Urteil des BVerfG vom 03.02.2000

auslieferungshaft, übergabe des verfolgten, zulässigkeit der auslieferung, verfassungsbeschwerde

- Bevollmächtigte:
1
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 66/00 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn A. ,
gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 12. Januar 2000 -
2 Ausl. I 50/99 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die
Richter Sommer,
Broß
und die Richterin Osterloh
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 3. Februar 2000 einstimmig
beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 12. Januar 2000 - 2 Ausl. I
50/99 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2
des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Er wird
aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Frankfurt am Main zurückverwiesen.
Die Vollstreckung des Auslieferungshaftbefehls des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main
vom 14. September 1999 - 2 Ausl. I 50/99 - bleibt bis zur erneuten Entscheidung des
Oberlandesgerichts mit den Auflagen des Beschlusses der Kammer vom 14. Januar 2000
ausgesetzt.
Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die durch die Verfassungsbeschwerde und
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung entstandenen notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Gründe:
A.
Das Verfassungsbeschwerde-Verfahren betrifft die Frage, welche verfassungsrechtlichen
Anforderungen im Rahmen eines Auslieferungsverfahrens an die Anordnung der Fortdauer
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der Auslieferungshaft zu stellen sind.
I.
1. Der Beschwerdeführer soll zur Strafverfolgung nach Großbritannien ausgeliefert werden.
Mit Beschluss vom 14. September 1999 ordnete das Oberlandesgericht Frankfurt am Main
die
förmliche Auslieferungshaft an. Aufgrund dieses Beschlusses wurde der
Beschwerdeführer am 13. Oktober 1999 in Haft genommen. Der Beschwerdeführer sollte
ursprünglich am 20. Dezember 1999 den britischen Behörden zunächst übergeben und zu
einem gegen ihn noch anhängigen strafgerichtlichen Berufungsverfahren vor dem
Landgericht München I Ende Januar 2000 zurückgeliefert werden, damit er dort an der vom
25. bis zum 27. Januar 2000 terminierten mündlichen Verhandlung teilnehmen kann. Hierzu
kam es jedoch nicht.
2. Mit Beschluss vom 21. Dezember 1999 wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main
die Einwendungen des Beschwerdeführers gegen die Aufrechterhaltung und den Vollzug des
Haftbefehls zurück und ordnete die Fortdauer der Auslieferungshaft an. Es hatte bereits
zuvor mit Beschluss vom 3. November 1999 die Auslieferung des Beschwerdeführers für
zulässig erklärt und mit Beschlüssen vom 10. November und 30. November 1999 jeweils die
Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet.
3. In dem gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21.
Dezember 1999 erfolglos angestrengten Verfassungsbeschwerde-Verfahren (Az.: 2 BvR
2396/99) legte der Beschwerdeführer eine Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 30.
Dezember 1999 vor. Darin erklärt das Auswärtige Amt, dass es die Auslieferung des
Beschwerdeführers bewillige. Zudem heißt es wörtlich: "Die Übergabe des Verfolgten wird bis
zum rechtskräftigen Abschluss des gegen den Verfolgten laufenden Strafverfahrens und im
Falle einer Verurteilung einer verhängten Strafe aufgeschoben."
4. Mit Beschluss vom 12. Januar 2000 wies das Oberlandesgericht Frankfurt am Main die
u.a. im Hinblick auf die Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 30. Dezember 1999
erhobenen Einwendungen des Beschwerdeführers zurück und ordnete die Fortdauer der
Auslieferungshaft an. Zwar sei mit Blick auf die Verbalnote des Auswärtigen Amtes der
Zeitpunkt der beabsichtigten Überstellung nicht näher bestimmbar. Dies habe aber nur zur
Folge, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gegebenenfalls zu einem späteren
Zeitpunkt nicht mehr gewahrt sein könnte, was nach Durchführung der Hauptverhandlung vor
dem Landgericht München I Ende Januar 2000 zu überprüfen sein könne.
5. Gegen diesen Beschluss erhob der Beschwerdeführer die vorliegende
Verfassungsbeschwerde und beantragte den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Mit
Beschluss vom 14. Januar 2000 ordnete das Bundesverfassungsgericht einstweilen die
Aussetzung der Vollstreckung des Auslieferungshaftbefehls bis zur Entscheidung über die
Verfassungsbeschwerde an und erteilte dem Beschwerdeführer die Auflage, bei der für
seinen Wohnort zuständigen Polizeibehörde seinen türkischen Reisepass abzugeben und
sich dort täglich zweimal zu melden.
II.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer u.a., die fortwährende
Vollstreckung des Auslieferungshaftbefehls sei mit seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz
2 GG in Verbindung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht vereinbar. Das
Auslieferungsverfahren sei beendet, da sowohl über die Zulässigkeit der Auslieferung als
auch die Bewilligung der Auslieferung entschieden sei. Da die Übergabe nunmehr auf
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unbestimmte Zeit aufgeschoben worden sei, könne der Haftbefehl nicht mehr in Vollzug
bleiben. Ein rechtskräftiger Abschluss des Strafverfahrens vor dem Landgericht München I
sei nicht absehbar, da bei einem Freispruch im Berufungsverfahren mit einer Revision der
Staatsanwaltschaft zu rechnen sei und bei einer Verurteilung des Beschwerdeführers die
Verteidigung Revision einlegen werde. Die Gründe für die Nichtübergabe des
Beschwerdeführers lägen nicht im Auslieferungsverfahren selbst, sondern hätten ihren Grund
in einem deutschen Strafanspruch, der noch vollstreckt werden solle, wobei der
Beschwerdeführer erstinstanzlich freigesprochen worden sei und ein Haftbefehl in dem
Berufungsverfahren vor dem Landgericht München I gerade nicht bestehe.
2. Den gemäß § 94 BVerfGG Äußerungsberechtigten wurde Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur
Durchsetzung eines in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechts des Beschwerdeführers
angezeigt ist (§§ 93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG), und gibt ihr in dem aus dem
Tenor ersichtlichen Umfange statt.
Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen hat das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 61, 28); hiernach ist die
Verfassungsbeschwerde im Sinne einer Entscheidungskompetenz der Kammer
offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Der angegriffene Beschluss des
Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 12. Januar 2000 verletzt den Beschwerdeführer
in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit.
1. a) Die Anordnung der Auslieferungshaft stellt ebenso wie die von Untersuchungshaft
einen staatlichen Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit dar, der nur aufgrund
eines Gesetzes erfolgen darf und nur dann, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls
dies zwingend gebieten (vgl. BVerfGE 53, 152 <158>; 6 1 , 28 <32>). Die erforderliche
gesetzliche Grundlage bietet § 15 Abs. 1 IRG. Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG kann nach dem
Eingang des Auslieferungsersuchens gegen den Verfolgten die Auslieferungshaft dann
angeordnet werden, wenn die Gefahr besteht, dass er sich dem Auslieferungsverfahren oder
der Durchführung der Auslieferung entziehen werde.
b) Die Auslieferungshaft ist als Maßnahme der internationalen Rechts- und Amtshilfe Teil
der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt. Sie unterliegt von
Verfassungs wegen dem Gebot größtmöglicher Verfahrensbeschleunigung. Dies bedeutet,
dass ab einer gewissen, für die verfahrensmäßige und technische Abwicklung der
notwendigen Entscheidungen unabdingbaren Mindestdauer des Verfahrens besondere, das
Auslieferungsverfahren selbst betreffende Gründe vorliegen müssen, um die weitere
Aufrechterhaltung des Haftbefehls, jedenfalls aber die weitere Vollstreckung der
Auslieferungshaft zu rechtfertigen (BVerfGE 61, 28 <34>; vgl. Beschluss der 1. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Juli 1999 - 2 BvR 898/99 - in Juris
veröffentlicht).
2. Derartige besondere Gründe, die das Auslieferungsverfahren selbst betreffen, liegen hier
nicht vor.
a) Ein Strafanspruch des ersuchten Staates ist kein "das Auslieferungsverfahren selbst
betreffender Grund" für die Fortdauer der Auslieferungshaft. Wenn - wie hier - nach
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Zulässigkeitserklärung und Abschluss des Bewilligungsverfahrens eine Überstellung des
Verfolgten in einem angemessenen Zeitraum rechtlich nicht möglich und der Zeitpunkt einer
späteren Überstellung ungewiss ist, kann der Strafanspruch des ersuchten Staates eine
Fortdauer der Auslieferungshaft nicht rechtfertigen. Der Zweck der Auslieferungshaft besteht
nicht darin, den Strafanspruch des ersuchten Staates zu sichern, sondern darin, die
Durchführung des Auslieferungsverfahrens und die Durchführung der Auslieferung zu sichern
(vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 1 IRG).
b) Auch die geplante Überstellung des Beschwerdeführers nach Großbritannien nach dem
rechtskräftigen Abschluss des Berufungsverfahrens vor dem Landgericht München I stellt
keinen "im Auslieferungsverfahren liegenden" Grund für die Fortdauer der Auslieferungshaft
dar. Zwar kann eine auf tatsächlichen Gegebenheiten beruhende Verzögerung bei der
Überstellung des Verfolgten unter Umständen und in gewissen zeitlichen Grenzen eine
Aufrechterhaltung der Auslieferungshaft begründen (vgl. Art. 18 Abs. 4 EuAlÜbk). Vorliegend
ist jedoch eine Überstellung des Beschwerdeführers nach Großbritannien aufgrund der
Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 30. Dezember 1999 aus Rechtsgründen nicht
möglich. Zudem steht fest, dass der Zeitpunkt der beabsichtigten Überstellung des
Beschwerdeführers nach Großbritannien nicht näher bestimmbar ist.
Das Oberlandesgericht hat hieraus in dem angegriffenen Beschluss lediglich gefolgert, dass
d i e Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer gegebenenfalls nach Durchführung der
Hauptverhandlung vor dem Landgericht München I Ende Januar zu überprüfen sein könnte.
Es
übersieht hierbei, dass bereits der Zeitraum zwischen der Erteilung der
Auslieferungsbewilligung am 30. Dezember 1999 und der Hauptverhandlung in München, die
vom 25. bis zum 27. Januar 2000 stattfinden sollte, von Verfassungs wegen (Art. 2 Abs. 2
Satz 2 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) einer Rechtfertigung
für eine Haftfortdauer-Anordnung bedurfte, die in dem Auslieferungsverfahren selbst liegt.
Diese Rechtfertigung fehlt hier.
3. Der Beschluss des Oberlandesgerichts ist demnach aufzuheben, die Sache ist an das
Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung über die Einwendungen zurückzuverweisen
(vgl. § 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die weitere Aussetzung der Vollstreckung
des Auslieferungshaftbefehls mit den Auflagen des Beschlusses der Kammer vom 14.
Januar 2000 beruht auf § 35 BVerfGG.
IV.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Broß
Osterloh