus Art. 12 Abs. 1 GG nicht gerecht.
1. Das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG schützt neben der freien Wahl des
Berufs auch die Freiheit der Berufsausübung (vgl. BVerfGE 7, 377 <400 f.> ). Gemäß
Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG kann in dieses Grundrecht der "Berufsfreiheit" nur durch oder
auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 402).
§ 132 a StPO ist ein solches Gesetz im Sinne der Schrankenregelung. Diese Norm
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erlaubt im Strafverfahren die vorläufige Verhängung eines Berufsverbots gegen einen
Beschuldigten, wenn dringende Gründe dafür sprechen, dass im Urteil ein
"endgültiges" Berufsverbot nach § 70 StGB gegen ihn verhängt werden wird. Ein
Berufsverbot gemäß § 70 StGB kann angeordnet werden, wenn ein Angeklagter
wegen einer rechtswidrigen Tat verurteilt wird, die er unter Missbrauch seines Berufs
oder seines Gewerbes oder unter grober Verletzung der mit Beruf oder Gewerbe
verbundenen Pflichten begangen hat. Zudem muss eine Gesamtwürdigung des
Täters und seiner Tat die Gefahr erkennen lassen, dass er bei fortgesetzter Ausübung
seiner beruflichen Tätigkeit weitere erhebliche Taten, die im Zusammenhang mit
seiner Berufsausübung stehen, begehen wird.
Allein das Vorliegen dieser gesetzlichen Voraussetzungen rechtfertigt auf Grund der
überragenden Bedeutung des Art. 12 Abs. 1 GG die Verhängung eines vorläufigen
Berufsverbots aber noch nicht. Hinzukommen muss, dass die Anordnung erforderlich
ist, um bereits vor rechtskräftigem Abschluss des Hauptverfahrens Gefahren für
wichtige Gemeinschaftsgüter abzuwehren, die aus einer Berufsausübung durch den
Beschuldigten resultieren können. Denn nur wenn dies der Fall ist, stellt sich die als
Präventivmaßnahme mit Sofortwirkung ausgestaltete Anordnung nach § 132 a StPO
als Ausdruck der Schrankenregelung des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE
44, 105 <118>; 48, 292 <298> zu vorläufigen Berufsverboten nach der BRAO; OLG
Karlsruhe, StV 1985, S. 49 <50>; OLG Oldenburg, NJW-RR 1997, S. 1287; Boujong,
in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 132 a Rn. 4; Pfeiffer, StPO,
5. Aufl. 2005, § 132 a Rn. 1; Müller, in: KMR-Kommentar zur StPO, Stand: 40. Lfg.
, § 132 a Rn. 3; Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl.
1. September 1996>, § 132 a Rn. 7; im Ergebnis auch BGHSt 28, 84 <86>; a.A.
Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. 2005, § 132 a Rn. 3). Die Gefahrenlage und die
Notwendigkeit, der Gefährdungssituation durch die Verhängung eines vorläufigen
Berufsverbots entgegenzuwirken, hat das Gericht in seiner Entscheidung darzulegen
und zu erörtern (vgl. OLG Düsseldorf, StV 1984, S. 234; OLG Brandenburg, StV 2001,
S. 106). Gleiches gilt für die gesetzlichen Voraussetzungen des § 132 a StPO und die
Angemessenheit der gerichtlichen Maßnahme im konkreten Einzelfall (vgl. OLG
Bremen, StV 1997, S. 9).
2. Diesen Begründungserfordernissen wird der Beschluss des Landgerichts vom 29.
März 2005 nicht gerecht.
Die Beschlussgründe benennen in nicht hinreichendem Maße Tatsachen, aus
denen auf das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr geschlossen werden könnte.
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Der Umstand, dass die Strafkammer den Beschwerdeführer für dringend verdächtig
hält, zwei berufsbezogene Taten begangen zu haben, begründet für sich gesehen
noch nicht die gesicherte Erwartung, er werde auch in Zukunft im Zusammenhang mit
der von ihm ausgeübten Tätigkeit strafrechtlich erheblich in Erscheinung treten. Auch
d e r Umstand, dass der Beschwerdeführer wegen Nichtabgabe der
Einkommensteuererklärung
vorbestraft
ist,
indiziert
keine solche
Wiederholungsgefahr.
Die
abgeurteilten
Steuervergehen waren
keine
berufsbezogenen Taten (vgl. KG, JR 1980, S. 247; Hanack, in: Leipziger Kommentar
zum StGB, 11. Aufl. , § 70 Rn. 31; offengelassen in BGHR,
StGB § 70 Abs. 1 Pflichtverletzung 3), weshalb sie keinen Rückschluss auf eine
Neigung des Beschwerdeführers zulassen, die Ausübung seines Berufs zur
Begehung von Straftaten auszunutzen. Darüber hinaus ist der Entscheidung des
Landgerichts nicht zu entnehmen, dass das Berufsverbot erforderlich war, um vom
Beschwerdeführer
ausgehenden
konkreten
Gefahren
für
wichtige
Gemeinschaftsgüter entgegen zu wirken.
Diese Darlegungs- und Begründungsmängel zwingen zur Aufhebung des
landgerichtlichen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache zu erneuter
Entscheidung.
Da die Verfassungsbeschwerde überwiegend Erfolg hat, hat das Land Nordrhein-
Westfalen dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen in vollem Umfang zu
erstatten (vgl. BVerfGE 32, 1 <39>).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Di Fabio
Landau