Urteil des BVerfG vom 22.10.2014

Vertraglich vereinbarte Loyalitätsobliegenheiten in kirchlichen Arbeitsverhältnissen unterliegen weiterhin nur eingeschränkter Überprüfung durch die staatlichen Gerichte

L e i t s ä t z e
zum Beschluss des Zweiten Senats vom 22. Oktober 2014
- 2 BvR 661/12 -
1. Soweit sich die Schutzbereiche der Glaubensfreiheit und der inkorporierten
Artikel der Weimarer Reichsverfassung überlagern, geht Art. 140 GG in
Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV als speziellere Norm Art. 4 Abs. 1 und 2
GG insoweit vor, als er das Selbstbestimmungsrecht der
Religionsgesellschaften der Schranke des für alle geltenden Gesetzes
unterwirft (sog. Schrankenspezialität). Bei der Anwendung des für alle
geltenden Gesetzes durch die staatlichen Gerichte ist bei Ausgleich
gegenläufiger Interessen aber dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Art. 4
Abs. 1 und 2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet
und insofern dem Selbstbestimmungsrecht und dem Selbstverständnis der
Religionsgesellschaften besonderes Gewicht zuzumessen ist.
2. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht umfasst alle Maßnahmen, die der
Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne kirchlichen
Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der
Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen. Die Formulierung des
kirchlichen Proprium obliegt allein den Kirchen und ist als elementarer
Bestandteil der korporativen Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
verfassungsrechtlich geschützt.
3. Die staatlichen Gerichte haben im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle auf
der Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten
Kirche zu überprüfen, ob eine Organisation oder Einrichtung an der
Verwirklichung des kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte
Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines kirchlichen Glaubenssatzes ist und
welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen
nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt. Sie haben sodann unter
dem Gesichtspunkt der Schranken des "für alle geltenden Gesetzes" eine
Gesamtabwägung vorzunehmen, in der die - im Lichte des
Selbstbestimmungsrechts der Kirchen verstandenen - kirchlichen Belange
und die korporative Religionsfreiheit mit den Grundrechten der betroffenen
Arbeitnehmer und deren in den allgemeinen arbeitsrechtlichen
Schutzbestimmungen enthaltenen Interessen auszugleichen sind. Die
widerstreitenden Rechtspositionen sind dabei jeweils in möglichst hohem
- Bevollmächtigte: 1. Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M.,
2. Prof. Dr. Wolfgang Rüfner,
Hagebuttenstraße 26, 53340 Meckenheim -
Maße zu verwirklichen.
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 661/12 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der C...,
gegen a) das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2011 - 2 AZR
543/10 -,
b) das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 1. Juli 2010 - 5 Sa
996/09 -,
c) das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 30. Juli 2009 - 6 Ca
2377/09 -
hat das Bundesverfassungsgericht - Zweiter Senat - unter Mitwirkung der
Richterinnen und Richter
Präsident Voßkuhle,
Landau,
Huber,
Hermanns,
Müller,
Kessal-Wulf,
König
1
2
am 22. Oktober 2014 beschlossen:
1. Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2011 - 2 AZR 543/10 -
verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 4 Absatz 1
und Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 140 des Grundgesetzes und Artikel
137 Absatz 3 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 (Weimarer
Reichsverfassung). Das Urteil wird aufgehoben. Die Sache wird an das
Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.
2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde verworfen.
3. Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin ein Drittel ihrer
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
A.
Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist die Frage, in welchem Umfang die
arbeitsvertragliche Festlegung glaubensbezogener Loyalitätserwartungen durch
einen kirchlichen Arbeitgeber und die Gewichtung eines durch den Arbeitnehmer
hiergegen begangenen Verstoßes im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens
der eigenständigen Überprüfung und Beurteilung seitens der staatlichen Gerichte
zugänglich sind.
I.
1. Die Arbeit im sozial-karitativen Sektor, vor allem in der Kranken- und Altenpflege,
der Behindertenbetreuung sowie der Kinder- und Jugenderziehung stellt neben der
Verkündigung des Evangeliums und der Feier der Eucharistie einen
Tätigkeitsschwerpunkt der christlichen Kirchen dar. Die Aufgabenwahrnehmung
erfolgt dabei entweder unmittelbar durch kirchliche Untergliederungen oder durch
rechtlich verselbständigte Vereinigungen und Einrichtungen, die überwiegend in den
Wohlfahrtsverbänden der Caritas (römisch-katholische Kirche) und der Diakonie
(evangelische Landeskirchen) zusammengeschlossen sind. Die Wohlfahrtsverbände
und die einzelnen Träger der Einrichtungen sind regelmäßig als juristische Personen
des Privatrechts organisiert. Deren ideelle und organisatorische Verbindungen zur
jeweiligen Kirche werden meist durch Satzungsbestimmungen geregelt, die die
inhaltliche und personelle Ausrichtung auf die verfasste Kirche festlegen.
3
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5
6
Seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Zahl der kirchlichen
Arbeitnehmer sprunghaft angewachsen. Ursachen dieser Entwicklung sind zum
einen die gesellschaftlich bedingte Ausweitung kirchlich getragener Tätigkeiten, vor
allem im Bereich der Wohlfahrtspflege, die eine zunehmende Professionalisierung
der Mitarbeiter erforderte, zum anderen die kontinuierlich abnehmende Zahl der
Angehörigen von Orden und ähnlichen Gemeinschaften, die früher zahlreiche Sozial-
und Bildungseinrichtungen betrieben hatten (vgl. Isensee, in: Listl/Pirson, Handbuch
des Staatskirchenrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59, S. 665 <672 f.>). Aufgrund dieser
Entwicklung erwies es sich für die Kirchen als unausweichlich, in großem Umfang
auch fremdkonfessionelle und nichtchristliche Arbeitnehmer in den kirchlichen Dienst
einzubeziehen, um den steigenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften zu decken.
2. Der Gesamtheit des kirchlichen Dienstes liegt nach dem Selbstverständnis der
christlichen Kirchen das Leitbild der Dienstgemeinschaft zugrunde (vgl. hierzu
bereits: BVerfGE 53, 366 <403 f.>; 70, 138 <165>). Es beschreibt die
kirchenspezifische Besonderheit
ihres
Dienstes,
die
sich
auf
ein
Gemeinschaftsverhältnis zwischen kirchlichem Arbeitgeber und kirchlichem
Arbeitnehmer bezieht und auf die religiöse Bindung des Auftrags kirchlicher
Einrichtungen gerichtet ist. Grundgedanke der Dienstgemeinschaft ist die gemeinsam
getragene Verantwortung aller im kirchlichen Dienst Tätigen - sei es als Arbeitgeber
oder Arbeitnehmer, leitend oder untergeordnet, verkündigungsnah oder unterstützend
- für den Auftrag der Kirche (vgl. Keßler, in: Festschrift für Wolfgang Gitter, 1995, S.
461 <465>).
Nach dem Selbstverständnis der Kirchen erfordert der Dienst am Herrn die
Verkündigung des Evangeliums (Zeugnis), den Gottesdienst (Feier) und den aus dem
Glauben erwachsenden Dienst am Mitmenschen (Nächstenliebe). Wer in
Einrichtungen tätig wird, die der Erfüllung eines oder mehrerer dieser christlichen
Grunddienste zu dienen bestimmt sind, trägt demnach dazu bei, dass diese
Einrichtungen ihren Teil am Heilswerk Jesu Christi leisten und damit den
Sendungsauftrag seiner Kirche erfüllen können (vgl. Richardi, Arbeitsrecht in der
Kirche, 6. Aufl. 2012, § 4 Rn. 10; Zweites Vatikanisches Konzil, Apostolicam
Actuositatem <"Dekret über das Laienapostolat">, Art. 2, zum römisch-katholischen
Verständnis).
3. Zum Schutz der Integrität der Dienstgemeinschaft und zur Wahrung der
Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung in der Öffentlichkeit nehmen
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kirchliche Arbeitgeber für sich in Anspruch, arbeitsvertraglich gegenüber ihren
Arbeitnehmern besondere Loyalitätserwartungen einzufordern, um die Beachtung der
tragenden Grundsätze ihrer jeweiligen Glaubens- und Sittenlehre zu gewährleisten.
a) Diese sogenannten Loyalitätsobliegenheiten begründen nicht vertragliche
Nebenpflichten in Bezug auf die Erbringung der rechtsgeschäftlich zugesagten
Dienstleistung, sondern betreffen allgemein das - auch außerdienstliche - Verhalten
des Arbeitnehmers (vgl. Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 6. Aufl. 2012, § 6 Rn. 24,
m.w.N.). Ihnen fehlt regelmäßig die "Qualität erzwingbarer Rechtspflichten" (BVerfGE
70, 138 <141>). Ihre Missachtung durch den Arbeitnehmer führt jedoch unter
Umständen dazu, dass die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem illoyalen
Mitarbeiter für den kirchlichen Arbeitgeber unzumutbar wird und ihn zur Kündigung
berechtigt.
b) Inhalt und Umfang der arbeitsrechtlichen Loyalitätsobliegenheiten können sich
über
die
gesetzlichen Kündigungsvorschriften auf den Bestand des
Arbeitsverhältnisses auswirken. Im Falle der Verletzung einer Loyalitätsobliegenheit
kommt sowohl eine ordentliche (§ 1 Abs. 1 KSchG) als auch eine außerordentliche
(§ 626 Abs. 1 BGB) Kündigung des Arbeitsverhältnisses in Betracht. Ab Mitte der
1970er Jahre entwickelte sich unter sukzessiver Aufgabe früherer Ansätze in der
Rechtsprechung (vgl. BAGE 2, 279 ff.) eine neue höchstrichterliche Rechtsprechung
d e s Bundesarbeitsgerichts,
nach
der
die
Festlegung
besonderer
Loyalitätsobliegenheiten nur noch für solche kirchlichen Arbeitnehmer möglich sein
sollte, deren Tätigkeit in unmittelbarem Zusammenhang mit dem kirchlichen
Verkündigungsauftrag stand (vgl. BAG, Urteil vom 25. April 1978 - 1 AZR 70/76 -,
juris, Rn. 33; Urteil vom 4. März 1980 - 1 AZR 125/78 -, juris, Rn. 26; Urteil vom 14.
Oktober 1980 - 1 AZR 1274/79 -, juris, Rn. 43 ff.; Urteil vom 21. Oktober 1982 - 2 AZR
591/80 -, juris, Rn. 36 f.; Urteil vom 23. März 1984 - 7 AZR 249/81 -, juris, Rn. 39;
Urteil vom 31. Oktober 1984 - 7 AZR 232/83 -, juris, Rn. 32). Die Feststellung, ob eine
solche "kirchenspezifische" Tätigkeit im konkreten Einzelfall vorlag, sollte hierbei - in
Anlehnung an die Rechtsprechung zur Kündigung von Tendenzträgern in
Tendenzbetrieben - der vollumfänglichen Überprüfung durch die staatlichen
Arbeitsgerichte unterliegen (vgl. nur: BAG, Urteil vom 14. Oktober 1980 - 1 AZR
1274/79 -, juris, Rn. 45; Urteil vom 21. Oktober 1982 - 2 AZR 591/80 -, juris, Rn. 36 f.).
c) Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat durch Beschluss vom
4. Juni 1985 (BVerfGE 70, 138 ff.) festgestellt, dass diese arbeitsgerichtliche
Rechtsprechung gegen das kirchliche Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 GG i.V.m.
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Art. 137 Abs. 3 WRV) verstößt und den verfassten Kirchen grundsätzlich die
verbindliche Entscheidung darüber zugesprochen, was "die Glaubwürdigkeit der
Kirche und ihrer Verkündigung erfordert", was "spezifisch kirchliche Aufgaben" sind,
was "Nähe" zu ihnen bedeutet, welches die "wesentlichen Grundsätze der Glaubens-
und Sittenlehre" sind und was als - gegebenenfalls schwerer - Verstoß gegen diese
anzusehen ist. An diese Einschätzung seien die Arbeitsgerichte gebunden, es sei
denn, sie begäben sich dadurch in Widerspruch "zu Grundprinzipien der
Rechtsordnung" (so BVerfGE 70, 138 <168>; vgl. auch: BVerfG, Beschluss der 1.
Kammer des Ersten Senats vom 31. Januar 2001 - 1 BvR 619/92 -, juris; Beschluss
der 2. Kammer des Ersten Senats vom 7. März 2002 - 1 BvR 1962/01 -, juris).
d) Für die römisch-katholische Kirche verabschiedete die Gesamtheit der deutschen
(Erz-)Bischöfe am 22. September 1993 eine Fortschreibung der "Erklärung der
deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst" (nachfolgend: Erklärung) sowie die
"Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse"
(nachfolgend: Grundordnung, GrO), durch die in Ausübung des kirchlichen
Selbstbestimmungsrechts die verfassungsgerichtlich anerkannten Freiräume durch
eine
eigene
kirchenrechtliche Regelung in einer zugleich rechts- und
sozialstaatlichen Anforderungen genügenden Weise ausgefüllt werden sollten (vgl.
Dütz, NJW 1994, ,S. 1369 <1369>). Ausgehend vom Leitbild der christlichen
Dienstgemeinschaft setzt die Grundordnung die grundlegenden Aussagen der
Erklärung zur Eigenart des kirchlichen Dienstes, zu den Anforderungen an Träger
und Leitung kirchlicher Einrichtungen sowie an die Mitarbeiter, zur Koalitionsfreiheit
und zum besonderen Regelungsverfahren zur Beteiligung der Mitarbeiter an der
Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse (sogenannter Dritter Weg) sowie zum
gerichtlichen Rechtsschutz normativ um.
Die wesentlichen Vorschriften der Grundordnung betreffend die Auferlegung von
Loyalitätsobliegenheiten und die arbeitsrechtliche Ahndung von Verstößen hiergegen
lauten:
Art. 1. Grundprinzipien des kirchlichen Dienstes
Alle in einer Einrichtung der katholischen Kirche Tätigen tragen
durch ihre Arbeit ohne Rücksicht auf die arbeitsrechtliche Stellung
gemeinsam dazu bei, dass die Einrichtung ihren Teil am
Sendungsauftrag der Kirche erfüllen kann (Dienstgemeinschaft). Alle
Beteiligten, Dienstgeber sowie leitende und ausführende
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, müssen anerkennen und ihrem
H a n d e l n zugrunde legen, dass Zielsetzung und Tätigkeit,
Organisationsstruktur und Leitung der Einrichtung, für die sie tätig
sind, sich an der Glaubens- und Sittenlehre und an der
Rechtsordnung der katholischen Kirche auszurichten haben.
Art. 3. Begründung des Arbeitsverhältnisses
(1) Der kirchliche Dienstgeber muss bei der Einstellung darauf
achten, dass eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter die Eigenart des
kirchlichen Dienstes bejahen. Er muss auch prüfen, ob die
Bewerberin und der Bewerber geeignet und befähigt sind, die
vorgesehene Aufgabe so zu erfüllen, dass sie der Stellung der
Einrichtung in der Kirche und der übertragenen Funktion gerecht
werden.
(2) Der kirchliche Dienstgeber kann pastorale, katechetische sowie
in der Regel erzieherische und leitende Aufgaben nur einer Person
übertragen, die der katholischen Kirche angehört.
(...)
(5) Der kirchliche Dienstgeber hat vor Abschluss des
Arbeitsvertrages
durch
Befragung
und Aufklärung
der
Bewerberinnen und Bewerber sicherzustellen, dass sie die für sie
nach dem Arbeitsvertrag geltenden Loyalitätsobliegenheiten (Art. 4)
erfüllen.
Art. 4. Loyalitätsobliegenheiten
(1) Von den katholischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird
erwartet, dass sie die Grundsätze der katholischen Glaubens- und
Sittenlehre anerkennen und beachten. Insbesondere im pastoralen,
katechetischen
und erzieherischen
Dienst
sowie
bei
Mitarbeiterinnen
und Mitarbeitern, die aufgrund einer Missio
canonica tätig sind, ist das persönliche Lebenszeugnis im Sinne der
Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre erforderlich.
Dies gilt auch für leitende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
(2) Von nichtkatholischen christlichen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern wird erwartet, dass sie die Wahrheiten und Werte des
Evangeliums achten und dazu beitragen, sie in der Einrichtung zur
Geltung zu bringen.
(...)
(4) Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben kirchenfeindliches
Verhalten zu unterlassen. Sie dürfen in ihrer persönlichen
Lebensführung
und
in
ihrem dienstlichen Verhalten die
Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der sie
beschäftigt sind, nicht gefährden.
Art. 5. Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten
(1)
Erfüllt
eine
Mitarbeiterin
oder
ein Mitarbeiter die
Beschäftigungsanforderungen nicht mehr, so muss der Dienstgeber
durch Beratung versuchen, dass die Mitarbeiterin oder der
Mitarbeiter diesen Mangel auf Dauer beseitigt. Im konkreten Fall ist
zu prüfen, ob schon ein solches klärendes Gespräch oder eine
Abmahnung, ein formeller Verweis oder eine andere Maßnahme (z.
B . Versetzung, Änderungskündigung) geeignet sind, dem
Obliegenheitsverstoß zu begegnen. Als letzte Maßnahme kommt
eine Kündigung in Betracht.
(2) Für eine Kündigung aus kirchenspezifischen Gründen sieht die
Kirche
insbesondere folgende
Loyalitätsverstöße
als
schwerwiegend an:
Verletzungen der gemäß Art. 3 und 4 von einer Mitarbeiterin oder
einem Mitarbeiter zu erfüllenden Obliegenheiten, insbesondere
Kirchenaustritt, öffentliches Eintreten gegen tragende Grundsätze
der katholischen Kirche (z.B. hinsichtlich der Abtreibung) und
schwerwiegende persönliche sittliche Verfehlungen,
Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der
Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe,
Handlungen, die kirchenrechtlich als eindeutige Distanzierungen
von der katholischen Kirche anzusehen sind, vor allem Abfall vom
Glauben (Apostasie oder Häresie gemäß Can. 1364 § 1 iVm. Can.
751 CIC), Verunehrung der heiligen Eucharistie (Can. 1367 CIC),
öffentliche Gotteslästerung und Hervorrufen von Haß und
Verachtung gegen Religion und Kirche (Can. 1369 CIC), Straftaten
gegen die kirchlichen Autoritäten und die Freiheit der Kirche
(insbesondere gemäß den Can. 1373, 1374 CIC).
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(3) Ein nach Abs. 2 generell als Kündigungsgrund in Betracht
kommendes
Verhalten
schließt die
Möglichkeit
einer
Weiterbeschäftigung aus, wenn es begangen wird von pastoral,
katechetisch oder leitend tätigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern
oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die aufgrund einer Missio
canonica tätig sind. Von einer Kündigung kann ausnahmsweise
abgesehen werden, wenn schwerwiegende Gründe des Einzelfalles
diese als unangemessen erscheinen lassen.
(4) Wird eine Weiterbeschäftigung nicht bereits nach Abs. 3
ausgeschlossen, so hängt im Übrigen die Möglichkeit einer
Weiterbeschäftigung von den Einzelfallumständen ab, insbesondere
vom Ausmaß einer Gefährdung der Glaubwürdigkeit von Kirche und
kirchlicher Einrichtung, von der Belastung der kirchlichen
Dienstgemeinschaft, der Art der Einrichtung, dem Charakter der
übertragenen
Aufgabe,
deren
Nähe
zum
kirchlichen
Verkündigungsauftrag, von der Stellung der Mitarbeiterin oder des
Mitarbeiters in der Einrichtung sowie von der Art und dem Gewicht
der Obliegenheitsverletzung. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob
eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter die Lehre der Kirche bekämpft
oder sie anerkennt, aber im konkreten Fall versagt.
(5)
(...)
Im
Fall
des
Abschlusses
einer
nach dem
Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen
Ehe scheidet eine Weiterbeschäftigung jedenfalls dann aus, wenn
sie unter öffentliches Ärgernis erregenden oder die Glaubwürdigkeit
der Kirche beeinträchtigenden Umständen geschlossen wird (z. B.
nach böswilligem Verlassen von Ehepartner und Kindern).
e) Vergleichbare Regelungen existieren in den meisten evangelischen
Landeskirchen. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat nach
d e m Vorbild der Grundordnung die "Richtlinie über die Anforderungen der
privatrechtlichen beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland
und des Diakonischen Werkes der EKD" vom 1. Juli 2005 erlassen.
II.
1. Die Beschwerdeführerin ist kirchliche Trägerin des katholischen V.-
Krankenhauses in D. . Seit dem 1. Januar 2000 beschäftigt sie dort den katholischen
14
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Kläger des Ausgangsverfahrens (nachfolgend: Kläger) als Chefarzt der Abteilung ..... .
Dessen
durchschnittliches
Bruttogehalt
betrug
zum Zeitpunkt
der
Kündigungserklärung ...... Euro monatlich.
a) Der Dienstvertrag vom 12. Oktober 1999 betont in seiner Präambel die nach
katholischem Verständnis zwischen allen in einer kirchlichen Einrichtung Tätigen
bestehende Dienstgemeinschaft, die von den Grundsätzen der katholischen
Glaubens- und Sittenlehre getragen werden soll und verweist zur Ausgestaltung
dessen auf die Grundordnung sowie weitere außervertragliche Regelungen:
Grundlage des Vertrages
Das V.-Krankenhaus ist ein katholisches Krankenhaus.
Mit diesem Krankenhaus erfüllt der Träger eine Aufgabe der Caritas
als eine Lebens- und Wesensäußerung der Katholischen Kirche.
Mitarbeiter im Krankenhaus leisten deshalb ihren Dienst im Geist
christlicher Nächstenliebe. Dienstgeber und alle Mitarbeiter des
Krankenhauses bilden ohne Rücksicht auf ihre Tätigkeit und
Stellung eine Dienstgemeinschaft, die vom Dienstgeber und allen
Mitarbeitern
die
Bereitschaft
zu gemeinsam getragener
Verantwortung und vertrauensvoller Zusammenarbeit fordert und
ohne Einhaltung der Grundsätze der katholischen Glaubens- und
Sittenlehre keinen Bestand haben kann.
In Anerkennung dieser Grundlage und unter Zugrundelegung der
vom Erzbischof von Köln erlassenen Grundordnung des kirchlichen
Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22.09.93
(Amtsblatt des Erzbistums Köln, S. 222), der Grundordnung für
katholische Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen vom 05.11.96
(Amtsblatt des Erzbistums Köln, S. 321), der Satzung des
Krankenhauses und dem Organisationsstatut in den jeweils
geltenden Fassungen wird folgendes vereinbart: (...)
b) § 10 des Dienstvertrages enthält nähere Bestimmungen über die Dauer und
Beendigung des Arbeitsverhältnisses:
§ 10 Vertragsdauer
(1) Der Dienstvertrag wird auf unbestimmte Zeit geschlossen.
(...)
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(4) Das Recht zur Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB
bleibt unberührt. Als wichtige Gründe zählen u. a. insbesondere:
1. (...)
2. ein grober Verstoß gegen kirchliche Grundsätze, z. B. Erklärung
des Kirchenaustritts, Beteiligung an einer Abtreibung, Leben in
kirchlich ungültiger Ehe oder eheähnlicher Gemeinschaft.
c) In der Präambel des Dienstvertrages wird auf die Grundordnung für katholische
Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1996 in der Fassung vom
27. März 2001 Bezug genommen. Diese bestimmt in Buchstabe A Ziffer 6 Satz 2 die
Dienststellung als Abteilungsarzt als leitende Aufgabe im Sinne der Grundordnung:
A. Zuordnung zur Kirche
6. Für den Träger ist die auf der Grundlage der Erklärung der
deutschen
Bischöfe
zum
kirchlichen
Dienst erlassene
"Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher
Arbeitsverhältnisse vom 22. September 1993" nebst Änderungen
und Ergänzungen verbindlich. Als leitend tätige Mitarbeiter im Sinne
der
genannten
Grundordnung gelten die Mitglieder der
Krankenhausbetriebsleitung und die Abteilungsärzte. (...)
2. a) Zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses und zu Beginn des Dienstverhältnisses
war der Kläger nach katholischem Ritus in erster Ehe verheiratet. Ende 2005 trennten
sich die Ehepartner. Zwischen 2006 und 2008 lebte der Kläger mit einer neuen
Lebensgefährtin
zusammen.
Nach den
späteren
Feststellungen
des
Landesarbeitsgerichts
war dieses ehelose Zusammenleben dem damaligen
Geschäftsführer der Beschwerdeführerin spätestens seit Herbst 2006 bekannt.
Anfang 2008 wurde die erste Ehe des Klägers nach staatlichem Recht geschieden.
b) Im August 2008 heiratete der Kläger seine Lebensgefährtin standesamtlich.
Hiervon erfuhr die Beschwerdeführerin im November 2008. Eine kirchenrechtliche
Annullierung der ersten Ehe war bis zu diesem Zeitpunkt nicht ausgesprochen
worden.
c) In der Folgezeit fanden zwischen der Beschwerdeführerin und dem Kläger
mehrere Gespräche über die Auswirkungen seiner zweiten Heirat auf den
Fortbestand des Arbeitsverhältnisses statt. Hierbei teilte der Kläger der
Beschwerdeführerin mit, dass er ein kirchengerichtliches Verfahren zur Annullierung
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seiner ersten Ehe beantragt habe. Er beabsichtige nicht, die eheliche Gemeinschaft
mit seiner ersten Ehefrau wiederherzustellen. Nach Anhörung der bestehenden
Mitarbeitervertretung kündigte die Beschwerdeführerin das Arbeitsverhältnis im März
2009 ordentlich mit Wirkung zum 30. September 2009.
3. Hiergegen erhob der Kläger Kündigungsschutzklage zum Arbeitsgericht D. . Mit
Urteil vom 30. Juli 2009 - 6 Ca 2377/09 - stellte das Arbeitsgericht fest, dass das
Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung aufgelöst worden sei und verurteilte die
Beschwerdeführerin zur Weiterbeschäftigung des Klägers.
Das Arbeitsgericht vertrat die Auffassung, dass bis zum Abschluss des
schwebenden Annullierungsverfahrens vor der kirchlichen Gerichtsbarkeit nicht
feststehe, ob dem Kläger durch die Eheschließung ein schwerwiegender
Loyalitätsverstoß vorzuwerfen sei. Zwar habe der Kläger unstreitig das Verbot der
neuen Ehe während eines schwebenden Annullierungsverfahrens (Can. 1085 § 2
CIC) missachtet. Ein Verstoß gegen diese - nach Auffassung des Gerichts als bloße
Ordnungsvorschrift zu qualifizierende - Vorgabe sei jedoch in der Grundordnung nicht
als schwerwiegender Loyalitätsverstoß genannt und damit ungeeignet, einen Grund
für die verhaltensbedingte Kündigung darzustellen. In Anbetracht dessen sei die
Kündigung auch als unverhältnismäßig anzusehen. Es sei der Beschwerdeführerin
zuzumuten gewesen, die Entscheidung über das Annullierungsverfahren vor
Ausspruch der Kündigung abzuwarten.
4. Die hiergegen von der Beschwerdeführerin eingelegte Berufung wurde durch das
Landesarbeitsgericht D mit Urteil vom 1. Juli 2010 - 5 Sa 996/09 - zurückgewiesen.
a) Das Gericht nahm zwar an, dass das Verhalten des Klägers grundsätzlich einen
geeigneten Kündigungsgrund darstelle. Insbesondere könne sich dieser entgegen
der Auffassung des Arbeitsgerichts nicht auf das schwebende Annullierungsverfahren
berufen. Auch ein Verstoß gegen Can. 1085 § 2 CIC sei generell geeignet, die
Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen.
b) Allerdings falle die im Rahmen des § 1 Abs. 2 KSchG gebotene
Interessenabwägung zu Lasten der Beschwerdeführerin aus. Diese habe den
arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz nicht ausreichend beachtet und den
Kläger hierdurch in unzulässiger Weise benachteiligt. Nach den Feststellungen der
Kammer habe die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit zumindest zwei
geschiedenen Chefärzten katholischer Konfession nach Wiederverheiratung nicht
gekündigt. Dabei sei es unbeachtlich, dass einer der Fälle bereits 30 Jahre
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zurückliege und in dem anderen Fall die Kündigung nur unterblieben sei, weil die
zweite Ehe des Arbeitnehmers erst einen Monat vor dessen altersbedingtem
Ausscheiden
aus dem Dienst bekannt geworden sei. Das Verhalten der
Beschwerdeführerin zeige jedenfalls, dass sie in der Vergangenheit offenbar bereit
gewesen sei, vergleichbare Verstöße unter bestimmten Umständen zu tolerieren.
c) Zudem habe die Beschwerdeführerin ihr Kündigungsrecht verwirkt. Es sei ihr
verwehrt, sich auf den Kündigungsgrund der ungültigen zweiten Ehe zu berufen, da
sie jahrelang den gleichwertigen Kündigungsgrund des "Lebens in eheähnlicher
Gemeinschaft" akzeptiert oder zumindest toleriert habe. Der Kläger habe in
Anbetracht der Untätigkeit der Beschwerdeführerin über einen Zeitraum von mehr als
drei Jahren darauf vertrauen können, dass sein privates Verhalten zu keinerlei
arbeitsrechtlichen Sanktionen mehr führen und die Beschwerdeführerin auf einen
gleichwertigen Loyalitätsverstoß ("ungültige Ehe") ebenfalls nicht mit einer
Kündigung reagieren werde.
5. Die Revision der Beschwerdeführerin zum Bundesarbeitsgericht wies dieses
durch Urteil vom 8. September 2011 - 2 AZR 543/10 - zurück.
a) Entgegen der Auffassung des Klägers dürfte das Kündigungsrecht der
Beschwerdeführerin nicht verwirkt sein, da eine Kündigung mit "illoyaler" Verspätung
nicht vorliege. Die Beschwerdeführerin habe nach Kenntnis von der
Wiederverheiratung noch das in der Grundordnung vorgesehene Beratungsgespräch
mit dem Kläger durchführen und verschiedene Gremien (Aufsichtsrat, Generalvikariat)
beteiligen müssen. Es sei nicht zu beanstanden, dass sie angesichts der
weitreichenden Folgen dabei umsichtig und ohne Hast vorgegangen sei. Letztlich
komme es auf eine etwaige Verwirkung des Kündigungsrechts indes nicht an. Die
Kündigung sei sozial ungerechtfertigt im Sinne von § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG.
b) Der Kläger habe allerdings durch die Wiederverheiratung gegen seine
Loyalitätsobliegenheit aus dem Arbeitsvertrag (§ 10 Abs. 4 Nr. 2) und gegen die darin
in Bezug genommene Grundordnung (Art. 5 Abs. 2 GrO) verstoßen.
Das Verlangen der Beschwerdeführerin nach Einhaltung der Vorschriften der
katholischen
Glaubens-
und Sittenlehre stehe im Einklang mit den
verfassungsrechtlichen Vorgaben. Zwar könne sich der Kläger auf das Recht auf freie
Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie auf den Schutz der Ehe
(Art. 6 Abs. 1 GG) berufen, die auch die Freiheit umfassten, eine zweite Ehe nach
staatlichem Recht einzugehen. Dabei stehe die private Lebensgestaltung in der
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Regel außerhalb der Einflusssphäre des Arbeitgebers und werde durch
arbeitsvertragliche Pflichten nur insoweit eingeschränkt, wie sich das private
Verhalten auf den betrieblichen Bereich auswirke und dort zu Störungen führe. Diese
Grundrechte könnten jedoch zu Gunsten des ebenfalls verfassungsrechtlich
verbürgten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 140 GG in Verbindung mit
Art. 137 Abs. 3 WRV) eingeschränkt werden, auf das sich die Beschwerdeführerin als
der Kirche zugeordnete karitative Einrichtung berufen könne. Die Festlegung
bestimmter Loyalitätsanforderungen in einem Arbeitsvertrag durch den kirchlichen
Arbeitgeber
stelle
eine
Ausübung
des "verfassungskräftigen"
Selbstbestimmungsrechts dar. Die Frage, welche kirchlichen Grundverpflichtungen
als Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richte sich nach
den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben, die verbindlich bestimmen
könnten, welche Schwere einzelnen Loyalitätsverstößen zukomme und ob innerhalb
der
im
kirchlichen
Dienst
tätigen
Mitarbeiter eine
Abstufung
der
Loyalitätsanforderungen stattfinde. Die Arbeitsgerichte hätten die vorgegebenen
kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung einzelner Loyalitätsanforderungen zugrunde
zu legen, soweit die Verfassung das Recht der Kirche anerkenne, hierüber selbst zu
befinden.
Durch die Eingehung seiner zweiten Ehe habe der Kläger den Grundsatz der
Unauflöslichkeit der Ehe verletzt. Dieser zähle zu den wesentlichen Grundsätzen der
katholischen Glaubens- und Sittenlehre. Für "leitend tätige" Mitarbeiter scheide nach
der maßgeblichen kirchlichen Vorgabe (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GrO) eine
Weiterbeschäftigung in diesem Falle aus.
c) Die nach § 1 Abs. 2 KSchG gebotene Abwägung der beiderseitigen Interessen
führe jedoch zu dem Ergebnis, dass der Beschwerdeführerin die Fortführung des
Arbeitsverhältnisses zumutbar sei.
aa) Zu ihren Gunsten wiege die unverkennbare Schwere des Loyalitätsverstoßes.
Die Beschwerdeführerin habe als katholische Einrichtung das vom Grundgesetz
gestützte Recht, auch als solche zu wirken und in Erscheinung zu treten. Sie verstehe
ihr karitatives Tun im Sinne der Erfüllung eines religiösen Auftrages. Nach der
katholischen Sittenlehre sei die Unauflöslichkeit der Ehe Teil der umfassenden, nicht
verfügbaren und einheitlichen Auffassung vom Menschen als Geschöpf Gottes. Dass
s i c h Menschen aufgrund einer sie verbindenden religiösen Auffassung
zusammenfänden und ihre Angelegenheiten nach Maßstäben ordnen könnten, die
nicht vom Staat oder der jeweils herrschenden öffentlichen Meinung über die Natur
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des Menschen korrigiert werden dürften, werde auch durch Art. 9 und 11 EMRK
geschützt.
bb) In seinem Gewicht entscheidend geschwächt werde das Interesse der
Beschwerdeführerin an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses jedoch durch drei
Umstände, aus denen hervorgehe, dass sie selbst die Auffassung vertrete, einer
ausnahmslosen Durchsetzung ihrer sittlichen Ansprüche zur Wahrung ihrer
Glaubwürdigkeit nicht immer zu bedürfen.
(1) So könne die Beschwerdeführerin erstens nach Art. 3 Abs. 2 GrO auch
nichtkatholische
Personen mit
leitenden
Tätigkeiten
betrauen.
Die
Beschwerdeführerin sei insofern durch die Grundordnung nicht gezwungen, ihr "Wohl
und Wehe" bedingungslos mit dem Lebenszeugnis ihrer leitenden Mitarbeiter für die
katholische Sittenlehre zu verknüpfen.
(2) Durch diese Rechtslage sei es zweitens auch zu erklären, dass die
Beschwerdeführerin mehrfach Chefärzte beschäftigt habe beziehungsweise noch
beschäftige, die als Geschiedene erneut geheiratet hätten. Es handele sich hierbei
überwiegend um nichtkatholische Arbeitnehmer und katholische Arbeitnehmer in
besonderen Lebenslagen, denen gegenüber sie von vornherein nicht die strenge
Befolgung der katholischen Glaubens- und Sittenlehre verlange. Hierin liege zwar - in
Abweichung von der Einschätzung des Landesarbeitsgerichts - kein Verstoß gegen
den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Andererseits werde hierdurch
aber deutlich, dass die Beschwerdeführerin das Ethos ihrer Organisation durch eine
differenzierte Handhabung bei der Anwendung und Durchsetzung ihres legitimen
Loyalitätsbedürfnisses selbst nicht zwingend gefährdet sehe.
(3) Drittens habe die Beschwerdeführerin nach den Feststellungen des
Landesarbeitsgerichts den nach dem Vertrag der Parteien der Wiederverheiratung
gleichwertigen Verstoß des ehelosen Zusammenlebens des Klägers seit Herbst 2006
gekannt und hingenommen. Dies zeige, dass sie selbst ihre moralische
Glaubwürdigkeit nicht ausnahmslos bei jedem Loyalitätsverstoß als erschüttert
betrachte.
cc) Jedenfalls sei der Beschwerdeführerin die Weiterbeschäftigung des Klägers
dann zumutbar, wenn dessen Belange gegen die ihren abgewogen würden.
Zugunsten des Klägers falle sein durch Art. 8 und 12 EMRK geschützter Wunsch in
die Waagschale, in einer bürgerlichen Ehe mit seiner jetzigen Frau zu leben. Freilich
habe der Kläger als Katholik durch den Vertragsschluss mit der Beschwerdeführerin
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in die Einschränkung seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens
eingewilligt; die Nichterfüllung seiner religiösen Pflichten geschehe jedoch nicht aus
einer ablehnenden oder gleichgültigen Haltung heraus. Der Kläger habe seine
ethischen Pflichten nicht in Abrede gestellt und sich zu keinem Zeitpunkt gegen die
kirchliche Sittenlehre ausgesprochen oder ihre Geltung oder Zweckmäßigkeit in
Zweifel gezogen. Im Gegenteil versuche er, den ihm nach kanonischem Recht
verbliebenen Weg zur kirchenrechtlichen Legalisierung seiner Ehe zu beschreiten.
III.
Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin Verletzungen von
Art. 4 Abs. 2 GG und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV.
1. Die Arbeitsgerichte hätten in ihren Entscheidungen die Tragweite des kirchlichen
Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf freie Religionsausübung verkannt.
a) Nach den Grundsätzen des deutschen Religionsverfassungs- und
Staatskirchenrechts dürften staatliche Gerichte nicht bewerten, ob ein bestimmtes
Verhalten tatsächlich von der jeweiligen Religion gefordert werde oder nicht. Allein
die Kirchen selbst könnten bestimmen, was die jeweilige Glaubensüberzeugung
gebiete. Umgekehrt dürfe dies von einem staatlichen Gericht auch nicht verlangt
werden, da es anderenfalls seine religiöse Neutralität, die ebenfalls Verfassungsrang
genieße, verlieren würde.
Entsprechend sei es nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4.
Juni 1985 (BVerfGE 70, 138 ff.) nicht Sache der staatlichen Arbeitsgerichte, sondern
obliege im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts allein der jeweiligen Kirche, aus
ihren
religiösen Überzeugungen
heraus
selbst
festzulegen,
welche
Loyalitätserwartungen sie an ihre Mitarbeiter stelle, was die Glaubwürdigkeit der
Kirche und ihrer Verkündigung erfordere und welches Gewicht ein Loyalitätsverstoß
habe. Die durch die Kirche insoweit verbindlich festgelegten Loyalitätsanforderungen
und die Gewichtung von Verstößen hiergegen seien durch die staatlichen Gerichte
nur darauf zu überprüfen, ob die Grundprinzipien der Rechtsordnung diesen
entgegenstünden. Eine eigenständige Gewichtung der Loyalitätsverstöße sei ihnen
jedoch verwehrt. Die von den Arbeitsgerichten vorzunehmende Abwägung habe sich
folglich auf die der Kündigung entgegenstehenden Belange aus der Sphäre des
jeweiligen Arbeitnehmers zu beschränken.
b) Die angegriffene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts werde diesen
Anforderungen
nicht gerecht. Das Revisionsurteil wiege im Rahmen der
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Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht das Selbstbestimmungsrecht mit gegenläufigen
Rechtspositionen des Arbeitnehmers ab, sondern bestimme - abweichend von den
kirchenrechtlichen Maßstäben - selbst das Gewicht des Loyalitätsverstoßes und
damit das Kündigungsinteresse der Kirche. Eine Abwägung mit den Interessen des
Klägers finde nur oberflächlich am Ende des Urteils statt. Damit verstecke das Gericht
hinter seiner Abwägungsentscheidung eine eigene Bewertung kirchenrechtlicher
Maßstäbe, von denen es inhaltlich grundlegend abweiche.
aa) Eine unzulässige Abweichung von den kirchenrechtlichen Maßstäben liege
zunächst darin, dass das Bundesarbeitsgericht als Ausgangspunkt des
Abwägungsvorgangs darauf abstelle, ob durch das Verhalten des Klägers die
Glaubwürdigkeit der Kirche in der Öffentlichkeit leide.
Schutzgut des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und der Religionsfreiheit sei
jedoch nicht vorrangig das Bild der Kirche in der Öffentlichkeit, sondern die religiöse
Überzeugung und die Freiheit, nach dieser zu leben. Das Bild der Kirche in der
Öffentlichkeit sei hiervon nur ein untergeordneter Teilaspekt. Entscheidend sei
vielmehr, ob es mit den Zielen der Kirche vereinbar sei, wenn ein (leitender)
Mitarbeiter erkennbar in Widerspruch zu den Überzeugungen und Lehren der Kirche
lebe. Dies gefährde das Wesen der Dienstgemeinschaft, die Grund und Grenze der
Besonderheiten der Zweckbestimmung des kirchlichen Dienstes darstelle. Daher
wende sich die Kirche auch unabhängig von der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit
gegen Loyalitätsverstöße, weil diese ihr Wirken und die Integrität des kirchlichen
Dienstes in Frage stellten.
bb) Zudem sei es unzulässig, in die Abwägung zugunsten des Klägers einzustellen,
das Gewicht des Interesses der Beschwerdeführerin an der Auflösung des
Arbeitsverhältnisses werde entscheidend dadurch geschwächt, dass sie auch
Nichtkatholiken in leitenden Positionen beschäftige und insofern offensichtlich nicht
gezw ungen sei, eine Führungsfunktion gleichsam bedingungslos mit dem
Lebenszeugnis für die katholische Sittenlehre zu verknüpfen.
Dies verkenne die kirchenrechtlichen Vorgaben der Grundordnung. Ob diese
sachgerecht seien, dürfe das weltliche Gericht nicht hinterfragen. Entscheidend sei
allein, dass die Kirche für die Mitarbeit an ihrem Sendungsauftrag nur Personen
zulassen wolle, die sich mit ihren Zielen identifizieren könnten. Die Argumentation
des Bundesarbeitsgerichts sei zudem in sich widersprüchlich. Einerseits erkenne es -
rechtlich zutreffend - an, dass die Kirche gegenüber nichtkatholischen Mitarbeitern
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nicht dieselben Loyalitätserwartungen formulieren könne wie gegenüber Katholiken.
Andererseits schließe es aus dieser Ungleichbehandlung, dass die römisch-
katholische Kirche ihre Grundsätze nicht mehr ernst nehme.
cc) Ebenso sei es unzulässig, darauf abzustellen, dass die Beschwerdeführerin in
anderen Fällen der Wiederverheiratung von (nichtkatholischen) Chefärzten nicht den
Schritt der Kündigung gegangen sei.
Auch
hier
habe
das
Bundesarbeitsgericht
die in Ausübung des
Selbstbestimmungsrechts in den kirchengesetzlichen Regelungen angelegte
Differenzierung zwischen Katholiken und Nichtkatholiken verkannt. Nur für den
katholischen Mitarbeiter sei die Ehe ein Sakrament. Daher stelle sich bei diesem das
Eingehen einer ungültigen Ehe als deutlich schwererer Loyalitätsverstoß dar. Indem
das
Bundesarbeitsgericht
die
Wiederverheiratung
von katholischen und
nichtkatholischen Mitarbeitern auf eine Ebene stelle, relativiere es die Einschätzung
der Kirche über die Schwere der durch den Kläger begangenen Pflichtverletzung.
dd) Ferner setze sich das Bundesarbeitsgericht über kirchenrechtliche Maßstäbe
hinweg, wenn es die Wiederheirat mit dem Leben in einer nichtehelichen
Lebensgemeinschaft gleichsetze.
Damit verkenne das Bundesarbeitsgericht, dass es sich bei der Wiederheirat um
eine Pflichtverletzung von besonders schwerwiegender und endgültiger Qualität
handele, die weit über das bloße ehelose Zusammenleben hinausgehe. Das
Kirchenrecht unterscheide dies ausdrücklich, indem Art. 5 Abs. 2 GrO nur den
Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche
ungültigen Ehe explizit als besonders schwerwiegenden Verstoß und eigenständigen
Kündigungsgrund
formuliere.
Zwar
entspreche
auch
die nichteheliche
Lebensgemeinschaft außerhalb einer weiterbestehenden gültigen Ehe nicht dem
Ethos der römisch-katholischen Kirche. Durch die Wiederheirat erreiche der
Loyalitätsverstoß jedoch eine neue Qualität: Der Bruch mit der nach kirchlichem
Recht weiterhin gültigen Ehe werde offiziell dokumentiert und perpetuiert. An diese,
dem kirchlichen Selbstverständnis entspringende Unterscheidung sei auch das
weltliche Gericht gebunden.
ee) Schließlich werde die Schwere des Loyalitätsverstoßes entgegen der Ansicht
d e s Bundesarbeitsgerichts nicht dadurch gemindert, dass der Kläger des
Ausgangsverfahrens sich nicht vom katholischen Glauben abgewendet habe.
Auch durch diesen Gesichtspunkt der Abwägungsentscheidung korrigiere das
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Auch durch diesen Gesichtspunkt der Abwägungsentscheidung korrigiere das
Gericht die kirchenrechtlich zutreffende Einschätzung, dass die Wiederheirat einen
schweren Loyalitätsverstoß darstelle, nach seiner eigenen Einschätzung und stelle
sich in die Position der Kirche. Hierzu sei es nicht befugt. Zudem verkenne es, dass
schon der objektive Tatbestand der Wiederheirat einen Loyalitätsverstoß darstelle,
ohne dass es auf eine innere Abkehr von den Werten der Kirche ankomme. Diese
würde, läge sie vor, sogar einen zusätzlichen, von der Wiederheirat unabhängigen
Loyalitätsverstoß darstellen. Dies mache auch die Systematik der Grundordnung
deutlich, indem sie die Apostasie und Häresie sowie verschiedene Formen des
öffentlichen Eintretens gegen tragende Grundsätze der Kirche als Loyalitätsverstöße
definiere, die alternativ zur Wiederheirat eine Kündigung rechtfertigen könnten. Auch
habe allein die Einleitung eines Annullierungsverfahrens nach kirchenrechtlichen
Maßstäben keine rechtfertigende oder schuldmindernde Bedeutung.
c) Auf diesen Verstößen gegen Art. 4 Abs. 2 GG und Art. 140 GG in Verbindung mit
Art. 137 Abs. 3 WRV beruhe das Urteil. Jede der durch das Gericht vorgenommenen
Gewichtungen
sei
schon
für
sich ein
tragendes
Element
der
Abwägungsentscheidung; spätestens in der Zusammenschau seien sie notwendige
Bedingung für die Erfolglosigkeit der Revision der Beschwerdeführerin. Dies gelte
umso mehr, als keine Abwägung im eigentlichen Sinne - also mit den Interessen des
Klägers - stattfinde.
2. Eine andere Bewertung sei auch nicht vor dem Hintergrund der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geboten.
a) Grundsätzlich seien die Europäische Menschenrechtskonvention und die hierzu
ergangenen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
zwar von den nationalen Gerichten so weit wie möglich bei der Rechtsanwendung zu
berücksichtigen. Eine schematische Parallelisierung sei hingegen nicht erforderlich.
Gerade im Bereich der Religionsfreiheit sei bei der Rezeption der Europäischen
Menschenrechtskonvention in die innerstaatliche Rechtsordnung Augenmaß
angebracht. Der Gerichtshof habe in seiner jüngeren Rechtsprechung wiederholt zu
erkennen gegeben, dass er bereit sei, unterschiedliche Konzeptionen der
Mitgliedstaaten in Bezug auf die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche zu
akzeptieren. So habe der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 6. Dezember 2011 (
Baudler u.a. v. Deutschland) einen ausgeprägten Schutz des kirchlichen
Selbstbestimmungsrechts anerkannt und es als mit Art. 6 EMRK vereinbar
angesehen, dass ein staatlicher Rechtsweg zur Überprüfung rein innerkirchlicher
Angelegenheiten in Deutschland nicht bestehe.
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Zudem sei zu berücksichtigen, dass es sich im vorliegenden Falle um ein
mehrpoliges Grundrechtsverhältnis handele, bei dem ein "Mehr" an Freiheit für einen
Grundrechtsträger zugleich ein "Weniger" für einen anderen bedeute. Diese
Grundrechtskollision
wirke als
Rezeptionshemmnis,
zumal
auch
die
Menschenrechtskonvention selbst eine Einschränkung des Grundrechtsschutzes auf
Grundlage ihrer Garantien verbiete (Art. 53 EMRK).
b) Aber auch die zum kirchlichen Arbeitsrecht ergangene Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte selbst erfordere keine Abkehr von
den durch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 4. Juni 1985
entwickelten Maßstäben.
aa) In der Entscheidung Obst v. Deutschland vom 23. September 2010 habe der
Gerichtshof den Ansatz des deutschen Arbeitsrechts gebilligt, bei der Bewertung der
Schwere des Loyalitätsverstoßes auf die Bedeutung ehelicher Treue für die den
Arbeitnehmer kündigende Kirche abzustellen. Auch habe der Gerichtshof es als
zulässig erachtet, dass die Kirchen gegenüber ihren Angestellten weitergehende
Loyalitätspflichten als andere Arbeitgeber definieren würden.
bb) Gleiches gelte hinsichtlich der Entscheidung Siebenhaar v. Deutschland vom 3.
Februar 2011.
cc) Schließlich stehe die Entscheidung Schüth v. Deutschland vom 23. September
2010 diesem Maßstab nicht entgegen, wenn auch der Gerichtshof im konkreten
Einzelfall zur Konventionswidrigkeit der deutschen Gerichtsurteile gelangt sei. Der
Gerichtshof habe lediglich die unzureichende Abwägung der Fachgerichte mit den
Rechtspositionen des Arbeitnehmers beanstandet, die tatsächlich nur oberflächlich
und ohne inhaltliche Konkretisierungen vorgenommen worden sei. Zudem sei der
konkrete Abwägungsvorgang unzureichend dargelegt worden. Weitergehende
Anforderungen
an
den
Abwägungsprozess,
etwa eine Prüfung der
Verhältnismäßigkeit der Loyalitätsanforderungen oder gar deren volle gerichtliche
Kontrolle, seien durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jedoch
nicht aufgestellt worden.
IV.
1. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Bundesministerium der Justiz, dem
Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Justizministerium des Landes
Nordrhein-Westfalen, der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts, dem Kommissariat
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der deutschen Bischöfe, dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem
Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R., dem Marburger Bund e.V.
(Bundesverband) und dem Kläger des Ausgangsverfahrens zugestellt und
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
a) Die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts verteidigt die angefochtene
Revisionsentscheidung
vom
8. September 2011. Der 2. Senat des
Bundesarbeitsgerichts habe aus § 1 Abs. 2 KSchG in Übereinstimmung mit der
ständigen Rechtsprechung der übrigen Senate des Gerichts ein zweistufiges
Prüfprogramm abgeleitet, nach dem eine Kündigung aus in der Person oder im
Verhalten des Arbeitnehmers liegenden Gründen im Anwendungsbereich des KSchG
nur dann sozial gerechtfertigt sei, wenn der Arbeitnehmer für die vertraglich
geschuldete Tätigkeit ungeeignet sei oder eine Vertragspflicht erheblich verletzt habe
(erste Stufe) und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen
beider Vertragsteile billigenswert und angemessen erscheine (zweite Stufe).
Auf beiden Stufen habe der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts in Übereinstimmung
mit
den verfassungsgerichtlichen Vorgaben und unter Orientierung an der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das kirchliche
Selbstbestimmungsrecht angemessen berücksichtigt. Dies gelte auch für die
Abwägungsentscheidung,
in
die
das
Selbstbestimmungsrecht als
abwägungserheblicher Belang eingestellt worden sei. Diese Vorgehensweise
erlaube differenzierte Abwägungsergebnisse, die im konkreten Einzelfall zu Lasten
der Beschwerdeführerin erfolgt seien. Dies zeige auch der Vergleich zur
Entscheidung vom 25. April 2013 (- 2 AZR 579/12 - NZA 2013, S. 1131 ff.), in der der
2. Senat des Bundesarbeitsgerichts im Falle des Kirchenaustritts festgestellt habe,
dass die Kündigung eines im verkündigungsnahen Bereich eingesetzten kirchlichen
Arbeitnehmers gerechtfertigt gewesen sei. In diesem Einzelfall habe die Abwägung
dazu geführt, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit des kirchlichen
Arbeitnehmers sowie dessen Beschäftigungsdauer und Lebensalter hinter das
Selbstbestimmungsrecht des kirchlichen Arbeitgebers zurückzutreten habe, weil der
gekündigte
Arbeitnehmer
nicht
nur
in
einzelnen
Punkten kirchlichen
Loyalitätsanforderungen nicht mehr gerecht geworden sei, sondern sich durch den
Austritt insgesamt von der kirchlichen Glaubensgemeinschaft losgesagt habe.
b) Der gemäß § 94 Abs. 3 BVerfGG am Verfahren beteiligte Kläger des
Ausgangsverfahrens ist der Auffassung, dass der Verfassungsbeschwerde kein
Erfolg zu bescheiden sei.
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Es genüge zur Wahrung der geschützten Verfassungsrechtspositionen des
Arbeitnehmers nicht, nur bei einem Widerspruch zu den Grundprinzipien der
Rechtsordnung eine Einschränkung der kirchlichen Autonomie zuzulassen und
dementsprechend bei der im Kündigungsschutzprozess vorzunehmenden Abwägung
der beiderseitigen Interessen die autonom von den Kirchen bestimmte Gewichtung
der Loyalitätspflichten zu betonen. Vielmehr müssten sich die kirchliche Autonomie
und speziell die ihren Arbeitnehmern abverlangten Loyalitätspflichten von vornherein
eine Kontrastierung mit den entgegenstehenden Grundrechten der kirchlichen
Arbeitnehmer gefallen lassen, die durch Gewichtung der auf dem Spiel stehenden
Verfassungsrechtsgüter,
durch
Berücksichtigung ihrer Wechselwirkung und
schließlich durch Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit dem Ziel der
Herstellung praktischer Konkordanz zu erfolgen habe. Soweit zur kirchlichen
Autonomie auch die Befugnis gehöre, verbindlich zu bestimmen, welches die
wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre seien, was als (schwerer)
Verstoß gegen diese anzusehen sei, sowie ob und wie innerhalb der im kirchlichen
Dienst tätigen Mitarbeiter eine Abstufung der Loyalitätspflichten eingreifen solle,
bedürfe dies mit Blick auf kollidierendes Verfassungsrecht einer Relativierung, wenn
es - wie in diesem Fall - nicht um Arbeitsrechtsverhältnisse gehe, die in spezifischer
Weise durch den religiösen Auftrag und Glauben geprägt seien. Je mehr das
jeweilige Arbeitsverhältnis durch den religiösen Auftrag und Glauben geprägt sei und,
umgekehrt, je weniger sich das jeweilige Arbeitsverhältnis von vergleichbaren
beruflichen Tätigkeiten bei nicht-kirchlichen Arbeitgebern unterscheide, könne sich
die kirchliche Autonomie mehr oder weniger gegenüber Grundrechtspositionen des
kirchlichen Arbeitnehmers durchsetzen.
Allein aus seiner leitenden Stellung könnten hinsichtlich der persönlichen Pflicht zur
Identifikation mit der katholischen Glaubens- oder Sittenlehre nicht die gleichen
Anforderungen
gestellt
werden
wie
an
diejenigen Mitarbeiter, deren
Arbeitsverhältnisse einen spezifisch religiösen Bezug aufwiesen. Andernfalls würden
eine unverhältnismäßige Begünstigung der Selbstgesetzlichkeit der Kirche und eine
nicht zu rechtfertigende Relativierung des staatlichen Schutzes von Ehe und Familie
nach Art. 6 Abs. 1 GG begründet. Schließlich könne bei der Interessenabwägung
nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich die römisch-katholische Kirche zunehmend
den Wiederverheirateten öffne und auch die Eucharistie für diese Gruppe nicht mehr
ausschließe.
c) Für die römisch-katholische Kirche hat das Kommissariat der deutschen Bischöfe
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eine Stellungnahme des Direktors des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen
Deutschlands, Prof. Dr. Ansgar Hense , vorgelegt und sich inhaltlich zu Eigen
gemacht. Dieser schließt sich den Ausführungen der Beschwerdeführerin im
Ergebnis an und vertieft ihre Argumentation.
Die Verfassung gewährleiste nicht nur das karitative Wirken der Kirchen als eine
ihrer Lebens- und Wesensäußerungen, sondern auch die grundsätzlich autonome
Ausgestaltung der kircheneigenen Angelegenheiten im Rahmen der für alle
geltenden Gesetze. Die Verwirklichung des Religiösen beschränke sich dabei nicht
nur auf eine bloß spirituelle, liturgische Seite, sondern erstrecke sich gleichermaßen
auf den religiösen Dienst in und an der Welt und umfasse auch die organisatorischen
Voraussetzungen, die nach dem jeweiligen kirchlichen Selbstverständnis erforderlich
seien, um diesen religiösen Dienst erfüllen zu können. Weder objektive noch
gesellschaftlich vorherrschende Maßstäbe dürften diese definieren, da das kirchliche
Selbstbestimmungsrecht gerade die Abwehr solch fremdbestimmter Vorgänge
verfassungsrechtlich
verbürge.
Aus diesem Grund werde das staatliche
Individualarbeitsrecht partiell modifiziert. Im Rahmen des Willkürverbots, der guten
Sitten
und
des ordre
public sei
es nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts ausschließlich den Kirchen überlassen, die konkreten
Loyalitätspflichten festzulegen, die nach dem jeweiligen Selbstverständnis
erforderlich seien, und diese auch nach ihrer Bedeutung für das kirchliche
Selbstverständnis zu gewichten. Dies beinhalte auch das Recht, darüber zu
entscheiden, ob und - bejahendenfalls - welche Abstufungen der Loyalitätspflichten
vorgenommen werden sollten. In der römisch-katholischen Kirche sei dies in Gestalt
der Grundordnung geschehen. Bei der konkreten Abwägung durch die weltlichen
Gerichte im Rahmen des Kündigungsschutzrechts werde die kirchliche Bewertung
des Loyalitätsverstoßes nicht zur quantité négligeable , sondern sei die maßgebliche
Richtschnur für die Bewertung. Mit diesen Grundsätzen stehe die Entscheidung des
Bundesarbeitsgerichts vom 8. September 2011 nicht in Einklang, weil das Gericht
eine eigene Bewertung kirchlicher Maßstäbe vornehme und es letzten Endes
unterlasse, einen Abwägungsprozess lege artis durchzuführen.
d) Der Zentralrat der Juden in Deutschland K.d.ö.R. schließt sich ebenfalls den
Ausführungen der Beschwerdeführerin an. Er betont, dass seine Situation zwar nicht
mit den Organisationsstrukturen der Großkirchen verglichen werden könne. Dennoch
seien die in der täglichen Arbeit auftretenden Fragen im Judentum vergleichbar.
Die verfassungsrechtliche Absicherung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts
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resultiere auch aus dem Erfordernis, eine uneingeschränkte Religionsausübung im
Sinne des Grundgesetzes zu gewährleisten. Dies sei aber nur möglich, wenn
Religionsgemeinschaften gerade im arbeitsrechtlichen Bereich frei darin seien, ihre
ei genen religiösen Regeln als Grundvoraussetzung für ein Arbeitsverhältnis
vorzugeben. Diese religiösen Regeln könnten höchst unterschiedlich ausgestaltet
sein, seien jedoch im Rahmen der Religionsfreiheit durch die staatlichen Stellen zu
akzeptieren, solange gültige Gesetze nicht verletzt und Menschen anderer
Religionszugehörigkeit nicht betroffen seien. Jeder Mitarbeiter, der sich unmittelbar
bei einer Religionsgemeinschaft oder einer von dieser getragenen Einrichtung
bewerbe, wisse darum, dass die Religionsgemeinschaft eigene religiöse Regeln
habe, zu deren Einhaltung er verpflichtet sei. Gehöre ein Bewerber darüber hinaus
noch der betreffenden Religionsgemeinschaft an, sei es ihm umso mehr bewusst,
dass
er
mit
Eingehung
des Beschäftigungsverhältnisses
zusätzliche
Loyalitätsverpflichtungen übernehme.
Im Falle der jüdischen Gemeinschaften in Deutschland sei daher Grundlage der
arbeitsvertraglichen Bindungen, die jüdische Religion und Kultur in Deutschland zu
leben und zu fördern sowie sozial bedürftige Juden in allen Bereichen zu
unterstützen. Dabei seien die religiösen Erfordernisse schon bei Abschluss des
Beschäftigungsverhältnisses zu berücksichtigen, da nur auf diese Weise
gewährleistet werden könne, dass jeder Mitarbeiter in seinem Aufgabenbereich in die
religiöse Dimension der jüdischen Gemeinschaft eingebunden sei. Die Bereitschaft
hierzu sei ein wesentliches Kriterium für die Mitarbeiterauswahl und werde bei
Abschluss von Beschäftigungsverhältnissen vorrangig berücksichtigt. Für eine
fruchtbare
Zusammenarbeit
innerhalb
der Religionsgemeinschaft sei es
unverzichtbar, dass alle Mitarbeiter - insbesondere die jüdischen - sich des höheren
Zwecks und des allgemeinen religiösen Zusammenhangs ihrer Tätigkeit bewusst
seien.
e) Der Marburger Bund e.V. (Bundesverband) erachtet die Verfassungsbeschwerde
im Ergebnis für aussichtslos.
aa) Er tritt allgemein der Privilegierung kirchlicher Einrichtungen entgegen.
Einrichtungen der Caritas o d e r Diakonie , die wie die Beschwerdeführerin in
marktüblicher Weise in der Gesundheitswirtschaft agierten, dürften keine kirchlichen
Sonderrechte in Anspruch nehmen. Wenn die Beschwerdeführerin die
Richtungsentscheidung getroffen habe, am Wirtschaftsleben teilzunehmen, müsse sie
sich unbeschadet ihrer Motivlage an denselben Maßstäben messen lassen, die auch
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für vergleichbare Klinikträger Geltung beanspruchten. Die unter Berufung auf die
Loyalitätsobliegenheiten in Anspruch genommene Möglichkeit, die Maßstäbe für die
Beendigung eines Arbeitsverhältnisses selbst festzulegen und durch Berufung auf
das kirchliche Selbstbestimmungsrecht der Überprüfung durch weltliche Gerichte im
Einzelfall zu entziehen, führe zu "strukturellen Defiziten" und erheblichen
arbeitsmarktlichen Verwerfungen.
Gerade
der
Vergleich
zu
dem kollektivrechtlichen
Arbeitsrechtsregelungsmechanismus belege die Widersprüchlichkeit des Handelns
kirchlich getragener Einrichtungen. Während auf dem Dritten Weg vereinbarte
Arbeitsbedingungen nach dem Willen der kirchlichen Einrichtungen durch
Einbeziehung
in
die jeweiligen Arbeitsverträge für die Gesamtheit der
Dienstgemeinschaft Geltung beanspruchen könnten, erachteten sie es im Gegensatz
hierzu jedoch für zulässig, hinsichtlich der individualarbeitsrechtlich festgesetzten
Loyalitätsobliegenheiten nach Konfession zu unterscheiden und an katholische
Mitarbeiter
strengere Loyalitätsanforderungen zu stellen. Für eine derartige
Differenzierung bestehe nach weltlichen Maßstäben keine Rechtfertigung. Zudem
liege gerade im Falle der Beschwerdeführerin ein faktischer Sanktionsverzicht durch
ihr vorangegangenes Verhalten vor. Es sei anzunehmen, dass ein in der
Vergangenheit "in allen Fällen generell geduldetes Verhalten" - hier die Wiederheirat
- unbeschadet seiner grundsätzlichen kanonischen Wertung zu einem gewissen
liberalen Verständnis bei Betroffenen und Dritten und der Erwartung entsprechenden
Umgangs mit zukünftigen gleichartigen Sachverhalten geführt habe.
bb) Das Bundesarbeitsgericht habe mit seiner Entscheidung nicht die Reichweite
des
kirchlichen Selbstbestimmungsrechts verkannt. Die Einschätzung der
Beschwerdeführerin,
die
Sachgerechtigkeit
einer
aus
dem kirchlichen
Selbstbestimmungsrecht
folgenden Wertentscheidung unterliege nicht der
Beurteilung durch das jeweils erkennende Gericht, lasse ein in Anbetracht der
kanonischen Rechtstradition zwar nachvollziehbares, in der Sache jedoch
unzutreffendes Verständnis des grundgesetzlich geschützten Rechtsschutzinteresses
erkennen. Um sicherzustellen, dass die betroffene Kündigungsentscheidung nicht auf
willkürlicher Grundlage zustande gekommen sei, stelle sich die Inbezugnahme zum
grundlegenden moralischen Regelwerk der kirchlichen Einrichtung und ihrem
bisherigen Verhalten in vergleichbar gelagerten Fällen als unumgänglich dar. Dies
gelte umso mehr, als es die Beschwerdeführerin selbst in der Hand habe, bestimmte
arbeitsrechtliche Sanktionen ohne Ermessensspielräume als zwingende Folge eines
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Fehlverhaltens des Arbeitnehmers zu definieren und auszugestalten. Schon aus
diesem Grund müssten die weltlichen Gerichte ermächtigt sein, die Stringenz und
Konsistenz des bisherigen Verhaltens einer kirchlichen Einrichtung in vergleichbaren
Fällen in ihre Betrachtungen einzustellen. Anderenfalls beschränke sich der
gerichtliche Entscheidungsspielraum auf eine rein formale Überprüfung, die weder
den Anforderungen des deutschen Kündigungsschutzrechts noch den europa- und
völkerrechtlichen Vorgaben gerecht werde.
f) Die übrigen Äußerungsberechtigten und sachverständigen Dritten haben von
einer Stellungnahme abgesehen.
2. Die Beschwerdeführerin und der Kläger des Ausgangsverfahrens haben von der
Möglichkeit
zur
weiteren Äußerung nach Kenntnis der eingegangenen
Stellungnahmen Gebrauch gemacht. Sie bekräftigen ihre jeweiligen Auffassungen
und vertiefen ihren Vortrag. Nach Mitteilung der Beschwerdeführerin ist das durch den
Kläger des Ausgangsverfahrens angestrengte kirchengerichtliche Verfahren zur
Annullierung seiner ersten Ehe in zwei Instanzen erfolglos geblieben. Der Kläger des
Ausgangsverfahrens hat hierzu keine weiteren Angaben gemacht.
3. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben dem Senat bei der
Entscheidungsfindung vorgelegen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist nur zulässig, soweit sie sich gegen das Urteil des
Bundesarbeitsgerichts wendet. Im Übrigen genügt ihre Begründung nicht den
gesetzlichen Anforderungen (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG), da sie sich
ausschließlich mit der Revisionsentscheidung, nicht jedoch mit den Entscheidungen
des Arbeitsgerichts und des Landesarbeitsgerichts auseinandersetzt.
C.
Soweit sie zulässig ist, ist die Verfassungsbeschwerde begründet.
I.
Umfang und Grenzen der Auferlegung von Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher
Arbeitnehmer in mit der Kirche verbundenen Organisationen und Einrichtungen und
deren Überprüfung durch die staatlichen Arbeitsgerichte bestimmen sich nach
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Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 der deutschen Verfassung vom
11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung, WRV) und der korporativen
Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (1.). Die staatlichen Gerichte haben auf
einer ersten Prüfungsstufe zunächst im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle auf der
Grundlage des glaubensdefinierten Selbstverständnisses der verfassten Kirche zu
überprüfen, ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des
kirchlichen Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck
eines
kirchlichen
Glaubenssatzes
ist
und
welches
Gewicht dieser
Loyalitätsobliegenheit und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen
Selbstverständnis zukommt (2.a.). Auf einer zweiten Prüfungsstufe ist sodann unter
d e m Gesichtspunkt der Schranken des "für alle geltenden Gesetzes" eine
Gesamtabwägung vorzunehmen, in der die - im Lichte des Selbstbestimmungsrechts
der Kirchen verstandenen - kirchlichen Belange und die korporative Religionsfreiheit
mit den Grundrechten der betroffenen Arbeitnehmer und deren in den allgemeinen
arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen enthaltenen Interessen auszugleichen sind.
Die widerstreitenden Rechtspositionen sind dabei jeweils in möglichst hohem Maße
zu verwirklichen (2.b.). Ob die Arbeitsgerichte den Einfluss der Grundrechte
ausreichend beachtet haben, unterliegt gegebenenfalls der Überprüfung durch das
Bundesverfassungsgericht. Für den Fall, dass Grundrechtsbestimmungen unmittelbar
ausgelegt und angewandt werden, hat es dabei Reichweite und Grenzen der
Gru n d re c h te zu
bestimmen
und
festzustellen,
ob
Grundrechte
und
Verfassungsbestimmungen ihrem Umfang und Gewicht nach in verfassungsrechtlich
zutreffender Weise berücksichtigt worden sind (3.). Die Europäische Konvention zum
Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geben insoweit keinen Anlass zu
Modifikationen der Auslegung des Verfassungsrechts (4.).
1. Die Grundentscheidung der Verfassung für ein freiheitliches Religions- und
Staatskirchenrecht wird durch Verfassungsgewährleistungen sichergestellt, deren
inhaltliche Schutzbereiche sich teilweise überschneiden und hierdurch wechselseitig
ergänzen. In ihrer Zusammenschau sind sie unterschiedliche Akzentuierungen
derselben verfassungsrechtlich gewährten Freiheit (vgl. Isensee, in: Festschrift für
Klaus Obermayer, 1986, S. 203 <205>).
a) Die durch Art. 140 GG inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung sind
vollgültiges Verfassungsrecht und von gleicher Normqualität wie die sonstigen
Verfassungsbestimmungen (vgl. BVerfGE 19, 206 <219>; 19, 226 <236>; 111, 10
84
85
<50>). Sie sind - mit Selbststand gegenüber der korporativen Religionsfreiheit des
Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - untrennbarer Bestandteil des Religions- und
Staatskirchenrechts des Grundgesetzes, welches das für eine freiheitliche
Demokratie wesentliche Grundrecht der Religionsfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt in
den Katalog der Grundrechte übernommen und es so gegenüber der Weimarer
Reichsverfassung erheblich gestärkt hat (vgl. BVerfGE 102, 370 <387 m.w.N.>).
Beide Gewährleistungen bilden ein organisches Ganzes (vgl. BVerfGE 70, 138
<167>;
125, 39 <80>; Listl, in: ders./Pirson , Handbuch des
Staatskirchenrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 14 S. 439 <444 f.>), wobei Art. 4 Abs. 1
und 2 GG den leitenden Bezugspunkt des deutschen staatskirchenrechtlichen
Systems darstellt (vgl. BVerfGE 102, 370 <393>).
Zwischen der Glaubensfreiheit und den inkorporierten Normen der Weimarer
Reichsverfassung besteht eine interpretatorische Wechselwirkung (vgl. Stern, Das
Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 1. Aufl. 2011, § 119, S. 1167).
Die Weimarer Kirchenartikel sind einerseits funktional auf die Inanspruchnahme und
Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt (vgl. BVerfGE 42, 312
<322>; 102, 370 <387>; 125, 39 <74 f., 80>) und in dessen Lichte auszulegen, da sie
das Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche regeln (Art. 137 Abs. 1 WRV). Sie
enthalten in Gestalt des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 137 Abs. 3 WRV)
und verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkte zu den Grundsätzen der religiös-
weltanschaulichen Neutralität des Staates und der Parität der Religionen und
Bekenntnisse (vgl. BVerfGE 102, 370 <390, 393 f.>) die Grundprinzipien des
staatskirchenrechtlichen Systems des Grundgesetzes. Andererseits wird der
Gewährleistungsgehalt des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 140 GG in Verbindung
mit den inkorporierten Artikeln der Weimarer Reichsverfassung institutionell
konkretisiert und ergänzt (BVerfGE 99, 100 <119>, vgl. auch BVerfGE 33, 23 <30 f.>;
42, 312 <322>; 83, 341 <354 f.>; 125, 39 <77 f.>; vgl. auch Stern, Das Staatsrecht der
Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 1. Aufl. 2011, § 119, S. 1167). Die Weimarer
Kirchenartikel sind also auch ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit der
korporierten Religionsgesellschaften (vgl. BVerfGE 125, 39 <79>; vgl. auch BVerfGE
102, 370 <387>, zu Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV und BVerfGE 99, 100 <119 ff.>, zu
Art. 138 Abs. 2 WRV).
Soweit sich die Schutzbereiche der inkorporierten statusrechtlichen Artikel der WRV
und der korporativen Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG überlagern (vgl.
BVerfGE 42, 312 <322>; 66, 1 <22>; zu verbleibenden Unterschieden etwa von
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Campenhausen, HStR VII, 3. Aufl. 2009, § 157, Rn. 125 m.w.N.), geht Art. 137 Abs. 3
W R V als speziellere Norm Art. 4 Abs. 1 und 2 GG insoweit vor, als er das
Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften der Schranke des für alle
geltenden Gesetzes unterwirft (zur sog. Schrankenspezialität in diesem Fall s. Morlok,
in: Dreier , GG, 3. Aufl. 2013, Art. 4, Rn. 109). Bei dem Ausgleich der
gegenläufigen Interessen ist aber dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Art. 4 Abs.
1 und 2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und insofern
dem
Selbstbestimmungsrecht
und
dem
Selbstverständnis
der
Religionsgesellschaften besonderes Gewicht zuzumessen ist.
b) Aus Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 und 4, 137 Abs. 1 WRV, Art. 4
Abs. 1 und 2, Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Art. 33 Abs. 2 GG folgt eine Pflicht des Staates
z u r weltanschaulich-religiösen Neutralität, die Grundlage des modernen,
freiheitlichen Staates ist. In einem Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher religiöser
u n d weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche
Koexistenz nur gelingen, wenn der Staat selbst in Glaubens- und Welt-
anschauungsfragen Neutralität bewahrt (vgl. BVerfGE 93, 1 <16 f.>; vgl. auch
BVerfGE 102, 370 <383>; 105, 279 <294>).
Die Pflicht zur staatlichen Neutralität in weltanschaulich-religiösen Fragen ist jedoch
nicht im Sinne eines Gebots kritischer Distanz gegenüber der Religion zu verstehen
(vgl. Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2. Aufl. 2012, § 4 Rn. 90) und darf auch mit
religiöser und weltanschaulicher Indifferenz nicht gleichgesetzt werden (vgl. von
Campenhausen, in: Listl/Pirson , Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. 1, 2.
Aufl. 1994, § 2, S. 47 <78>). Das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat ist vielmehr
gekennzeichnet durch wechselseitige Zugewandtheit und Kooperation (vgl. BVerfGE
42, 312 <330>) und ist weniger im Sinne einer strikten Trennung, sondern eher im
Sinne einer Zuordnung und Zusammenarbeit von Staat und Kirchen auf der Basis
grundrechtlicher Freiheit zu verstehen.
Über ihre Funktion als Beeinflussungsverbot (vgl. BVerfGE 93, 1 <16 f.>; 108, 282
<300>) und als Identifikationsverbot (vgl. BVerfGE 19, 206 <216>; 24, 236 <246>; 30,
415 <422>; 33, 23 <28>; 93, 1 <16 f.>; 108, 282 <299 f.>; 123, 148 <178>) hinaus
verwehrt es die Pflicht zur weltanschaulichen Neutralität dem Staat auch, Glauben
und Lehre einer Kirche oder Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten (vgl.
BVerfGE 33, 23 <29>; 108, 282 <300>). Die individuelle und korporative Freiheit, das
eigene Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und innerer
Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, würde entleert, wenn der Staat bei
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hoheitlichen Maßnahmen uneingeschränkt seine eigene Wertung zu Inhalt und
Bedeutung eines Glaubenssatzes an die Stelle derjenigen der verfassten Kirche
setzen und seine Entscheidungen auf dieser Grundlage treffen könnte.
Jede Auseinandersetzung staatlicher Stellen mit Zielen und Aktivitäten einer Kirche
oder Religionsgemeinschaft muss dieses Gebot religiös-weltanschaulicher Neutralität
wahren (vgl. BVerfGE 105, 279 <294>). Die Regelung genuin religiöser oder
weltanschaulicher Fragen, die parteiergreifende Einmischung in die Überzeugungen,
Handlungen und die Darstellung Einzelner oder religiöser und weltanschaulicher
Gemeinschaften sind dem Staat mangels Einsicht und geeigneter Kriterien untersagt
(vgl. BVerfGE 12, 1 <4>; 41, 65 <84>; 72, 278 <294>; 74, 244 <255>; 93, 1 <16>; 102,
370 <394>; 108, 279 <300>). Fragen der Lehre, der Religion und des kirchlichen
Selbstverständnisses gehen den Staat grundsätzlich nichts an. Er ist vielmehr
verpflichtet, auf die Grundsätze der Kirchen und Religionsgemeinschaften Rücksicht
zu nehmen und keinen eigenen Standpunkt in der Sache des Glaubens zu
formulieren (von Campenhausen, in: Listl/Pirson , Handbuch des
Staatskirchenrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 2, S. 47 <78>). Die Eigenständigkeit der
kirchlichen Rechtsordnung hat er zu respektieren.
c) Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist in Art. 137 Abs. 3 WRV besonders
hervorgehoben. Danach ordnet und verwaltet jede Religionsgesellschaft ihre
Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden
Gesetzes. Diese Garantie erweist sich als notwendige, rechtlich selbständige
Gewährleistung, die der Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens der Kirchen und
Religionsgemeinschaften die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben unerlässliche
Freiheit der Bestimmung über Organisation, Normsetzung und Verwaltung hinzufügt
(vgl.
BVerfGE
53,
366 <401>). Sie gilt für Kirchen und sonstige
Religionsgesellschaften unabhängig von ihrem rechtlichen Status (vgl. auch Art. 137
Abs. 7 WRV).
aa) Träger des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts sind nicht nur die Kirchen
selbst entsprechend ihrer rechtlichen Verfasstheit, sondern alle ihr in bestimmter
Weise zugeordneten Institutionen, Gesellschaften, Organisationen und Einrichtungen,
wenn und soweit sie nach dem glaubensdefinierten Selbstverständnis der Kirchen
(zur Berücksichtigung von Selbstverständnissen als Mittel zur Sicherung der
Menschenwürde und der Freiheitsrechte, vgl. Morlok, Selbstverständnis als
Rechtskriterium, 1993, S. 282 <293 ff.> und S. 426 <431 ff.>) ihrem Zweck oder ihrer
Aufgabe entsprechend berufen sind, Auftrag und Sendung der Kirchen
92
93
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95
wahrzunehmen und zu erfüllen (vgl. BVerfGE 46, 73 <85 ff.>; 53, 366 <391>; 57, 220
<242>; 70, 138 <162>).
(1) Der Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts bezieht sich dabei nicht
nur auf die der Kirche zugeordnete Organisation im Sinne einer juristischen Person,
sondern erstreckt sich auch auf die von dieser Organisation getragenen
Einrichtungen, also auf die Funktionseinheit, durch die der kirchliche Auftrag seine
Wirkung entfalten soll (vgl. BVerfGE 53, 366 <398 f.>). Dies gilt unbeschadet der
Rechtsform der einzelnen Einrichtung auch dann, wenn der kirchliche Träger sich
privatrechtlicher Organisationsformen bedient (vgl. BVerfGE 46, 73 <85 ff.>; 53, 366
<391>; 57, 220 <242>; 70, 138 <162>). Die durch das Grundgesetz gewährleistete
Freiheit der Kirche vom Staat schließt ein, dass sie sich zur Erfüllung ihres Auftrags
grundsätzlich auch der Organisationsformen des staatlichen Rechts bedienen kann,
ohne dass dadurch die Zugehörigkeit der auf einer entsprechenden Rechtsgrundlage
gegründeten Einrichtung zur Kirche aufgehoben wird (vgl. BVerfGE 57, 220 <243>).
(2) Nicht jede Organisation oder Einrichtung, die in Verbindung zur Kirche steht,
unterfällt indes dem Privileg der Selbstbestimmung. Voraussetzung einer wirksamen
Zuordnung ist vielmehr, dass die Organisation oder Einrichtung teilnimmt an der
Verwirklichung des Auftrages der Kirche, im Einklang mit dem Bekenntnis der
verfassten Kirche steht und mit ihren Amtsträgern und Organwaltern in besonderer
Weise verbunden ist (BVerfGE 46, 73 <87>; 70, 138 <163 ff.>).
Von daher ist für eine sich auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht (Art. 4 Abs. 1
und 2 i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV) berufende Organisation oder
Einrichtung unabdingbar, dass die religiöse Zielsetzung das bestimmende Element
ihrer Tätigkeit ist. Ganz überwiegend der Gewinnerzielung dienende Organisationen
und Einrichtungen können demgegenüber das Privileg der Selbstbestimmung nicht in
Anspruch nehmen, da bei ihnen der enge Konnex zum glaubensdefinierten
Selbstverständnis aufgehoben ist. Dies gilt vor allem für Einrichtungen, die wie
andere Wirtschaftssubjekte auch am marktwirtschaftlichen Geschehen teilnehmen
und bei welchen der durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte religiöse Auftrag der
Kirche oder Religionsgemeinschaft in der Gesamtschau der Tätigkeiten gegenüber
anderen - vorwiegend gewinnorientierten - Erwägungen erkennbar in den
Hintergrund tritt.
bb) Das Selbstbestimmungsrecht umfasst alle Maßnahmen, die der Sicherstellung
der religiösen Dimension des Wirkens im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses
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97
98
(vgl. BVerfGE 70, 138 <164> unter Bezugnahme auf BVerfGE 24, 236 <249>; 53, 366
<399>; 57, 220 <243>; vgl. auch BVerfGE 99, 100 <125>) und der Wahrung der
unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen (vgl.
BVerfGE 53, 366 <399>). Unter die Freiheit des "Ordnens" und "Verwaltens" fällt
dementsprechend auch die rechtliche Vorsorge für die Wahrnehmung kirchlicher
Dienste durch den Abschluss entsprechender Arbeitsverträge (vgl. BVerfGE 70, 138
<165>; BVerfGK 12, 308 <330>; vgl. auch: Isensee, in: Listl/Pirson, Handbuch des
Staatskirchenrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59, S. 665 <730>).
Der Staat erkennt die Kirchen in diesem Sinne als Institutionen mit dem originären
Recht der Selbstbestimmung an, die ihrem Wesen nach unabhängig vom Staat sind
und ihre Gewalt nicht von ihm herleiten (vgl. BVerfGE 18, 385 <386>; 19, 1 <55>; 30,
415 <428>; 42, 312 <321 f., 332>; 46, 73 <94>; 57, 220 <244>; 66, 1 <19>; BVerfGK
14, 485 <486>). Dies gilt - unabhängig von der Rechtsform der Organisation - auch
dann, wenn die Kirchen sich zur Erfüllung ihres Auftrags und ihrer Sendung
privatrechtlicher Formen bedienen (BVerfGE 46, 73 <85 ff.>; 70, 138 <162>) und
wenn die Tätigkeiten und getroffenen Maßnahmen in den weltlichen Bereich
hineinwirken (vgl. BVerfGE 42, 312 <334 f.>). Die Kirchen bestimmen selbst, frei und
autonom darüber, welche Dienste sie in welchen Rechtsformen ausüben wollen und
sind nicht auf spezifisch kanonische oder kirchenrechtliche Gestaltungsformen
beschränkt. Religiöse Orden oder das Kirchenbeamtentum, die spezifischem
Kirchenrecht unterliegen, stellen insofern zwar originäre, aber auch nur mögliche
Varianten und Formen kirchlicher Dienste dar.
Die Kirchen können sich der jedermann offen stehenden privatautonomen
Gestaltungsformen
bedienen, Dienstverhältnisse begründen und nach ihrem
Selbstverständnis ausgestalten. Die im Selbstbestimmungsrecht der Kirchen
enthal tene Ordnungsbefugnis gilt insoweit nicht nur für die kirchliche
Ämterorganisation (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Satz 2 WRV), sondern ist ein
allgemeines Prinzip für die Ordnung des kirchlichen Dienstes (vgl. BVerfGE 70, 138
<164 f.>). Sie berechtigt zur Organisation der Tätigkeit einschließlich der
Aufrechterhaltung
einer internen Organisationsstruktur, zur Auswahl ihrer
Angestellten und zur Festlegung der religiösen Grundsätze, welche die Grundlage
ihrer Tätigkeiten sein sollen.
d) Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches
Grundrecht (vgl. BVerfGE 24, 236 <245 f.>; 32, 98 <106>; 44, 37 <49>; 83, 341 <354>;
108, 282 <297>; 125, 39 <79>). Dieses beinhaltet notwendigerweise neben der
99
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102
Freiheit des Einzelnen zum privaten und öffentlichen Bekenntnis seiner Religion oder
Weltanschauung (vgl. nur BVerfGE 24, 236 <245>; 69, 1 <33 f.>; 108, 282 <297>)
auch die Freiheit, sich mit anderen aus gemeinsamem Glauben oder gemeinsamer
weltanschaulicher Überzeugung zusammenzuschließen (vgl. BVerfGE 42, 312
<323>; 53, 366 <387>; 83, 341 <355>; 105, 279 <293>).
aa) Die durch den Zusammenschluss gebildete Vereinigung genießt das Recht zu
religiöser oder weltanschaulicher Betätigung, zur Verkündigung des Glaubens, zur
Verbreitung der Weltanschauung sowie zur Pflege und Förderung des jeweiligen
Bekenntnisses (vgl. BVerfGE 19, 129 <132>; 24, 236 <246 f.>; 53, 366 <387>; 105,
279
<293>).
Dieser
Schutz steht nicht nur Kirchen, Religions- und
Weltanschauungsgemeinschaften zu, sondern auch von diesen selbstständigen oder
unselbstständigen Vereinigungen, wenn und soweit sich diese die Pflege des
religiösen oder weltanschaulichen Lebens ihrer Mitglieder zum Ziel gesetzt haben.
Voraussetzung dafür ist aber, dass der Zweck der Vereinigung gerade auf die
Erreichung eines solchen Zieles gerichtet ist und eine hinreichende institutionelle
Verbindung zu einer Religionsgemeinschaft besteht (vgl. BVerfGE 24, 236 <246 f.>).
bb) Bei der Würdigung dessen, was im Einzelfall als korporative Ausübung von
Religion und Weltanschauung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG anzusehen ist,
muss der zentralen Bedeutung des Begriffs der "Religionsausübung" durch eine
extensive Auslegung Rechnung getragen werden (vgl. BVerfGE 24, 236 <246>).
Zwar hat der Staat grundsätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen,
allgemeingültigen,
nicht
konfessionell
oder
weltanschaulich gebundenen
Gesichtspunkten zu interpretieren (vgl. BVerfGE 24, 236 <247 f.>). Wo aber die
Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis des
Grundrechtsträgers voraussetzt, wie dies bei der Religionsfreiheit der Fall ist, würde
der Staat die Eigenständigkeit der Kirchen und ihre nach Art. 140 GG in Verbindung
mit Art. 137 Abs. 3 WRV verfassungsrechtlich verankerte Selbständigkeit verletzen,
wenn er bei der Auslegung der sich aus dem Bekenntnis ergebenden
Religionsausübung das Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde (vgl. BVerfGE
18, 385 <386 f.>; 24, 236 <248>; 108, 282 <298 f.>). Die Formulierung des kirchlichen
Proprium obliegt so allein den Kirchen und ist als elementarer Bestandteil der
korporativen Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verfassungsrechtlich
geschützt.
cc) Nach dem Selbstverständnis der christlichen Kirchen umfasst die
103
104
Religionsausübung nicht nur den Bereich des Glaubens und des Gottesdienstes,
sondern auch die Freiheit zur Entfaltung und Wirksamkeit des christlichen
Sendungsauftrages in Staat und Gesellschaft. Dazu gehört insbesondere das
karitative Wirken, das eine wesentliche Aufgabe für den Christen ist und von den
Kirchen als religiöse Grundfunktion verstanden wird (vgl. BVerfGE 53, 366 <393>;
siehe auch BVerfGE 24, 236 <246 ff.>; 46, 73 <85 ff.>; 57, 220 <242 f.>; 70, 138
<163>). Die tätige Nächstenliebe ist als solche eines der Wesensmerkmale der
Kirche (vgl. Isensee, in: Listl/Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. II, 2. Aufl.
1995, § 59, S. 665). Sie geht von der Zuwendung gegenüber Kranken und
Benachteiligten ohne Rücksicht auf Konfession, Bedürftigkeit oder sozialen Status
a u s . Christliche Organisationen und Einrichtungen versehen die Aufgabe der
Krankenpflege daher im Sinne einer an christlichen Grundsätzen ausgerichteten
umfassenden medizinischen, pastoralen und seelsorgerlichen Behandlung und
verwirklichen damit Sendung und Auftrag ihrer Kirche im Geist ihrer Religiosität und
im Einklang mit dem Bekenntnis.
Die von der Verfassung anerkannte und dem kirchlichen Selbstverständnis
entsprechende Zuordnung der karitativen Tätigkeit zum Sendungsauftrag der Kirche
w i r d nicht dadurch in Frage gestellt, dass andere Einrichtungen und anders
ausgerichtete Träger im Sozialbereich ähnliche Zwecke verfolgen und - rein
äußerlich gesehen - Gleiches verwirklichen wollen (vgl. BVerfGE 53, 366 <399> unter
Bezugnahme auf BVerfGE 24, 236 <249>; vgl. auch BVerfGK 12, 308 <330>). Die
religiöse Dimension ist insoweit das bestimmende Element der karitativen und
diakonischen Tätigkeit, das sie von äußerlich vergleichbaren Tätigkeiten
unterscheidet. Es ist das spezifisch Religiöse der karitativen und diakonischen
Tätigkeit, das den Umgang mit Kranken und Benachteiligten prägt und der
seelsorgerlichen und pastoralen Begleitung eine hervorgehobene Bedeutung
beimisst.
Dem steht nicht entgegen, dass diese Ausrichtung im modernen säkularen Staat
angesichts religiöser Pluralisierung und "Entkirchlichung" der Gesellschaft schwierig
zu vermitteln ist, zumal nicht in allen Bereichen von Caritas und Diakonie hinreichend
Christen zur Verfügung stehen, die diesen Auftrag als an die eigene Person
gerichteten Heilsauftrag begreifen und umsetzen. So müssen verstärkt nichtchristliche
Arbeitnehmer - auch in leitenden Positionen - in Krankenhäusern und
Behinderteneinrichtungen eingesetzt werden. Dies allein muss jedoch weder zu
einem Rückzug der Kirchen aus den in Rede stehenden Bereichen führen noch dazu,
105
106
dass der geistlich theologische Auftrag und die Sendung nicht mehr erkennbar sind
(vgl. etwa: Bethel, Gemeinschaft verwirklichen - Unsere Vision und unsere
strategischen Entwicklungsschwerpunkte 2011 bis 2016, v. Bodelschwinghsche
Stiftungen Bethel, Bielefeld 2011, S. 8 ff.).
Dieser gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation kann durch Struktur und
Ausformung der christlichen Dienstgemeinschaft ausreichend Rechnung getragen
werden. Die christlichen Kirchen kennen viele Formen christlichen Dienens:
Öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnisse, Zugehörigkeit zu besonderen
geistlichen Gemeinschaften wie Orden und Diakonissengemeinschaften oder eben
auch nach staatlichem Recht - privatautonom - begründete Arbeitsverhältnisse.
Spezifisches Kennzeichen für all diese Formen ist es, dem biblischen Auftrag zur
Verkündigung und zur tätigen Nächstenliebe nachzukommen. Der Dienst in der
christlichen Gemeinde ist Auftrag und Sendung der Kirche und umfasst idealiter den
Menschen in all seinen Bezügen in Familie, Freizeit, Arbeit und Gesellschaft. Dieses
Verständnis ist die Grundlage für die kirchlichen Anforderungen an die Gestaltung
des Dienstes und die persönliche Lebensführung, die in den Loyalitätsobliegenheiten
ihren Ausdruck finden. Gemeinschaft in diesem Sinne bedeutet nach christlichem
Glauben gemeinsame Verantwortung für das Wirken der Kirche und in der Kirche und
ihren Einrichtungen. Dieses Leitbild des Umgangs aller Dienstangehörigen prägt
Verhalten und Umgang untereinander und mit den anvertrauten Kranken und
Benachteiligten. Vorwiegend ökonomische Interessenmaximierung ist damit nicht
vereinbar.
e) Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht steht nach Art. 140 GG in Verbindung mit
Art. 137 Abs. 3 WRV, auch soweit sich der Schutzbereich mit demjenigen der
korporativen Religionsfreiheit überlagert, unter dem Vorbehalt des für alle geltenden
Gesetzes (sog. Schrankenspezialität, vgl. oben Rn. 85). Die Formel "innerhalb der
Schranken des für alle geltenden Gesetzes" kann jedoch nicht im Sinne des
allgemeinen Gesetzesvorbehalts in einigen Grundrechtsgarantien verstanden werden
(vgl. BVerfGE 42, 312 <333>). Vielmehr ist der Wechselwirkung von Kirchenfreiheit
und Schrankenzweck bei der Entfaltung und Konturierung der Schrankenbestimmung
Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 53, 366 <400 f.>). Beim Ausgleich der
gegenläufigen Interessen ist daher der Umstand zu beachten, dass Art. 4 Abs. 1 und
2 GG die korporative Religionsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet und insofern dem
Selbstbestimmungsrecht und dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaften
besonderes Gewicht zuzumessen ist.
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110
aa) Deshalb ergibt sich aus dem Umstand, dass das kirchliche
Selbstbestimmungsrecht nur "innerhalb der Schranken des für alle geltenden
Gesetzes" gegeben ist, gerade nicht, dass jegliche staatliche Rechtsetzung, sofern
sie nur aus weltlicher Sicht von der zu regelnden Materie her als vernünftig und
verhältnismäßig erscheint, ohne weiteres in den den Kirchen, ihren Organisationen
u n d Einrichtungen von Verfassungs wegen zustehenden Autonomiebereich
eingreifen könnte (vgl. BVerfGE 53, 366 <404>; 72, 278 <289>). Die selbständige
Or d n u n g und Verwaltung ihrer Angelegenheiten ist den Kirchen, ihren
Organisationen und Einrichtungen von der Verfassung garantiert, um ihnen die
Möglichkeit zu geben, ihrer religiösen und diakonischen Aufgabe, ihren Grundsätzen
u n d Leitbildern auch im Bereich von Organisation, Normsetzung und Verwaltung
umfassend nachkommen zu können (vgl. BVerfGE 53, 366 <404>).
bb) Zu dem "für alle geltenden Gesetz" im Sinne des Art. 140 GG in Verbindung mit
Art. 137 Abs. 3 WRV, unter dessen Vorbehalt die inhaltliche Gestaltungsfreiheit des
kirchlichen Arbeitgebers für die auf Vertragsebene begründeten Arbeitsverhältnisse
steht, zählen die Regelungen des allgemeinen Kündigungsschutzes (vgl. BVerfGE
70, 138 <166 f.>; Ehlers, in: Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 140/Art. 137 WRV, Rn. 14;
Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 140/Art. 137 WRV, Rn. 49). Sie tragen nach der
ständigen
Rechtsprechung
des
Bundesverfassungsgerichts der objektiven
Schutzpflicht des Staates gegenüber den wechselseitigen Grundrechtspositionen von
Arbeitgeber und Arbeitnehmer Rechnung (vgl. BVerfGE 84, 133 <146 f.>; 85, 360
<372 f.>; 92, 140 <150>; 97, 169 <175 f.>; BVerfGK 1, 308 <311>; 8, 244 <246>).
cc) Die in diesen Vorschriften enthaltenen Generalklauseln bedürfen der Ausfüllung
im konkreten Einzelfall. Im Privatrechtsverkehr entfalten die Grundrechte ihre
Wirkkraft als verfassungsrechtliche Wertentscheidungen durch das Medium der
Vorschriften, die das jeweilige Rechtsgebiet unmittelbar beherrschen, damit vor allem
auch durch die zivilrechtlichen Generalklauseln (vgl. BVerfGE 7, 198 <205 f.>; 42,
143 <148>; 103, 89 <100>). Der Staat hat insoweit die Grundrechte des Einzelnen zu
schützen und vor Verletzung durch andere zu bewahren (vgl. nur BVerfGE 103, 89
<100>). Den staatlichen Gerichten obliegt es, den grundrechtlichen Schutz im Wege
der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts zu gewähren und im Einzelfall
zu konkretisieren.
(1) Die Einbeziehung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse in das staatliche
Arbeitsrecht hebt deren Zugehörigkeit zu den "eigenen Angelegenheiten" der Kirche
nicht auf (vgl. BVerfGE 53, 366 <392>; 70, 138 <165>). Arbeits- und
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Kündigungsschutzgesetze sind daher einerseits im Lichte der verfassungsrechtlichen
Wertentscheidung zugunsten der kirchlichen Selbstbestimmung auszulegen (Art. 4
Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 140 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV). Das bedeutet nicht nur,
dass die Religionsgesellschaft Gestaltungsspielräume, die das dispositive Recht
eröffnet, voll ausschöpfen darf. Auch bei der Handhabung zwingender Vorschriften
sind Auslegungsspielräume, soweit erforderlich, zugunsten der Religionsgesellschaft
zu nutzen (vgl. BVerfGE 83, 341 <356>), wobei dem Selbstverständnis der Kirchen
ein besonderes Gewicht zuzumessen ist (vgl. BVerfGE 53, 366 <401>, unter
Bezugnahme auf BVerfGE 24, 236 <246>; 44, 37 <49 f.>).
(2) Andererseits darf dies nicht dazu führen, dass Schutzpflichten des Staates
gegenüber den Arbeitnehmern (Art. 12 Abs. 1 GG) und die Sicherheit des
Rechtsverkehrs vernachlässigt werden (vgl. BVerfGE 83, 341 <356>). Art. 137 Abs. 3
Satz 1 WRV sichert insoweit mit Rücksicht auf das zwingende Erfordernis friedlichen
Zusammenlebens von Staat und Kirchen (vgl. BVerfGE 42, 312 <330 ff., 340>)
sowohl das selbständige Ordnen und Verwalten der eigenen Angelegenheiten durch
die Kirchen als auch den staatlichen Schutz der Rechte anderer und für das
Gemeinwesen bedeutsamer Rechtsgüter. Dieser Wechselwirkung von Kirchenfreiheit
und Zweck der gesetzlichen Schrankenziehung ist durch eine entsprechende
Güterabwägung Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 46, 73 <95>; 53, 366 <400 f.>; 66,
1 <22>; 70, 138 <167>; 72, 278 <289>; BVerfGK 12, 308 <333>).
2. Bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten über Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher
Arbeitnehmer haben die staatlichen Gerichte den organischen Zusammenhang von
Statusrecht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) und Grundrecht (Art. 4 Abs. 1
und 2 GG) im Rahmen einer zweistufigen Prüfung zu beachten und umzusetzen.
a) Ob eine Organisation oder Einrichtung an der Verwirklichung des kirchlichen
Grundauftrags teilhat, ob eine bestimmte Loyalitätsobliegenheit Ausdruck eines
kirchlichen Glaubenssatzes ist und welches Gewicht dieser Loyalitätsobliegenheit
und einem Verstoß hiergegen nach dem kirchlichen Selbstverständnis zukommt,
müssen
die staatlichen Gerichte auf einer ersten Prüfungsstufe einer
Plausibilitätskontrolle
auf
der
Grundlage
des glaubensdefinierten
Selbstverständnisses der Kirche unterziehen. Dabei dürfen sie die Eigenart des
kirchlichen Dienstes - das kirchliche Proprium - nicht außer Acht lassen.
aa) Die Formulierung des kirchlichen Proprium obliegt allein und ausschließlich den
verfassten Kirchen und ist als elementarer Bestandteil der korporativen
115
116
117
118
Religionsfreiheit durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verfassungsrechtlich geschützt.
Ebenso sind für die Frage, welche kirchlichen Grundverpflichtungen als Gegenstand
des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, allein die von der verfassten Kirche
anerkannten Maßstäbe von Belang. Demgegenüber kommt es weder auf die
Auffassung der einzelnen betroffenen kirchlichen Einrichtungen - bei denen die
Meinungsbildung von verschiedensten Motiven beeinflusst sein kann - noch auf
diejenige breiter Kreise unter den Kirchengliedern oder etwa gar einzelner,
bestimmten Tendenzen verbundener Mitarbeiter an (vgl. BVerfGE 70, 138 <166>).
Im Rahmen ihres Selbstbestimmungsrechts können die verfassten Kirchen
festlegen, was "die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordert",
was "spezifisch kirchliche Aufgaben" sind, was "Nähe" zu ihnen bedeutet, welches
die "wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre" sind, was als Verstoß
gegen diese anzusehen ist und welches Gewicht diesem Verstoß aus kirchlicher
Sicht zukommt (vgl. BVerfGE 70, 138 <168>). Auch die Entscheidung darüber, ob und
wie innerhalb der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine "Abstufung" der
Loyalitätsobliegenheiten
eingreifen soll,
ist
eine
dem
kirchlichen
Selbstbestimmungsrecht unterliegende Angelegenheit (vgl. BVerfGE 70, 138 <168>).
bb) Über die entsprechenden Vorgaben der verfassten Kirche dürfen sich die
staatlichen
Gerichte nicht hinwegsetzen. Im Rahmen der allgemeinen
Justizgewährungspflicht sind sie lediglich berechtigt, die Darlegungen des kirchlichen
Arbeitgebers auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. In Zweifelsfällen haben sie die
einschlägigen Maßstäbe der verfassten Kirche durch Rückfragen bei den
zuständigen Kirchenbehörden oder, falls dies ergebnislos bleibt, durch ein
kirchenrechtliches oder theologisches Sachverständigengutachten aufzuklären.
(1) Religiöse Zielsetzung und institutionelle Verbindung der Organisation oder
Einrichtung zur verfassten Amtskirche, ihren Organen und Amtswaltern und die
bruchlose Übereinstimmung von geistlich-theologischem Auftrag und dessen
Ausführung im praktischen Wirtschaftsleben müssen hiernach objektiv erkennbar sein
und einer - den von der verfassten Kirche vorgegebenen glaubensspezifischen
Parametern folgenden - Plausibilitätskontrolle standhalten (vgl. Ehlers, in: Sachs
, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 140, Rn. 6; Isensee, in: Listl/Pirson, Handbuch des
Staatskirchenrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 59, S. 665 <727 f.>).
(2) Ist durch den kirchlichen Arbeitgeber plausibel dargelegt, dass nach
gemeinsamer Glaubensüberzeugung, Dogmatik, Tradition und Lehre der verfassten
119
Kirche ein bestimmtes Handeln oder eine Tätigkeit und daran geknüpfte
Loyalitätsobliegenheiten Gegenstand, Teil oder Ziel von Glaubensregeln sind (vgl.
als Beispiel hierfür: Bethel, Grundsätze für Zusammenarbeit und Führung in den
v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, Bielefeld 2012), darf der Staat das so
umschriebene glaubensdefinierte Selbstverständnis der Kirche nicht nur nicht
unberücksichtigt lassen; er hat es vielmehr seinen Wertungen und Entscheidungen
zugrunde zu legen, so lange es nicht in Widerspruch zu grundlegenden
verfassungsrechtlichen Gewährleistungen steht (vgl. dazu BVerfGE 70, 138 <168>,
wo auf die Grundprinzipien der Rechtsordnung abgestellt wurde, wie sie im
allgemeinen Willkürverbot [Art. 3 Abs. 1 GG] und in den Begriffen der "guten Sitten"
[§ 138 Abs. 1 BGB] und des ordre public [Art. 6 EGBGB] ihren Niederschlag gefunden
haben; vgl. ferner BVerfGE 102, 370 <392 ff.>). Einer darüber hinaus gehenden
Bewertung solcher Glaubensregeln hat sich der Staat zu enthalten (vgl. BVerfGE 33,
23 <30>; 104, 337 <355>), denn darin entfaltet sich nicht nur die statusrechtliche
Sicherung nach Art. 137 Abs. 3 WRV, sondern vor allem auch die Schutzwirkung der
Religionsfreiheit von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.
(3) Dies gilt in besonderem Maße im Hinblick auf Loyalitätserwartungen der Kirche
und eine etwaige Abstufung von Loyalitätsobliegenheiten. Hat die Kirche oder
Religionsgemeinschaft sich in Ausübung ihrer korporativen Religionsfreiheit dazu
entschieden, ein bestimmtes Verhalten wegen des Verstoßes gegen tragende
Glaubenssätze als Loyalitätsverstoß zu werten, ein anderes aber nicht, und hat sie
diese Maßgabe zum Gegenstand eines Arbeitsvertrags gemacht, so ist es den
staatlichen Gerichten grundsätzlich untersagt, diese autonom getroffene und von der
Verfassung geschützte Entscheidung zu hinterfragen und zu bewerten. Gleiches gilt,
soweit die Kirche oder Religionsgemeinschaft die Loyalitätsobliegenheiten auf
Arbeitnehmer in bestimmten Aufgabenbereichen beschränkt oder nur auf solche
kirchlichen Arbeitnehmer erstreckt hat, die ihrem Glauben angehören. Den staatlichen
Gerichten ist es insoweit verwehrt, die eigene Einschätzung über die Nähe der von
einem Arbeitnehmer bekleideten Stelle zum Heilsauftrag und die Notwendigkeit der
auferlegten
Loyalitätsobliegenheit
im Hinblick auf Glaubwürdigkeit oder
Vorbildfunktion innerhalb der Dienstgemeinschaft an die Stelle der durch die
verfasste Kirche getroffenen Einschätzung zu stellen (vgl. auch BVerfGE 70, 138
<167>; 83, 341 <356>; so auch im Ergebnis: Isensee, in: Festschrift für Klaus
Obermayer, 1986, S. 203 <214 f.>; Richardi, in: ders./Wlotzke/Wißmann/Oetker,
Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Bd. 2, 3. Aufl. 2009, § 328 Rn. 24; Plum,
NZA 2011, S. 1194 <1200>; Fahrig/Stenslik, EuZA 5 <2012>, S. 184 <194 f.>; Melot
120
121
122
d e Beauregard, NZA-RR 2012, S. 225 <230>; Walter, ZevKR 57 <2012>, S. 233
<240>; Pötters/Kalf, ZESAR 2012, S. 216 <218>; Magen, in: Kämper/Puttler ,
Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht, 2013, S. 41 <43 ff.>).
b) Auf einer zweiten Prüfungsstufe haben die Gerichte sodann die
Selbstbestimmung der Kirchen den Interessen und Grundrechten der Arbeitnehmer in
einer offenen Gesamtabwägung gegenüberzustellen.
aa) Dies setzt die positive Feststellung voraus, dass der Arbeitnehmer sich der ihm
vertraglich auferlegten Loyalitätsanforderungen und der Möglichkeit arbeitsrechtlicher
Sanktionierung von Verstößen bewusst war oder hätte bewusst sein müssen. Die
Unannehmbarkeit einer Loyalitätsanforderung (vgl. BVerfGE 70, 138 <168>) ist
gegeben, wenn Inhalt und Reichweite der dem kirchlichen Arbeitnehmer auferlegten
Obliegenheiten sowie die sich aus einem Verstoß möglicherweise ergebenden
arbeitsrechtlichen Konsequenzen nicht mit hinreichender Bestimmtheit erkennbar
sind, so dass der kirchliche Arbeitnehmer sich außer Stande sieht, sein Handeln an
den Loyalitätsanforderungen seines Arbeitgebers zu orientieren. Die nach freiem
W i l l e n getroffene Entscheidung eines Grundrechtsberechtigten, eine partielle
Beschränkung seiner Freiheitsrechte durch Eingehung eines Arbeitsverhältnisses mit
einem kirchlichen Arbeitgeber zu dessen Voraussetzungen hinzunehmen, setzt
notwendigerweise das Bewusstsein über den Umfang der Selbstbindung voraus (vgl.
hierzu
auch:
Isensee,
in: Festschrift
für
Klaus
Obermayer,
1986, S. 203 <206 f.>; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, 13.
Aufl. 2014, Art. 140 Rn. 27). Diese Voraussetzung ist nicht mehr erfüllt, wenn sich
etwa Inhalt und Reichweite der einzuhaltenden Verhaltensregeln nur mithilfe
detaillierter Kenntnisse des Kirchenrechts und der Glaubens- und Sittenlehre
feststellen lassen, die vom Arbeitnehmer auch bei gesteigerten Erwartungen wegen
der Konfession oder der konkreten Stellung nicht verlangt werden können (vgl. zur
Relevanz des letztgenannten Umstands und zur Abgrenzung auch: EGMR, Obst v.
Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, § 50; EGMR, Schüth v.
Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03, § 71).
Das Erfordernis der Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit steht einer Verwendung
unbestimmter Rechtsbegriffe und Generalklauseln (vgl. etwa Art. 4 Abs. 1 Satz 1 GrO:
"Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre") in Arbeitsverträgen und der
Verweisung auf Dienstordnungen nicht grundsätzlich entgegen. Im Zweifel ist der
kirchliche Arbeitgeber jedoch gehalten, abstrakte Begrifflichkeiten zum Verständnis
d e s Arbeitnehmers im Rahmen der individualvertraglichen Vereinbarung zu
123
124
125
126
konkretisieren (vgl. hierzu auch: Böckel, in: Kämper/Puttler , Straßburg und
das kirchliche Arbeitsrecht, 2013, S. 57 <58>).
Das Maß im Einzelfall zulässiger Abstrahierung korrespondiert dabei mit dem
Umfang der nach Einschätzung der Kirche im Hinblick auf das konkrete
Arbeitsverhältnis erforderlichen Loyalitätserwartungen: Bei Personen, die aufgrund
ihres Glaubens oder ihrer Stellung erhöhten Loyalitätsanforderungen unterworfen
werden, sind in aller Regel auch Kenntnisse der kirchlichen Lehre Teil des
beruflichen Anforderungsprofils und können durch den Arbeitgeber bei der
Formulierung der Loyalitätserwartungen vorausgesetzt werden. Führt die Unkenntnis
eines derartigen Arbeitnehmers zu einer Obliegenheitsverletzung, weil er sich über
die Illoyalität seines Verhaltens nicht im Klaren ist, obschon er es hätte sein müssen,
rechtfertigt dies eine andere Beurteilung als in Konstellationen, in denen Kenntnisse
der kirchlichen Lehre und der einschlägigen kirchengesetzlichen Vorgaben auch aus
Sicht der Kirche nicht ohne weiteres erwartet werden können.
bb) Im Rahmen des sich hieran anschließenden Abwägungsvorgangs sind die
kollidierenden Rechtspositionen - dem Grundsatz der praktischen Konkordanz
entsprechend - in möglichst hohem Maße in ihrer Wirksamkeit zu entfalten. Sie sind
einander im Sinne einer Wechselwirkung verhältnismäßig zuzuordnen, das heißt, das
einschränkende arbeitsrechtliche Gesetz muss im Lichte der Bedeutung des Art. 140
GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG betrachtet
werden, wie umgekehrt die Bedeutung kollidierender Rechte des Arbeitnehmers im
Verhältnis zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht gewichtet werden muss.
Dem Selbstverständnis der Kirche ist dabei ein besonderes Gewicht beizumessen
(vgl. hierzu auch: BVerfGE 53, 366 <401>; 66, 1 <22>; 70, 138 <167>; 72, 278 <289>;
BVerfGK 12, 308 <333>), ohne dass die Interessen der Kirche die Belange des
Arbeitnehmers dabei prinzipiell überwögen. Das staatliche Arbeitsrecht lässt
"absolute Kündigungsgründe" nicht zu; eine Verabsolutierung von Rechtspositionen
ist der staatlichen Rechtsordnung jenseits des Art. 1 Abs. 1 GG fremd. Entsprechend
entbindet selbst ein erkennbar schwerwiegender Loyalitätsverstoß die staatlichen
Arbeitsgerichte nicht von der Pflicht zur Abwägung der kirchlichen Interessen mit den
Belangen des Arbeitnehmers. Die Arbeitsgerichte haben jedoch auch bei der
Abwägung die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Gewichtung vertraglicher
Loyalitätsobliegenheiten zugrunde zu legen (BVerfGE 70, 138 <170 ff.>).
3. Ob diese Abwägung verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, kann
127
128
129
gegebenenfalls
Gegenstand verfassungsgerichtlicher Kontrolle sein. Das
Bundesverfassungsgericht ist zum Eingreifen gegenüber den Fachgerichten jedoch
nur
dann
berufen,
wenn
diese
tragende Elemente des kirchlichen
Selbstbestimmungsrechts und der korporativen Religionsfreiheit einerseits oder
Grundrechte des Arbeitnehmers andererseits verkennen.
4.
Diese
Maßstäbe
stehen
in
Einklang
mit
der Europäischen
Menschenrechtskonvention und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. bereits: EKMR, Rommelfänger v.
Deutschland, Kommissionsentscheidung vom 6. September 1989, Nr. 12242/86). Die
durch die Konvention begründeten objektiven Schutzpflichten des Staates aus Art. 11
Abs. 1 EMRK in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 EMRK und das sich hieraus ergebende
Autonomierecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften einerseits und die
entgegenstehenden Rechtspositionen der kirchlichen Arbeitnehmer andererseits
verlangen - in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Maßstäben - eine
Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung aller relevanten
Umstände des Einzelfalls. Die durch die Konvention begründete Neutralitätspflicht
des Staates in religiösen Angelegenheiten untersagt den staatlichen Stellen hierbei
ebenfalls eine eigenständige Bewertung und Gewichtung von Glaubensinhalten.
a) Die Europäische Menschenrechtskonvention ist als Auslegungshilfe bei der
Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes
heranzuziehen. Dies verlangt allerdings keine schematische Parallelisierung der
Aussagen
des
Grundgesetzes
mit
denen der
Europäischen
Menschenrechtskonvention. Vielmehr werden deren Wertungen im Sinne eines
möglichst schonenden Einpassens in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte
nationale Rechtssystem aufgenommen (vgl. BVerfGE 111, 307 <315 ff.>; 128, 326
<366 ff.>; 131, 268 <295 f.>).
Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden dort, wo diese
n a c h den
anerkannten
Methoden
der
Gesetzesauslegung
und
Verfassungsinterpretation nicht mehr vertretbar erscheint (vgl. BVerfGE 111, 307
<329>; 128, 326 <371>). Zudem darf sie nicht dazu führen, dass der
Grundrechtsschutz nach dem Grundgesetz eingeschränkt wird; das schließt auch die
Europäische Menschenrechtskonvention durch Art. 53 EMRK ihrerseits aus (vgl.
BVerfGE
111, 307 <317>; 128, 326 <371>, jeweils m.w.N.). Dieses
Rezeptionshemmnis
kann
vor
allem
in
-
wie
hier
- mehrpoligen
Grundrechtsverhältnissen relevant werden, in denen das "Mehr" an Freiheit für einen
130
131
Grundrechtsträger zugleich ein "Weniger" für einen anderen bedeutet (vgl. BVerfGE
128, 326 <371>).
b) Art. 9 Abs. 1 EMRK schützt neben der individuellen Religionsfreiheit auch ihre
korporative Seite (vgl. Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, 3. Aufl. 2011, Art. 9
Rn. 10, m.w.N). Da die Kirchen und Religionsgemeinschaften traditionell in der Form
organisierter Strukturen existieren, deren autonomer Bestand für die Vielfalt in einer
demokratischen Gesellschaft unverzichtbar ist und die Glaubensfreiheit in ihrem
Kerngehalt berührt, muss Art. 9 Abs. 1 EMRK nach der ständigen Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Lichte des Art. 11 Abs. 1
EMRK ausgelegt werden. Unter diesem Blickwinkel bedingt die Glaubensfreiheit des
Einzelnen
auch
den
Schutz
der rechtlich verfassten Kirchen und
Religionsgemeinschaften vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen im Hinblick
sowohl auf religiöse als auch auf organisatorische Fragen. Ohne diesen Schutz der
Organisation nach Maßgabe des religiösen Selbstverständnisses durch die
Konvention wäre auch die effektive Wahrnehmung der individuellen Religionsfreiheit
beeinträchtigt (vgl. zu alledem: EGMR (GK), Hasan u. Chaush v. Bulgarien, Urteil vom
26. Oktober 2000, Nr. 30985/96, § 62; EGMR, Metropolitan Church of Bessarabia u.a.
v. Moldawien, Urteil vom 13. Dezember 2001, Nr. 45701/99, § 118; EGMR, Holy
Synod of the Bulgarian Orthodox Church (Metropolitan Inokentiy) v. Bulgarien, Urteil
vom 22. Januar 2009, Nr. 412/03 u.a., § 103; EGMR (GK), Sindicatul "Pastorul cel
Bun" v. Rumänien, Urteil vom 9. Juli 2013, Nr. 2330/09, § 136; EGMR (GK),
Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 127).
aa)
Das
Autonomierecht
beinhaltet
das
Recht der
Kirche
oder
Religionsgemeinschaft, nach ihren Rechtssätzen und nach ihrem Ermessen auf ein
Verhalten ihrer Mitglieder zu reagieren, das eine Bedrohung für den Zusammenhalt,
die Glaubwürdigkeit oder die Einheit der Gemeinschaft bedeutet (vgl. hierzu: EGMR
(GK), Sindicatul "Pastorul cel Bun" v. Rumänien, Urteil vom 9. Juli 2013, Nr. 2330/09,
§ 165; EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014,
Nr. 56030/07, § 128). Daneben ist in der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte anerkannt, dass aus dem Autonomierecht der
Kirchen und Religionsgemeinschaften auch deren Befugnis erwächst, ihren
Arbeitnehmern und den die Gemeinschaft repräsentierenden Personen ein gewisses
Maß an Loyalität abzuverlangen (vgl. hierzu bereits: EKMR, Rommelfänger v.
Deutschland, Kommissionsentscheidung vom 6. September 1989, Nr. 12242/86;
sowie: EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014,
132
133
134
Nr. 56030/07, § 131, m.w.N.). Voraussetzung ist, dass von einer Verletzung der
k o n k r e t e n Loyalitätsanforderung
nach
Einschätzung
der
Kirche
oder
Religionsgemeinschaft eine substantielle Gefahr für den Zusammenhalt, die
Glaubwürdigkeit oder die Einheit der Gemeinschaft ausginge, die mit der
Loyalitätsanforderung verbundene Beschränkung nicht über das erforderliche Maß
hinausreicht und keinen sachfremden Zwecken dient, die nicht in der Wahrnehmung
des
religiösen
Auftrags
begründet liegen; dies hat die Kirche oder
Religionsgemeinschaft im Einzelfall darzulegen (vgl. EGMR (GK), Fernández
Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 132).
bb) Unter diesen Bedingungen können auch Beschränkungen konventionsrechtlich
geschützter Rechtspositionen des Arbeitnehmers gerechtfertigt sein; insoweit ist
Art. 11 Abs. 1 EMRK in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 EMRK generell geeignet, als
Schranke für diese Konventionsrechte zu dienen und die objektive Schutzpflicht des
Staates zu begrenzen oder gar zu verdrängen (vgl. hierzu: EGMR, Obst v.
Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, §§ 43 ff.; EGMR (GK),
Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, §§ 133 ff.,
jeweils zu Art. 8 Abs. 1 EMRK; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom
3. Februar 2011, Nr. 18136/02, § 45, zu Art. 9 Abs. 1 EMRK).
Da die vertragliche Unterwerfung unter die Loyalitätserwartungen jedoch auf einer
freiwilligen Entscheidung des kirchlichen Arbeitnehmers beruht (vgl. bereits EKMR,
Rommelfänger v. Deutschland, Kommissionsentscheidung vom 6. September 1989,
N r . 12242/86), ist Voraussetzung hierfür grundsätzlich, dass der Inhalt der
Loyalitätserwartung und die mit einem Verstoß einhergehenden Rechtsfolgen für den
Arbeitnehmer vorhersehbar sind (vgl. EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien,
Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 117). Für die Beurteilung der
Vorhersehbarkeit ist auf die Konfession des Arbeitnehmers (vgl. hierzu: EGMR, Obst
v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, § 50) und - in
besonderem Maße - die von dem kirchlichen Arbeitnehmer im konkreten Einzelfall
bekleidete Stellung innerhalb der Organisation abzustellen (vgl. hierzu: EGMR (GK),
Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 119).
cc) Der konkreten Stellung des Arbeitnehmers innerhalb der religiösen Organisation
oder einer ihrer selbständigen Einrichtungen (vgl. hierzu EKMR, Rommelfänger v.
Deutschland, Kommissionsentscheidung vom 6. September 1989, Nr. 12242/86, zum
Fall eines Assistenzarztes in einem von einer Stiftung der römisch-katholischen
Kirche getragenen Krankenhaus; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom
135
3. Februar 2011, Nr. 18136/02, § 44, zum Fall einer Erzieherin in von protestantischen
Kirchengemeinden
getragenen Kindertagesstätten) und dem Inhalt der ihm
übertragenen Aufgaben kommt bei Beurteilung des zulässigen Umfangs der
Loyalitätsobliegenheiten und der Vereinbarkeit von Sanktionsmaßnahmen aufgrund
von Loyalitätsverstößen im Rahmen der Abwägungsentscheidung besonderes
Gewicht zu (vgl. EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni
2014, Nr. 56030/07, § 131, m.w.N.). Eine bereits von der Kirche oder
Religionsgemeinschaft vorgenommene Abstufung von Loyalitätsobliegenheiten nach
der Konfession oder beruflichen Stellung des Arbeitnehmers ist daher mit der
Konvention nicht nur vereinbar, sondern im Zweifelsfall sogar geboten (vgl. EGMR,
Obst v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, § 50, zur Abstufung
aufgrund der Konfession; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom 3. Februar
2011, Nr. 18136/02, § 46; EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12.
Juni 2014, Nr. 56030/07, § 119, jeweils zur Abstufung aufgrund der Stellung).
Hierdurch trägt die Kirche oder Religionsgemeinschaft ihrer Pflicht Rechnung, nur die
aus ihrer Sicht zur Abwendung substantieller Risiken für den Zusammenhalt, die
Glaubwürdigkeit oder die Einheit der Gemeinschaft unabweisbaren Einschränkungen
konventionsrechtlich geschützter Rechtspositionen ihrer Arbeitnehmer vorzunehmen
(vgl. EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014,
Nr. 56030/07, § 132).
c) Maßgeblich für die Beurteilung des notwendigen Inhalts der besonderen
Loyalitätsanforderungen und des Gewichts von Verstößen hiergegen ist auch nach
der Konvention der Standpunkt der Kirche oder Religionsgemeinschaft. Er ist von den
staatlichen Stellen im Rahmen ihres Handelns grundsätzlich zugrunde zu legen (vgl.
EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03, § 68;
EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02, § 45).
Diese Beschränkung der Einschätzungsgewalt staatlicher Stellen wurzelt in dem
konventionsrechtlichen Autonomierecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften
(Art. 11 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 9 Abs. 1 EMRK) und der staatlichen
Neutralitätspflicht in religiösen Angelegenheiten. Sie untersagt über die bereits
genannten Gewährleistungsinhalte des Autonomierechts hinaus der staatlichen
Gewalt auch, kraft eigener Einschätzung darüber zu befinden, ob religiöse
Glaubensüberzeugungen
oder
die Mittel
zum
Ausdruck
solcher
Glaubensüberzeugungen legitim sind (vgl. EGMR, Manoussakis v. Griechenland,
Urteil vom 26. September 1996, Nr. 18748/91, § 47; EGMR, Jehovah's Witnesses of
Moscow u.a. v. Russland, Urteil vom 10. Juni 2010, Nr. 302/02, § 141; EGMR, Church
136
137
138
of Jesus Christ of the Latter-Day Saints v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 4. März
2014, Nr. 7552/09, § 29).
d) Dennoch muss die staatliche Gewalt den Standpunkt der Kirche und
Religionsgemeinschaft vom Inhalt einer Loyalitätsanforderung und dem Gewicht
eines Verstoßes ihrem Handeln nicht gänzlich ungeprüft zugrunde legen (vgl. hierzu
auch: EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03,
§
69);
von
der konventionsrechtlichen Neutralitätspflicht in religiösen
Angelegenheiten ist der Staat in bestimmten Ausnahmefällen entbunden (vgl. EGMR
(GK), Hasan u. Chaush v. Bulgarien, Urteil vom 26. Oktober 2000, Nr. 30985/96,
§§ 62, 78; EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr.
56030/07, § 129).
aa) Die staatlichen Gerichte haben sicherzustellen, dass die kirchlichen Arbeitgeber
im Einzelfall keine unannehmbaren Anforderungen an ihre Arbeitnehmer richten (vgl.
EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, § 51;
EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02, § 45 f.).
Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Loyalitätsobliegenheit oder deren
Gewichtung im Kündigungsfall gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung verstößt
(vgl. EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02,
§ 45 f.), auf willkürlichen Erwägungen beruht (vgl. EGMR (GK), Fernández Martínez v.
Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 132) oder wenn die
Zugrundelegung des nach kirchlichem Selbstverständnis erlassenen Rechtsakts
durch das staatliche Gericht auch unter Berücksichtigung des entgegenstehenden
Interesses des kirchlichen Arbeitgebers im Ergebnis zu einer offensichtlichen
Verletzung eines Konventionsrechts in seinem Kerngehalt führt (vgl. EGMR (GK),
Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 132).
Letzteres ist auch dann anzunehmen, wenn durch die Loyalitätserwartung der
Schutzbereich eines abwägungsfesten Konventionsrechts (vgl. Art. 15 Abs. 2 EMRK)
berührt wird.
Nicht ausreichend ist hingegen, dass die Loyalitätsobliegenheit lediglich den
Schutzbereich anderer Konventionsrechte tangiert. Dies würde nicht nur das
konventionsrechtliche Autonomierecht der Kirchen (Art. 11 Abs. 1 EMRK i.V.m. Art. 9
Abs. 1 EMRK) entwerten, sondern auch den Abwägungsprozess verkürzen, wodurch
der konventionsrechtlich gebotene gerechte Ausgleich zwischen mehreren - privaten
- Interessen (vgl. EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr.
425/03, §§ 45, 52; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom 3. Februar 2011, Nr.
139
140
141
18136/02, §§ 40, 47) verhindert würde. Die Entscheidung darüber, ob dem Interesse
des kirchlichen Arbeitgebers an der selbstbestimmten Verwirklichung seiner
religiösen Grundsätze im Arbeitsrecht oder dem Interesse des kirchlichen
Arbeitnehmers an dem konventionsrechtlich geschützten, jedoch illoyalen Verhalten
der Vorrang einzuräumen ist, ist erst im Wege der Abwägung der beiderseitigen
Rechtspositionen zu treffen (vgl. hierzu auch: Grabenwarter/Pabel, KuR 2011, S. 55
<62>).
bb) Inwieweit das Autonomierecht der Kirchen als Schranke entgegenstehender
Konventionsrechte
wirkt (vgl. EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom
23. September 2010, Nr. 1620/03, § 60), ist auf der Grundlage einer umfassenden
Abwägung der widerstreitenden Positionen und aller sie beeinflussenden Faktoren
auf den Einzelfall zu bestimmen (vgl. EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil vom
23. September 2010, Nr. 425/03, § 51; EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom
23. September 2010, Nr. 1620/03, § 68; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil
vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02, § 45; EGMR (GK), Fernández Martínez
v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, §§ 132, 148). Da den Staat
insoweit hinsichtlich beider Konventionsrechte objektive Schutzpflichten treffen und
der Schutz der einen Rechtsposition notwendigerweise zur Beeinträchtigung des
entgegenstehenden
Rechts
führt, räumt der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte den Konventionsstaaten einen weiten Einschätzungsspielraum ein
(vgl. EGMR (GK), Sindicatul "Pastorul cel Bun" v. Rumänien, Urteil vom 9. Juli 2013,
Nr. 2330/09, § 160; EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni
2014, Nr. 56030/07, § 123).
Dennoch werden die Konventionsstaaten ihren objektiven Schutzpflichten im
Einzelfall nur gerecht, wenn sie eine eingehende und alle wesentlichen Umstände
d e s Einzelfalls berücksichtigende Abwägung der durch die Kündigung tangierten
Rechtspositionen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer vornehmen (vgl. EGMR (GK),
Sindicatul "Pastorul cel Bun" v. Rumänien, Urteil vom 9. Juli 2013, Nr. 2330/09,
§ 159; EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014,
Nr. 56030/07, § 123).
Hierzu zählen unter anderem das Bewusstsein des Arbeitnehmers für die
begangene Loyalitätspflichtverletzung (vgl. EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom
23. September 2010, Nr. 1620/03, § 72; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil
vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02, §§ 44, 46; EGMR (GK), Fernández Martínez v.
Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, §§ 141, 146), die Freiwilligkeit der
142
143
Bindung an höhere Loyalitätsobliegenheiten (vgl. EGMR (GK), Fernández Martínez v.
Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 135), die öffentlichen
Auswirkungen der Loyalitätspflichtverletzung (vgl. EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil
vom 23. September 2010, Nr. 425/03, § 51; EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom
23. September 2010, Nr. 1620/03, § 72), das Interesse des kirchlichen Arbeitgebers
an der Wahrung seiner Glaubwürdigkeit (vgl. EGMR, Siebenhaar v. Deutschland,
Urteil vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02, §§ 44, 46; EGMR (GK), Fernández Martínez
v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014, Nr. 56030/07, § 137), die Position des
Arbeitnehmers in der Einrichtung, die Schwere des Loyalitätspflichtverstoßes in den
Augen der Kirche sowie die zeitliche Dimension des Loyalitätsverstoßes (vgl. jeweils
EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, § 48), das
Interesse des Arbeitnehmers an der Wahrung seines Arbeitsplatzes (vgl. EGMR,
Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03, § 67), sein Alter,
seine Beschäftigungsdauer (vgl. jeweils EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil vom
23. September 2010, Nr. 425/03, § 48; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom
3. Februar 2011, Nr. 18136/02, § 44) und die Aussichten auf eine neue Beschäftigung
(vgl. EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03,
§ 73; EGMR (GK), Fernández Martínez v. Spanien, Urteil vom 12. Juni 2014,
Nr. 56030/07, § 144).
cc) Im Rahmen der Interessenabwägung hat das staatliche Gericht allerdings stets
die konventionsrechtlich geschützte Neutralitätspflicht in religiösen Angelegenheiten
zu wahren (vgl. EGMR, Manoussakis v. Griechenland, Urteil vom 26. September
1996, Nr. 18748/91, § 47; EGMR, Jehovah's Witnesses of Moscow u.a. v. Russland,
Urteil vom 10. Juni 2010, Nr. 302/02, § 141; EGMR, Church of Jesus Christ of the
Latter-Day Saints v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 4. März 2014, Nr. 7552/09,
§ 29). Aus diesem Grund muss es bei der Gewichtung religiös geprägter
Abwägungselemente (z.B. spezifische Nähe der Tätigkeit des Arbeitnehmers zum
Verkündigungsauftrag)
den
Standpunkt
der
verfassten
Kirche und
Religionsgemeinschaft seiner Entscheidung zugrunde legen, sofern es hierdurch
nicht in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung gelangt (vgl. EGMR,
Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03, § 67; EGMR,
Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02, § 45).
dd) Soweit der Gerichtshof in einem Urteil beanstandet hat, die nationalen Gerichte
hätten die Frage der Nähe der vom Beschwerdeführer ausgeübten Tätigkeit zum
Verkündigungsauftrag der Kirche nicht geprüft, sondern offenbar ohne weitere
144
145
146
Nachprüfungen den Standpunkt des kirchlichen Arbeitgebers in dieser Frage
übernommen (vgl. EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010,
Nr. 1620/03, § 67), war dies den besonderen Umständen des Einzelfalls geschuldet
und
rechtfertigt deshalb keine abweichende Beurteilung vorstehender
konventionsrechtlicher Maßstäbe.
Eine Lesart der Entscheidungsgründe, die eine eigenständige staatliche Bewertung
der Nähe einer Tätigkeit zum Verkündigungsauftrag erfordern würde, liefe Gefahr, in
unauflösbaren Widerspruch zur sonstigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl.
EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, §§ 43, 51;
EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03, §§ 57,
60; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom 3. Februar 2011, Nr. 18136/02,
§§ 40, 45) bei Loyalitätsobliegenheiten im kirchlichen Arbeitsverhältnis zu geraten
und das konventionsrechtlich garantierte Autonomierecht der Kirchen und
Religionsgemeinschaften in seinem Kernbestand zu entwerten. Auch bliebe
ungeklärt, warum der Gerichtshof sich einerseits auf die Maßstäbe des
Bundesverfassungsgerichts aus der Entscheidung vom 4. Juni 1985 (BVerfGE 70,
138 ff.) bezogen hat, ohne deren Vereinbarkeit mit der Konvention in Zweifel zu
ziehen (vgl. EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr.
1620/03,
§§
35,
68)
andererseits
aber
die
Überprüfung kirchlicher
Selbstverständnisse in weitem Umfang von den staatlichen Arbeitsgerichten
verlangen würde. Eine solche Interpretation stünde letztlich auch der Rezeption in die
nationale Verfassungsordnung entgegen, weil sie den Grundrechtsschutz innerhalb
eines mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses einseitig zu Lasten eines Beteiligten
beschränken würde (vgl. auch Plum, NZA 2011, S. 1194 <1200>).
II.
Nach diesen Maßstäben verstößt das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom
8. September 2011 gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG und
Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV, da die bei der Anwendung des § 1 Abs. 2 KSchG
vorgenommene Interessenabwägung dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht der
Beschwerdeführerin nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang Rechnung
trägt.
1. Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137
Abs. 3 WRV ist zu Gunsten der Beschwerdeführerin eröffnet. Sie hat in Anbetracht der
vorrangig religiösen Zielsetzung ihres Handelns und ihrer institutionellen Verbindung
zur römisch-katholischen Kirche an deren kirchlichem Selbstbestimmungsrecht teil.
147
148
149
150
Zwar ist weder die Beschwerdeführerin selbst noch das in ihrer Trägerschaft
befindliche V.-Krankenhaus Teil der amtskirchlichen Organisation. Beide haben
jedoch teil an der Verwirklichung von Auftrag und Sendung der Kirche im Geist
katholischer Religiosität, im Einklang mit dem Bekenntnis und in Legitimation durch
die Amtsträger der römisch-katholischen Kirche.
a)
Die
durch
die
Beschwerdeführerin wahrgenommene Aufgabe der
Krankenbehandlung und -pflege stellt sich als Teil des Sendungsauftrages der
römisch-katholischen Kirche dar. Sie ist als karitative Tätigkeit auf die Erfüllung der
aus dem Glauben erwachsenden Pflicht zum Dienst am Mitmenschen und damit auf
die Wahrnehmung einer kirchlichen Grundfunktion gerichtet (vgl. BVerfGE 53, 366
<393>; siehe auch: BVerfGE 24, 236 <246 ff.>; 46, 73 <85 ff.>; 57, 220 <242 f.>; 70,
138 <163>).
In der Staatspraxis der Bundesrepublik Deutschland ist die karitative Tätigkeit in den
Kirchenverträgen und Konkordaten als legitime Aufgabe der Kirchen ausdrücklich
anerkannt und den Kirchen die Berechtigung dazu gewährleistet worden (vgl.
BVerfGE 24, 236 <248>; 53, 366 <393>, jeweils m.w.N.). Zu dieser karitativen
Tätigkeit gehört die kirchlich getragene Krankenpflege, die in langer katholischer
Tradition steht. Ihr entspricht die Organisation des kirchlichen Krankenhauses und die
auf sie gestützte, an christlichen Grundsätzen ausgerichtete, auch pastorale und
seelsorgerische Zuwendung umfassende Hilfeleistung für den Patienten (vgl.
BVerfGE 53, 366 <393>).
b) An der Erfüllung dieses kirchlichen Auftrags hat die Beschwerdeführerin aufgrund
ihrer bekenntnismäßigen und organisatorischen Verbundenheit mit der römisch-
katholischen Kirche Anteil. Dies ergibt sich aus einer Gesamtschau der Regelungen
des Gesellschaftsvertrages.
c) Im Fall der Beschwerdeführerin tritt die religiöse Dimension nicht in einem Maße
gegenüber rein ökonomischen Erwägungen in den Hintergrund, das geeignet wäre,
die Prägung durch das glaubensdefinierte Selbstverständnis in Frage zu stellen. Die
Regelungen des Gesellschaftsvertrags der Beschwerdeführerin vom 6. August 2003,
die als verbindlich anerkannten Vorgaben der Grundordnung für katholische
Krankenhäuser in Nordrhein-Westfalen vom 5. November 1996 in der Fassung vom
27. März 2001 und die enge Verbindung der Beschwerdeführerin zum Verbund
Katholischer
Kliniken D . stehen einer vorrangig auf Vermögensmehrung
ausgerichteten Aufgabenwahrnehmung der von ihr getragenen Einrichtungen
151
152
153
154
entgegen. Allein das Ziel der Erwirtschaftung eines wirtschaftlichen Ergebnisses, das
die Substanz der vorhandenen Einrichtungen und Arbeitsplätze sichert und eine
sinnvolle Weiterentwicklung ermöglicht, ist für sich genommen noch nicht geeignet,
die im Übrigen klar erkennbare religiöse Prägung ihres Handelns zu verdrängen.
2. Die Auferlegung besonderer Loyalitätsobliegenheiten gegenüber dem Kläger des
Ausgangsverfahrens war vom Gewährleistungsinhalt des Art. 140 GG in Verbindung
mit Art. 137 Abs. 3 WRV umfasst. Durch den Verweis auf die Grundordnung des
kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse vom 22. September
1993 (GrO) sowie § 10 Abs. 4 Nr. 2 des Arbeitsvertrages vom 12. Oktober 1999 ist
das Verbot des Lebens in kirchlich ungültiger Ehe wirksam und vorhersehbar zum
Inhalt des Arbeitsvertrages geworden (nachfolgend a) und b)). Diese
Loyalitätsanforderungen stehen ebenso wie ihre Abstufung nach Konfession und
Stellung im Einklang mit den Maßstäben der verfassten römisch-katholischen Kirche.
Sie erlegen dem Kläger des Ausgangsverfahrens keine unannehmbaren oder gegen
grundlegende
verfassungsrechtliche Gewährleistungen
verstoßenden
Obliegenheiten auf (nachfolgend c)).
a) Die Regelungen der Grundordnung einschließlich derer zum Verbot des Lebens
in kirchlich ungültiger Ehe sowie zu der Abstufung von Loyalitätserwartungen und
arbeitsrechtlichen Sanktionen nach Konfession und Stellung des Arbeitnehmers sind
von der Gesamtheit der katholischen Bischöfe in Deutschland übereinstimmend
verabschiedet und promulgiert und damit für ihren jeweiligen Bereich als kirchliches
Gesetz in Kraft gesetzt worden (vgl. Can. 391 § 1 CIC). Zweifel über den Inhalt der
Maßstäbe der verfassten Kirche, denen seitens der staatlichen Gerichte durch
entsprechende Rückfragen bei den zuständigen Kirchenbehörden zu begegnen
gewesen wäre (vgl. BVerfGE 70, 138 <168>), liegen deshalb nicht vor.
b) Inhalt und Reichweite der dem Kläger des Ausgangsverfahrens auferlegten
Obliegenheiten sowie die sich aus einem Verstoß möglicherweise ergebenden
arbeitsrechtlichen Konsequenzen waren für ihn mit hinreichender Bestimmtheit
erkennbar, so dass er in der Lage war, sein Verhalten hieran auszurichten. Eine
Unannehmbarkeit der an ihn gerichteten Loyalitätserwartungen wegen mangelnder
Vorhersehbarkeit scheidet aus.
aa) Art. 4 Abs. 1 Satz 1 GrO formuliert die für alle katholischen Mitarbeiter geltenden
Loyalitätsobliegenheiten, indem er die Beachtung und Anerkennung der "Grundsätze
der katholischen Glaubens- und Sittenlehre" verlangt. Im Vergleich zu den
155
156
157
nichtkatholischen christlichen Mitarbeitern (vgl. Art. 4 Abs. 2 GrO) und
nichtchristlichen Mitarbeitern (vgl. Art. 4 Abs. 3 GrO) werden katholische Mitarbeiter
- zu denen der Kläger des Ausgangsverfahrens zählt - damit gesteigerten
Loyalitätsanforderungen unterworfen. Hiermit korrespondiert, dass in der Regel nur
katholische Mitarbeiter mit Tätigkeiten, die im leitenden Dienst ausgeübt werden,
betraut werden dürfen (vgl. Art. 3 Abs. 2 GrO).
Art. 4 Abs. 1 Satz 3 GrO enthält für leitende Mitarbeiter eine weitere Steigerung der
Loyalitätsobliegenheiten. Durch Verweis auf Art. 4 Abs. 1 Satz 2 GrO wird diesen
"das persönliche Lebenszeugnis im Sinne der Grundsätze der katholischen
Glaubens- und Sittenlehre" abverlangt, das in besonderem Maße auch die Beachtung
und Anerkennung der katholischen Glaubenssätze im außerdienstlichen Bereich
umfasst. Die in der Präambel des Arbeitsvertrages ebenfalls zur Grundlage des
Arbeitsverhältnisses erklärte "Grundordnung für katholische Krankenhäuser in
Nordrhein-Westfalen" vom 5. November 1996 in der Fassung vom 27. März 2001
stellt in Abschnitt A Ziff. 6 klar, dass unter anderem die Abteilungsärzte (Chefärzte) als
leitende Mitarbeiter im Sinne der Grundordnung zu gelten haben.
Art. 5 GrO regelt die arbeitsrechtliche Sanktionierung von Loyalitätsverstößen und
stellt in Absatz 1 Satz 3 klar, dass auch die einseitige Beendigung des
Arbeitsverhältnisses durch Kündigung nach erfolgloser Ausschöpfung milderer
Maßnahmen sowie unter Berücksichtigung der Schwere des Loyalitätsverstoßes in
Betracht kommt. In Form von Regelbeispielen benennt Art. 5 Abs. 2 GrO bestimmte
Loyalitätsverstöße, die aus Sicht der Kirche im Regelfall derart schwerwiegend sind,
dass sie grundsätzlich geeignet sind, eine Kündigung aus kirchenspezifischen
Gründen zu rechtfertigen; hierdurch werden zugleich die in Art. 4 GrO auferlegten
Loyalitätsobliegenheiten - wenn auch nicht abschließend - konkretisiert. Art. 5 Abs. 2
Spiegelstrich 2 GrO benennt als schwerwiegenden Loyalitätsverstoß ausdrücklich
den "Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der
Kirche ungültigen Ehe".
Für die durch Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und 3 GrO gesteigerten Loyalitätsanforderungen
unterworfenen Mitarbeiter stellt Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GrO klar, dass die vorstehend
genannten, generell als Kündigungsgrund in Betracht kommenden Verstöße die
Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung in aller Regel ausschließen, wenn sie von
einem leitenden Mitarbeiter begangen werden. Ein Absehen von der Kündigung soll
ausnahmsweise in Betracht kommen, wenn schwerwiegende Umstände des
Einzelfalls die Kündigung als unangemessen erscheinen lassen (vgl. Art. 5 Abs. 3
158
159
160
161
Satz 2 GrO).
bb) Für den Kläger des Ausgangsverfahrens, der als Chefarzt zur Gruppe der
leitenden Mitarbeiter zählt, war demnach bereits bei Vertragsschluss aufgrund der in
Bezug genommenen Regelungen der Grundordnung erkennbar, dass ein
Loyalitätsverstoß durch Eingehung einer zweiten Ehe im Hinblick auf den Bestand
seiner nach kirchlichem Recht geschlossenen ersten Ehe im Regelfall die Kündigung
seines Arbeitsverhältnisses als arbeitsrechtliche Sanktion nach sich ziehen würde.
Tatbestand und Rechtsfolge eines derartigen Loyalitätsverstoßes waren zudem durch
§
10 Abs. 4 Nr. 2 des Arbeitsvertrages konkretisiert. Dem Kläger des
Ausgangsverfahrens war danach bei der Entscheidung, die hiermit verbundene
partielle
Beschränkung seiner
Freiheitsrechte
durch
Eingehung
des
Arbeitsverhältnisses mit der Beschwerdeführerin zu deren Konditionen hinzunehmen,
der Umfang der damit eingegangenen Selbstbindung bewusst oder er hätte ihm
jedenfalls bewusst sein müssen. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass
nach dem in der Grundordnung zum Ausdruck kommenden Selbstverständnis der
römisch-katholischen Kirche an einen katholischen Arbeitnehmer mit leitenden
Aufgaben wegen seiner Konfession und der konkret bekleideten Stellung gesteigerte
Erwartungen im Hinblick auf die Kenntnis der kirchlichen Lehre als Teil des
beruflichen Anforderungsprofils gestellt werden können (vgl. EGMR, Obst v.
Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 425/03, § 50; EGMR, Schüth v.
Deutschland, Urteil vom 23. September 2010, Nr. 1620/03, § 71).
c) Weder die Loyalitätsobliegenheit als solche noch die arbeitsrechtliche
Sanktionierung von Verstößen aufgrund der Konfession einerseits und der leitenden
Stellung andererseits ist verfassungsrechtlich zu beanstanden.
aa) Die durch Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und 3 GrO auferlegte und durch Art. 5 Abs. 2
Spiegelstrich 2 GrO konkretisierte Loyalitätserwartung an die Mitarbeiter der römisch-
katholischen Kirche, den nach katholischem Verständnis besonderen Charakter der
kirchenrechtlich geschlossenen Ehe als dauerhaften und unauflöslichen Bund
zwischen Mann und Frau zu respektieren und zu schützen, ist auf grundlegende und
durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Glaubenssätze der römisch-katholischen
Kirche rückführbar.
bb) Auch die Abstufung der Loyalitätsobliegenheiten nach der Konfession des
kirchlichen Arbeitnehmers mit ihrer grundlegenden Kategorisierung nach Katholiken
(Art. 4 Abs. 1 GrO), Nichtkatholiken (Art. 4 Abs. 2 GrO) und Nichtchristen (Art. 4 Abs. 3
162
163
GrO) ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Das Bundesverfassungsgericht
hat bereits in seiner Entscheidung vom 4. Juni 1985 die besondere Bedeutung von
Loyalitätserwartungen gegenüber Mitgliedern der eigenen Kirche anerkannt (vgl.
BVerfGE 70, 138 <166>). Denn für die Kirchen kann ihre Glaubwürdigkeit davon
abhängen, dass gerade ihre Mitglieder, die in ein Arbeitsverhältnis zu ihnen treten,
die kirchliche Ordnung - auch in ihrer Lebensführung - respektieren. Die Abstufung
knüpft zudem an die differenzierte Bindungswirkung des kanonischen Rechts an.
Durch das katholische Kirchenrecht auferlegte Pflichten gelten ausschließlich für
Katholiken (vgl. Can. 11 CIC).
cc) Die in Art. 4 Abs. 1 Satz 3, Art. 5 Abs. 3 GrO vorgesehene Verschärfung der
Loyalitätsobliegenheiten von Arbeitnehmern in leitender Stellung ist ebenfalls von der
Verfassung gedeckt. Leitende Arbeitnehmer nehmen Funktionen wahr, die hohe
Bedeutung für Bestand, Entwicklung, Struktur und Umsetzung der vorgegebenen
Ziele der kirchlichen Einrichtung haben. Ihnen kommt eine besondere Verantwortung
für die Wahrung des spezifisch religiösen Charakters und damit der Erfüllung von
Sendung und Auftrag der Kirche zu. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die
außerkirchliche als auch die innerkirchliche Öffentlichkeit (vgl. Dütz, NJW 1994, S.
1369 <1371, 1373>).
3. Das Bundesarbeitsgericht hat im Rahmen der Auslegung von § 1 Abs. 2 KSchG
bei der Gewichtung der Interessen der Beschwerdeführerin Bedeutung und Tragweite
des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 4 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 140 GG und
Art. 137 Abs. 3 WRV) verkannt. Es hat auf der ersten Stufe eine eigenständige
Bewertung religiös vorgeprägter Sachverhalte vorgenommen und seine eigene
Einschätzung der Bedeutung der Loyalitätsobliegenheit und des Gewichtes eines
Verstoßes hiergegen an die Stelle der kirchlichen Einschätzung gesetzt, obschon
diese anerkannten kirchlichen Maßstäben entspricht und nicht mit grundlegenden
verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in Widerspruch steht. Auf diese Weise hat
es die Unwirksamkeit der Kündigung mit einem vermeintlich leichteren Gewicht der
Rechtsposition der Beschwerdeführerin begründet - deren Bestimmung jedoch allein
Sache der verfassten römisch-katholischen Kirche gewesen wäre -, statt ein
besonders hohes Gewicht der Gegenposition des Klägers des Ausgangsverfahrens
in die Abwägung einzubringen (vgl. auch: Reichold/Hartmeyer, AP Nr. 92 zu § 1
KSchG 1969, Bl. 1675 ff.; Pötters, EzA § 611 BGB 2002 Kirchliche Arbeitnehmer
Nr. 21, S. 15 ff.; Magen, in: Kämper/Puttler , Straßburg und das kirchliche
Arbeitsrecht, 2013, S. 41 <48 ff.>; Melot de Beauregard, NZA-RR 2012, S. 225
164
165
166
<230>).
a) Soweit das Bundesarbeitsgericht zu Lasten der Beschwerdeführerin darauf
abstellt, dass nach Art. 3 Abs. 2 GrO auch nichtkatholische Personen mit leitenden
Aufgaben betraut werden können und die römisch-katholische Kirche es daher
offenbar nicht als zwingend erforderlich erachte, Führungspositionen an das
Lebenszeugnis für die katholische Sittenlehre zu knüpfen (BAG, Urteil vom 8.
September 2011, S. 14 UA (Rn. 41)), liegt hierin eine unzulässige eigene Bewertung
der Schwere des Loyalitätsverstoßes. Das Gericht überprüft die in Ausübung der
Kirchenautonomie getroffene Abstufung von Loyalitätsobliegenheiten (vgl. BVerfGE
70, 138 <167 f.>) nach Konfession und Stellung im Allgemeinen und erachtet sie
anhand seiner eigenen - säkularen - Maßstäbe als widersprüchlich.
aa) Die römisch-katholische Kirche hat in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts
bei der flächendeckenden Promulgation der Grundordnung festgelegt, dass der
kirchliche Arbeitgeber in der Regel leitende Aufgaben nur einer Person übertragen
kann, die katholischen Glaubens ist (vgl. Art. 3 Abs. 2 GrO). In diesem Fall unterliegt
der Mitarbeiter nicht nur den nach Art. 4 Abs. 1 Satz 1 GrO für alle katholischen
Mitarbeiter geltenden Loyalitätsobliegenheiten, sondern erfährt aufgrund seiner
Leitungsposition auch die in Art. 4 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Satz 2 GrO
enthaltene weitere Verschärfung der an ihn gerichteten Loyalitätserwartungen. Im
Falle des Verstoßes gegen diese Anforderungen sieht Art. 5 Abs. 3 GrO als Regelfall
die Kündigung des Arbeitsverhältnisses vor, erachtet den Loyalitätsverstoß also als
besonders schwerwiegend. Hiervon ist die Beschwerdeführerin auch im vorliegenden
Fall ausgegangen.
bb) Diese Einschätzung stellt das Bundesarbeitsgericht dadurch infrage, dass es auf
die in der Grundordnung offengehaltene Möglichkeit verweist, leitende Aufgaben - im
Ausnahmefall (vgl. hierzu etwa Ziff. 3 der "Ausführungsrichtlinien und Hinweise zur
Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse"
der Diözese Münster vom 1. April 1994) - auch nichtkatholischen christlichen
Mitarbeitern
zu übertragen. Zudem erachtet das Bundesarbeitsgericht unter
Übergehung der kirchlichen Einschätzung zwei Tatbestände als vergleichbar, die für
die römisch-katholische Kirche von ganz unterschiedlichem Gewicht sind: Für ihre
Glaubwürdigkeit, die Integrität der Dienstgemeinschaft und die Vertrauensbasis der
Mitarbeiterschaft hat es ein signifikant anderes Gewicht, ob in Ausnahmefällen in
leitenden Funktionen auch Personen beschäftigt werden, die aus kirchenrechtlichen
Gründen von Beginn an nur verminderten Loyalitätsobliegenheiten unterliegen oder
167
168
169
170
ob Personen weiterbeschäftigt werden müssen, die gerade wegen ihrer Zugehörigkeit
zur katholischen Kirche bevorzugt diese Positionen erhalten haben und daher
erhöhten Loyalitätsbindungen unterliegen, diese aber bewusst brechen und damit
nicht nur gegen ihre arbeitsvertraglichen Obliegenheiten, sondern auch gegen ihre
Pflichten als Mitglied der Kirche verstoßen.
b) Auch soweit das Bundesarbeitsgericht aus dem Umstand, dass die
Beschwerdeführerin in der Vergangenheit mehrfach auch Chefärzte weiterbeschäftigt
habe, die als Geschiedene erneut geheiratet hatten, auf ein vermindertes
Kündigungsinteresse geschlossen hat, setzt es seine Einschätzung der Gewichtigkeit
des durch den Kläger des Ausgangsverfahrens begangenen Loyalitätsverstoßes an
die Stelle der verfassten Kirche, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein.
aa) Dies gilt zunächst, soweit das Bundesarbeitsgericht auch nichtkatholische
geschiedene Chefärzte in seine Betrachtung eingestellt hat. Das Gericht stellt
wiederum die Abstufung von Loyalitätsanforderungen nach der Konfession des
Stelleninhabers insgesamt in Frage. Dabei setzt es sich über die bereits im
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 enthaltene Vorgabe
hinweg, wonach auch die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im
kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine "Abstufung" der Loyalitätsobliegenheiten
eingreifen soll, eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unterliegende
Angelegenheit ist (vgl. BVerfGE 70, 138 <167 f.>).
bb)
Nichts
anderes
gilt,
soweit
das Bundesarbeitsgericht auf die
Weiterbeschäftigung katholischer Chefärzte nach ihrer Wiederheirat verweist. Das
Bundesarbeitsgericht wäre von Verfassungs wegen nur dann zu einer
eigenständigen
Gewichtung
des Loyalitätsverstoßes des Klägers des
Ausgangsverfahrens entgegen der kirchlichen Einschätzung ermächtigt gewesen,
wenn es durch die Anwendung der kirchlicherseits vorgegebenen Kriterien mit den
grundlegenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen in Widerspruch geraten
wäre. Dies ist nicht der Fall. Insbesondere ist die durch die Beschwerdeführerin
vorgenommene hohe Gewichtung des Loyalitätsverstoßes seitens des Klägers des
Ausgangsverfahrens auch in Anbetracht der Fälle, in denen katholischen Chefärzten
nach Wiederverheiratung nicht gekündigt worden war, verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden (vgl. auch Reichold/Hartmeyer, AP Nr. 92 zu § 1 KSchG 1969, Bl. 1675
<1678>).
(1) Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf im Urteil vom 1.
171
172
Juli 2010, an die das Bundesarbeitsgericht gemäß § 72 Abs. 5 ArbGG in Verbindung
mit § 559 Abs. 1 ZPO gebunden ist, waren in der Vergangenheit lediglich zwei
katholische Chefärzte nach erneuter Heirat weiterbeschäftigt worden. Im ersten Fall
erfuhr die Beschwerdeführerin von der Wiederverheiratung des Chefarztes erst einen
Monat vor dessen altersbedingtem Ausscheiden und sah in Anbetracht dieses
Umstands von einer Kündigung ab. Im zweiten Fall lag der sachgerechte Grund für
die abweichende Vorgehensweise der Beschwerdeführerin in der zwischenzeitlich
deutlich geänderten innerkirchlichen Rechtslage und der daraus sich ergebenden
Vorhersehbarkeit einer Kündigung im Falle einer Wiederheirat.
(2) Verfassungsrechtlich nicht haltbar ist daher auch die Argumentation des
Bundesarbeitsgerichts, gerade hieraus lasse sich für den Fall des Klägers des
Ausgangsverfahrens der Rückschluss ziehen, dass die Beschwerdeführerin das
Ethos ihrer Organisation durch eine differenzierte Handhabung bei der Anwendung
u n d Durchsetzung ihres legitimen Loyalitätsbedürfnisses selbst nicht zwingend
gefährdet sah. Einerseits beruht sie auf der wenig überzeugenden Prämisse, dass
Kompromissbereitschaft aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls ein
Nachweis dafür sei, dass der kompromittierte Wert nicht hoch eingeschätzt werde
(vgl. Magen, in: Kämper/Puttler , Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht,
2013, S. 41 <49 f.>). Andererseits basiert sie auf der unzutreffenden Annahme, das
kirchliche Selbstbestimmungsrecht falle bei der Abwägung nur dann ins Gewicht,
wenn es - auch unter Überspielung der eigenen Grundsätze - seitens der Kirchen
ausnahmslos durchgesetzt werde. Ein derartiger "Kündigungsautomatismus", den
das Bundesarbeitsgericht der Beschwerdeführerin abzuverlangen scheint, ist jedoch
nicht nur dem deutschen Kündigungsschutzrecht fremd, sondern steht auch im
Widerspruch zu verfassungsrechtlichen (vgl. BVerfGE 70, 138 <166 f.>) wie
konventionsrechtlichen Vorgaben (vgl. EGMR, Obst v. Deutschland, Urteil vom 23.
September 2010, Nr. 425/03, § 51).
c) Auch die Annahme des Bundesarbeitsgerichts, die Beschwerdeführerin habe
nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts bereits seit längerem von dem
ehelosen Zusammenleben des Klägers mit seiner späteren zweiten Ehefrau gewusst
was erkennen lasse, dass die Beschwerdeführerin ihre Glaubwürdigkeit nicht durch
jeden Loyalitätsverstoß eines Mitarbeiters als erschüttert ansehe (vgl. BAG, Urteil
vom 8. September 2011, S. 14 UA (Rn. 43)), verfehlt die verfassungsrechtlichen
Anforderungen und verstößt gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 140 GG
und Art. 137 Abs. 3 WRV (zu Fragen des Vertrauensschutzes, vgl. Rn. 181). Das
173
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Bundesarbeitsgericht setzt sich über den Maßstab der verfassten Kirche hinweg,
indem es das Leben in kirchlich ungültiger Ehe mit dem Leben in einer nichtehelichen
Lebensgemeinschaft
gleichsetzt
und
aus
der
vermeintlich bestehenden
Gleichwertigkeit beider Tatbestände Rückschlüsse auf eine das Kündigungsinteresse
der Beschwerdeführerin verringernde Inkonsistenz der arbeitsrechtlichen Gewichtung
und Sanktionierung von Loyalitätsverstößen zieht (vgl. auch Pötters, EzA § 611 BGB
2002 Kirchliche Arbeitnehmer Nr. 21, S. 15 <18>; Reichold/Hartmeyer, AP Nr. 92 zu
§ 1 KSchG 1969, Bl. 1675 <1678>).
aa) Die Grundordnung als relevanter Maßstab der verfassten Kirche sieht - neben
anderen Tatbeständen - nur den Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und
der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe als ausreichend schwerwiegenden
Loyalitätsverstoß an, der eine Kündigung des Arbeitnehmers rechtfertigen kann (Art. 5
Abs. 2 Spiegelstrich 2 GrO) und bei leitenden Arbeitnehmern nach Einschätzung der
Kirche im Regelfall auch rechtfertigt (Art. 5 Abs. 3 GrO). Diese scharfe Sanktionierung
des Loyalitätsverstoßes beruht auf dem besonderen sakramentalen Charakter der
E h e und dem für das katholische Glaubensverständnis zentralen Dogma der
Unauflöslichkeit des gültig geschlossenen Ehebandes zu Lebzeiten.
Das ehelose Zusammenleben mit einem anderen Partner trotz fortbestehender Ehe
hat nach dem Maßstab der verfassten römisch-katholischen Kirche demgegenüber
eine andere Qualität. Zwar entspricht die nichteheliche Lebensgemeinschaft neben
einer weiterbestehenden Ehe ebenfalls nicht dem Ethos der römisch-katholischen
Kirche. Die katholischen Diözesanbischöfe haben jedoch in Ausübung des
kirchlichen Selbstbestimmungsrechts und in Ausfüllung der durch die Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Juni 1985 den Kirchen überlassenen
Spielräume entschieden, diesem Glaubenssatz mit Wirkung für das weltliche
Arbeitsverhältnis nicht dasselbe Gewicht zuzumessen wie dem Verbot der erneuten
Heirat zu Lebzeiten des ursprünglichen Ehepartners. Die Beschwerdeführerin betont
in diesem Zusammenhang, dass erst durch die Wiederheirat der Loyalitätsverstoß
eine neue Qualität erreiche, indem der Bruch mit der nach kirchlichem Recht
weiterhin gültigen Ehe offiziell dokumentiert und perpetuiert werde (vgl. hierzu bereits:
Rüfner, in: Listl/Pirson, Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1995, § 66,
S. 901 <923>). Die Wiederverheiratung schaffe zugleich einen kaum mehr
änderbaren Dauerzustand, während der Ehebruch - obschon nach der Lehre der
Kirche eindeutig missbilligt - durch ein zukünftiges Unterlassen korrigierbar sei und
daher noch die Möglichkeit bestehe, dass die eheliche Lebensgemeinschaft wieder
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177
hergestellt werde.
bb) Dieses in der Grundordnung zum Ausdruck gebrachte und für die weltlichen
Gerichte grundsätzlich bindende Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche,
dass gerade der Bruch des sakramentalen Bandes durch eine erneute Heirat einen
"wesentlichen Grundsatz der Glaubens- und Sittenlehre" für die römisch-katholische
Kirche verletzt und hierin ein besonders schwerwiegender Loyalitätsverstoß zu
erblicken ist, ist plausibel und beruht in Anbetracht des Vorstehenden nicht auf einem
Verstoß gegen grundlegende verfassungsrechtliche Gewährleistungen, so dass es
durch die staatlichen Gerichte ihren Entscheidungen zugrunde zu legen gewesen
wäre.
Dies hat das Bundesarbeitsgericht missachtet und zugleich die Einschätzung der
römisch-katholischen Kirche über die für sie relevanten Loyalitätsobliegenheiten
dadurch relativiert, dass es aus der Tatsache, dass ein nach Einschätzung des
Gerichts vermeintlich gleichwertiger Loyalitätsverstoß nicht konsequent geahndet
wird, auf eine generelle Duldung auch anderer Pflichtverletzungen und eine
Vernachlässigung der diesen zugrunde liegenden Prinzipien geschlossen hat. Indem
das Bundesarbeitsgericht hierdurch die Kenntnis der Beschwerdeführerin von einem
n a c h Einschätzung der verfassten Kirche qualitativ andersartigen und
unbedeutenderen Loyalitätsverstoß zum Anlass nimmt, ihr Interesse an der
arbeitsrechtlichen
Ahndung
des
aus
ihrer Sicht
schwerwiegenderen
Loyalitätsverstoßes des Klägers des Ausgangsverfahrens in Frage zu stellen, hat es
die auf Grundlage ihrer katholischen Glaubensgrundsätze durch die Kirche gebildete
Abstufung der Loyalitätsobliegenheiten und arbeitsrechtlichen Sanktionierungen
nivelliert und dem in Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht
der Beschwerdeführerin nicht in dem gebotenen Umfang Rechnung getragen.
III.
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist daher aufzuheben und die Sache an dieses
zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Das Bundesarbeitsgericht wird bei der
Auslegung von § 1 Abs. 2 KSchG die praktische Konkordanz zwischen dem
kirchlichen Selbstbestimmungsrecht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV) und der
korporativen Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) auf Seiten der
Beschwerdeführerin und dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) sowie
dem Gedanken des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) auf
Seiten des Klägers des Ausgangsverfahrens herzustellen haben (vgl. hierzu BVerfGE
89, 214 <232>; 97, 169 <176>).
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1. Art. 6 Abs. 1 GG ist nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten
Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts (vgl.
BVerfGE 6, 55 <71 f.>; 6, 386 <388>; 9, 237 <248>; 22, 93 <98>; 24, 119 <135>; 61,
18 <25>; 62, 323 <329>; 76, 1 <41, 49>; 105, 313 <346>; 107, 205 <212 f.>; 131, 239
<259>). Er stellt Ehe und Familie als die Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft
unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung (vgl. BVerfGE 6, 55 <72>; 55,
114 <126>; 105, 313 <346>) und garantiert eine Sphäre privater Lebensgestaltung,
die staatlicher Einwirkung entzogen ist (stRspr., vgl. BVerfGE 21, 329 <353>; 61, 319
<346 f.>; 99, 216 <231>; 107, 27 <53>). Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet
des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer
rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung
bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu
einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss
unter Mitwirkung des Staates (vgl. BVerfGE 10, 59 <66>; 29, 166 <176>; 62, 323
<330>; 105, 313 <345>; 115, 1 <19>; 121, 175 <193>; 131, 239 <259>), in der Mann
und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen (vgl. BVerfGE 37, 217
<249 ff.>; 103, 89 <101>; 105, 313 <345>) und über die Ausgestaltung ihres
Zusammenlebens frei entscheiden können (vgl. BVerfGE 39, 169 <183>; 48, 327
<338>; 66, 84 <94>; 105, 313 <345>).
Maßgeblich aus Sicht des Grundgesetzes ist dabei das Bild einer "verweltlichten"
bürgerlich-rechtlichen Ehe (vgl. BVerfGE 31, 58 <82 f.>), das durch das christliche
Eheverständnis traditionell geprägt, aber mit diesem nicht inhaltlich identisch ist. Da
die konstitutiven Merkmale einer Ehe und die Gründe ihrer Aufhebung in der
kirchlichen und der staatlichen Rechtsordnung nicht kongruent sind, können daher
Bestand und Fortbestand einer Ehe aus Sicht des Staates und aus Sicht der Kirche
unterschiedlich beurteilt werden (vgl. Pirson, in: Listl/ders., Handbuch des
Staatskirchenrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1994, § 28, S. 787 <798>). Zwar ist auch nach dem
deutschen Eherecht die Ehe eine auf Lebenszeit geschlossene Gemeinschaft (vgl.
§ 1353 Abs. 1 Satz 1 BGB), sie ist jedoch im Gegensatz zu der nach katholischem
Ritus geschlossenen Ehe nicht unauflöslich, sondern kann unter den im Gesetz
normierten Voraussetzungen geschieden werden, wodurch die Ehegatten ihre
Eheschließungsfreiheit wiedererlangen (vgl. BVerfGE 10, 59 <66>; 31, 58 <82>; 53,
224 <245, 250>). Aus diesem Grund kann eine nach einer vorherigen Scheidung
geschlossene Ehe verfassungsrechtlich nicht geringer bewertet werden als die
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181
182
Erstehe (vgl. BVerfGE 55, 114 <128 f.>; 66, 84 <93>; 68, 256 <267 f.>; 108, 351
<364>).
2. Bisher hat das Bundesarbeitsgericht lediglich festgestellt, dass der Schutzbereich
des Art. 6 Abs. 1 GG zu Gunsten des Klägers des Ausgangsverfahrens und seiner
zweiten Ehefrau eröffnet ist und dass der Schutz von Ehe und Familie daher - ebenso
wie die Wertungen aus Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 12 EMRK - im Wege mittelbarer
Drittwirkung bei der Auslegung von § 1 Abs. 2 KSchG Berücksichtigung zu finden hat.
Es hat jedoch bisher nicht dargelegt, weshalb diese Rechtspositionen, die begrifflich
bei ausnahmslos jeder Kündigung wegen Wiederverheiratung betroffen sind, gerade
im vorliegenden Fall in einem Maße tangiert sind, das es rechtfertigen würde, den
Interessen des Klägers des Ausgangsverfahrens den Vorrang vor den Interessen der
Beschwerdeführerin einzuräumen. Der Hinweis auf die Eröffnung des Schutzbereichs
kann für sich genommen hierfür nicht ausreichen, da anderenfalls die in Ausübung
d e s verfassungsrechtlich
geschützten
Selbstbestimmungsrechts festgelegte
Loyalitätsobliegenheit entwertet (vgl. auch: Joussen, in: Kämper/Puttler ,
Straßburg und das kirchliche Arbeitsrecht, 2013, S. 27 <38>) und ein Vorrang von
Art. 6 Abs. 1 GG gegenüber den kirchlichen Rechtspositionen vermutet würde, der
verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Andererseits reicht dieser Hinweis auch nicht,
um der für den Kläger des Ausgangsverfahrens und seiner jetzigen Ehefrau aus der
Situation erwachsenden emotionalen Zwangslage gerecht zu werden. Das
Bundesarbeitsgericht wird daher - gegebenenfalls nach Ermöglichung ergänzender
Tatsachenfeststellungen - eine eingehende und al l e wesentliche Umstände des
Einzelfalls berücksichtigende Abwägung der durch die Kündigung tangierten
Rechtspositionen der Beschwerdeführerin und des Klägers des Ausgangsverfahrens
vorzunehmen haben.
3. Das Bundesarbeitsgericht wird auch den Gedanken des Vertrauensschutzes
insoweit zu würdigen haben, als § 10 Abs. 4 Nr. 2 des Arbeitsvertrages in
Abweichung von der Grundordnung unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich von
Verstößen gegen kirchliche Grundsätze - Verstoß gegen das Verbot des Lebens in
kirchlich ungültiger Ehe einerseits und Verstoß gegen das Verbot des Lebens in
nichtehelicher
Gemeinschaft andererseits
-
nicht
vorsieht
und
die
individualvertragliche Abrede besonderes Vertrauen des Arbeitnehmers ausgelöst
haben könnte.
4. Ferner wird es zu beachten haben, dass die Freiwilligkeit der Eingehung von
Loyalitätsobliegenheiten durch den kirchlichen Arbeitnehmer im Rahmen der
183
Interessenabwägung zu berücksichtigen ist (vgl. BAG, Urteil vom 25. April 2013
- 2 AZR 579/12 - juris, Rn. 32; EGMR, Schüth v. Deutschland, Urteil vom 23.
September 2010 Nr. 1620/03, § 71; EGMR, Siebenhaar v. Deutschland, Urteil vom
3. Februar 2011 Nr. 18136/02, § 46) und dem Arbeitgeber nach einem einmaligen
Fehlverhalten die Fortführung des Arbeitsverhältnisses eher zugemutet werden kann
als in Konstellationen, in denen er dauerhaft mit dem illoyalen Verhalten des
Arbeitnehmers konfrontiert wird (vgl. BAG, Urteil vom 25. Mai 1988 - 7 AZR 506/87 -
juris, Rn. 27; hierzu auch: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom
31. Januar 2001 - 1 BvR 619/92 -, juris, Rn. 8 f.).
D.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Dies
erscheint auch in Anbetracht des durch die Beschwerdeführerin noch vollständig
erreichbaren (fachgerichtlichen) Rechtsschutzziels nicht als unangemessen.
Voßkuhle
Landau
Huber
Hermanns
Müller
Kessal-Wulf
König