Urteil des BVerfG vom 04.06.2012

untersuchungshaft, freiheit der person, verfassungsbeschwerde, paraguay

- Bevollmächtigte: Rechtsanwältin Alexandra A. Rittershaus,
Heinigstraße 17-19, 67059 Ludwigshafen am Rhein -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 644/12 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S…,
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 16. Februar 2012 -
1 Ws 32/12 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Dresden vom 31. Januar 2012 - 4 Qs
110/11 -,
c) den Beschluss des Landgerichts Dresden vom 1. August 2011 - 4 Qs
110/11 -,
d) den Haftbefehl des Amtsgerichts Dresden vom 22. Januar 2010 - 271 Gs
206/10 -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Huber
und die Richterin Kessal-Wulf
am 4. Juni 2012 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 16. Februar 2012 - 1 Ws
32/12 - und der Beschluss des Landgerichts Dresden vom 1. August 2011 - 4 Qs
110/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2
Satz 2 des Grundgesetzes.
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Der Beschluss des Oberlandesgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das
Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Freistaat Sachsen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 8.000 € (in Worten:
achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
A.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen die
Aufrechterhaltung von im Ausland vollzogener sogenannter „Einlieferungshaft“.
I.
1. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft Dresden ordnete das Amtsgericht Dresden
gegen den Beschwerdeführer mit Beschluss vom 22. Januar 2010 die
Untersuchungshaft an. Ihm wird zur Last gelegt, in 32 Fällen einen gewerbsmäßigen
Betrug begangen zu haben, davon in einem Fall als Versuch. Er soll sich Ende 2004
gemeinschaftlich mit seinem Vater durch eine vorgetäuschte Vermittlung von im
Ausland zu besetzenden Arbeitsstellen eine Einnahmequelle von einiger Dauer
verschafft haben. Personen, die sich auf entsprechende Zeitungsinserate gemeldet
hätten und zu einem Vorstellungsgespräch erschienen seien, hätten zur Absicherung
von Vorleistungen (Reisekosten, Unterbringung, Verpflegung, Arbeitskleidung etc.)
geforderte Beträge zwischen 50 € und 1.000 € gezahlt. Entgegen den
Versprechungen des Beschwerdeführers sei es jedoch - wie von vornherein
beabsichtigt - nachfolgend nicht zum Abschluss eines Arbeitsvertrages gekommen.
Die geleisteten Zahlungen seien nicht zurückerstattet worden, wodurch sich im
Tatzeitraum zwischen 20. Januar 2005 und 4. Februar 2005 ein Gesamtschaden von
22.300 € ergeben habe.
Es bestehe der Haftgrund der Flucht nach § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO, weil der
Beschwerdeführer ausweislich des Bundeszentralregisters seit dem 1. November
2002 wegen unbekannten Aufenthalts gesucht werde. Er habe im Falle einer
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Verurteilung mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen. Auch bei
Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sei die Anordnung der
Untersuchungshaft geboten.
2. Nach Erlass des Haftbefehls leitete die Staatsanwaltschaft Dresden die
internationale Fahndung ein. Der nicht vorbestrafte und bis dahin haftunerfahrene
Beschwerdeführer wurde am 28. Februar 2011 in Asunción/Paraguay festgenommen,
wo er seit 2005 mit seiner Ehefrau und zwei minderjährigen Kindern lebt. Nachdem er
zunächst seiner Auslieferung in die Bundesrepublik Deutschland zugestimmt und das
zuständige Gericht in Paraguay am 4. Juli 2011 die Auslieferung genehmigt hatte,
legte er gegen die Auslieferungsentscheidung ein Rechtsmittel ein, über das die
Justiz in Paraguay noch nicht entschieden hat. Der Beschwerdeführer befindet sich
weiterhin in Auslieferungshaft.
3. Dem Beschwerdeführer war der Haftbefehl des Amtsgerichts Dresden am 12. Juli
2011 ausgehändigt worden. Mit Schreiben vom 17. Juli 2011 legte er Beschwerde
gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts ein.
Er rügte die erst nach viereinhalb Monaten erfolgte Aushändigung des Haftbefehls
sowie
eine unzureichende Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft. Er sei
unschuldig und selbst Opfer eines von einer anderen Person begangenen Betruges
geworden. Die Suchanfrage im Bundeszentralregister stamme aus dem Jahr 2002
und hätte gelöscht werden müssen, als er im Juni 2003 seinen Wohnsitz in
Haan/Rheinland (Landkreis Mettmann) angemeldet habe. Er beanstandete auch eine
lange Verfahrensdauer. Das deutsche Auslieferungsersuchen sei erst einen Tag vor
Ablauf der dreimonatigen Frist gestellt worden.
Ferner beschrieb der Beschwerdeführer seine Haftsituation in Paraguay. Er sei in
einer verschmutzten Mehrpersonenzelle ohne Bett und Verpflegung untergebracht
worden. Die Häftlinge seien auf die finanzielle Hilfe von Verwandten angewiesen. Da
er Alleinverdiener sei, habe er auch zur Unterstützung seiner Familie von Freunden
einen Kredit aufnehmen müssen.
4. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 1. August 2011 verwarf das Landgericht
Dresden die Beschwerde; deren Ausführungen könnten den dringenden Tatverdacht
nicht entkräften. Es liege der Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 112 Abs. 2 Nr. 2
StPO vor, weil sich der Beschwerdeführer aus Deutschland nach „unbekannt“
abgemeldet habe, über Verbindungen in Südamerika verfüge und nach derzeitigen
Erkenntnissen auch unter dem falschen Namenszusatz „Freiherr von“ aufgetreten sei.
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Es kämen keine milderen Maßnahmen in Betracht.
5. Hiergegen richtete sich die weitere Beschwerde vom 6. Januar 2012. Zugleich
beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung des Haftbefehls, hilfsweise die
Außervollzugsetzung mit den Auflagen, unverzüglich in das Bundesgebiet
einzureisen, hier seinen Wohnsitz zu nehmen, Reisedokumente abzugeben und sich
wöchentlich
bei
der
Polizei zu melden. Der Haftbefehl und die
Beschwerdeentscheidung verletzten sein Freiheitsgrundrecht. Die Entscheidungen
begründeten nicht ausreichend den dringenden Tatverdacht, den Haftgrund und die
Verhältnismäßigkeit.
Er sei weder flüchtig noch halte er sich verborgen, sondern lebe an seinem im
Ausland gewählten Wohnsitz. Es liege auch keine Fluchtgefahr vor, weil er sich
keinem Verfahren entzogen habe. Er habe erst bei der Verhaftung von dem gegen ihn
geführten Verfahren erfahren. Zuvor habe er ungefähr zwei Jahre lang fast täglich in
der Deutschen Botschaft gearbeitet. Er habe schon in seiner Beschwerde darauf
hingewiesen, für die Dauer des Verfahrens seinen Wohnsitz bei seiner Mutter in
Deutschland begründen und an der Hauptverhandlung teilnehmen zu wollen.
Die Gerichte hätten nur floskelhaft darauf verwiesen, dass er im Falle einer
Verurteilung mit einer empfindlichen Freiheitsstrafe zu rechnen habe. Selbst im Falle
einer Verurteilung sei jedoch in Anbetracht der vermeintlichen Schadenshöhen nicht
mit einer solchen Strafe zu rechnen. Im Übrigen müsse für die Fluchtgefahr auf die
tatsächlich zu erwartende Strafe abgestellt und die Dauer der in Paraguay erlittenen
Auslieferungshaft mit 1:3 angerechnet werden.
Er rügte ferner einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Es sei
nicht nachprüfbar, welche Erwägungen das Amts- und das Landgericht überhaupt
angestellt hätten. Eine zwischen der Schwere des Eingriffs in seine Rechte und der
Bedeutung der Strafsache vorzunehmende Abwägung sei nicht erfolgt. Dabei würden
die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit zunehmender Dauer der Haft
steigen.
6. Mit Beschluss vom 31. Januar 2012 half das Landgericht der weiteren
Beschwerde nicht ab. Gesonderte Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit enthielt der
Nichtabhilfebeschluss nicht.
7. Das Oberlandesgericht verwarf mit dem angefochtenen Beschluss vom
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16. Februar 2012 die weitere Beschwerde als unbegründet und nahm im Tenor
Bezug auf die aus seiner Sicht zutreffenden Gründe der angefochtenen Entscheidung
sowie
der
Nichtabhilfeentscheidung
des Landgerichts, die durch das
Beschwerdevorbringen nicht entkräftet würden. Eine weitere Begründung erfolgte
nicht.
Diese Entscheidung ist der Bevollmächtigten des Beschwerdeführers am
21. Februar 2012 zugegangen.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde und dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 GG.
Bei
einem
Eingriff
in
die
Freiheit
der
Person komme
der
Verhältnismäßigkeitsprüfung eine erhebliche Bedeutung zu. Aus den angegriffenen
Entscheidungen ergebe sich jedoch nicht, dass sein Freiheitsgrundrecht im Rahmen
der Abwägung ausreichend berücksichtigt worden sei. Zu Unrecht und nur
oberflächlich werde der Haftgrund der Fluchtgefahr angenommen. Nur pauschal
werde auf die Höhe der zu erwartenden Strafe verwiesen, ohne dass konkrete
Überlegungen erläutert oder Erwägungen zur Anrechnung der Auslieferungshaft
angestellt würden.
Die landgerichtlichen Ausführungen erschöpften sich in der Floskel, dass mildere
Maßnahmen nicht in Betracht kämen. Das Oberlandesgericht habe auf die
Entscheidungen des Landgerichts nur Bezug genommen. Insoweit fehle es den
Entscheidungen an der erforderlichen Begründungstiefe.
III.
Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Europa hat von einer
Stellungnahme abgesehen. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten des
Ausgangsverfahrens vorgelegen.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit sie
sich gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Dresden vom 16. Februar 2012
und des Landgerichts Dresden vom 1. August 2011 wendet, weil dies zur
Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b
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i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1
Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der
Kammer sind gegeben. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 2
Abs. 2 Satz 2 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Die gegen den Haftbefehl und die Nichtabhilfeentscheidung des Landgerichts
Dresden vom 31. Januar 2012 gerichtete Verfassungsbeschwerde nimmt das
Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung an. Von einer Begründung wird
insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
I.
Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das
Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleisteten Recht
des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer
wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Grundsätzlich darf nur einem rechtskräftig
Verurteilten die Freiheit vollständig entzogen werden. Der Entzug der Freiheit eines
der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung, die ihre
Wurzel im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat und auch in Art. 6 Abs. 2
EMRK ausdrücklich hervorgehoben ist (vgl. BVerfGE 19, 342 <347>; 74, 358 <371>),
nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung
aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der
Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv
gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine
maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. grundlegend BVerfGE 19, 342 <347> sowie
BVerfGE 20, 45 <49 f.>; 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.> ; BVerfGK 15, 474 <479>).
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für
die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der
Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr
auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (BVerfGE 20, 45 <49 f.>). Das
Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer
wirksamen
Strafverfolgung
regelmäßig
mit zunehmender
Dauer
der
Untersuchungshaft (vgl. BVerfGE 36, 264 <270>; 53, 152 <158 f.>). Daraus folgt zum
einen, dass die Anforderungen an die Zügigkeit der Arbeit in einer Haftsache mit der
Dauer der Untersuchungshaft steigen. Zum anderen nehmen auch die Anforderungen
an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zu (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 15,
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474 <480>).
In diesem Rahmen ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch
die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. hierzu BVerfGE 53, 30 <65>; 63, 131
<143> ). Das Verfahren der Haftprüfung und Haftbeschwerde muss deshalb so
ausgestaltet sein, dass nicht die Gefahr einer Entwertung der materiellen
Grundrechtsposition aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG besteht. Dem ist
vor allem durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe von
Haftfortdauerentscheidungen Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 103, 21 <35 f.> ). Die
mit Haftsachen betrauten Gerichte haben sich bei der zu treffenden Entscheidung
über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren Voraussetzungen eingehend
auseinanderzusetzen und diese entsprechend zu begründen. In der Regel sind in
jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle
Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung
zwischen
dem
Freiheitsgrundrecht
des Beschuldigten
und
dem
Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit
geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in
ihrer Gewichtigkeit verschieben können (vgl. BVerfGK 7, 140 <161>; 10, 294 <301>;
1 5 , 474 <481>). Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des
Verfahrens, die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende
Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des
Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB - das hypothetische Ende einer
möglicherweise zu verhängenden Freiheitsstrafe (vgl. BVerfGK 8, 1 <5>; BVerfG,
Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 806/08 -,
juris Rn. 30 f.).
Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des
Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den
Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im
Rahmen
einer
Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und
nachvollziehbar sein (vgl. BVerfGK 7, 421 <429 f.>; 8, 1 <5>; 15, 474 <481 f.>).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen werden die mit
d e r Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des Landgerichts
Dresden vom 1. August 2011 und des Oberlandesgerichts Dresden nicht gerecht.
1. Es ist für die verfassungsrechtliche Prüfung ohne Belang, dass sich der
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Beschwerdeführer derzeit in Paraguay in Auslieferungshaft befindet und (noch) nicht
i n Untersuchungshaft in Deutschland. Denn mit seiner Verfassungsbeschwerde
wendet er sich gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Dresden vom 22. Januar 2010
sowie die nachfolgenden Haftfortdauerentscheidungen und nicht gegen die von der
Republik Paraguay in alleiniger Zuständigkeit und Verantwortung angeordnete
Freiheitsentziehung (vgl. zum Rechtsschutz in „Einlieferungshaftsachen“: BVerfGE
57, 9 <25> ; BVerfGK 15, 570 <575>).
2. Die angegriffenen Haftfortdauerbeschlüsse lassen die erforderliche Abwägung
zwischen dem Freiheitsanspruch des Beschwerdeführers und dem staatlichen
Strafverfolgungsanspruch nicht erkennen.
In der Entscheidung vom 1. August 2011 räumt das Landgericht der gebotenen
Abwägung lediglich einen Satz ein, mit dem floskelhaft festgestellt wird, mildere
Maßnahmen im Sinne des § 116 StPO kämen nicht in Betracht.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts vom 16. Februar 2012 enthält keine
eigenständige
Begründung, sondern erschöpft sich darin, auf die - nicht
aussagekräftigen - Gründe der landgerichtlichen Entscheidung und zusätzlich auf die
Nichtabhilfeentscheidung vom 31. Januar 2012 zu verweisen, die indes zur Frage der
Abwägung schweigt.
Dabei bestand für die Gerichte schon allein aufgrund der seit der
Beschwerdeentscheidung vom 1. August 2011 verstrichenen Zeit Anlass, sich
eingehend mit den Voraussetzungen für eine Haftfortdauer auseinanderzusetzen. Auf
die in den umfangreichen Eingaben des Beschwerdeführers enthaltenen und für die
vorzunehmende
Abwägung
relevanten Umstände
gehen
die
Haftfortdauerentscheidungen jedoch nicht ein.
Wird aber die von Verfassungs wegen gebotene Abwägung zwischen dem
Freiheitsanspruch des Beschuldigten und dem staatlichen Strafverfolgungsinteresse
nicht vorgenommen, die Haftfortdauer lediglich mit der bloßen Wiedergabe des
Gesetzeswortlauts begründet oder die weitere gesetzliche Voraussetzung einer
Rechtfertigung der Fortdauer der Untersuchungshaft nicht einmal erwähnt, liegt mit
anderen Worten ein Abwägungsausfall vor, so hat dies regelmäßig eine Verletzung
des Grundrechts der persönlichen Freiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG i.V.m. Art. 104 GG)
zur Folge (vgl. BVerfGK 8, 1 <7>).
3. Landgericht und Oberlandesgericht hätten in ihre Abwägung verschiedene
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Faktoren einstellen müssen.
Zur Einschätzung der für die Haftfortdauerentscheidung unter anderem relevanten
Straferwartung ist zu berücksichtigen, dass sich der im Bundesgebiet bislang nicht
vorbestrafte und zuvor haftunerfahrene Beschwerdeführer bereits seit dem 28.
F e b ru a r 2011 in Auslieferungshaft befindet. Deren Dauer ist nach der
Anrechnungsvorschrift des § 51 Abs. 3 Satz 2 StGB zu berücksichtigen, damit es im
Falle einer Verurteilung nicht durch die Dauer der Untersuchungshaft zu einer
Vollverbüßung kommt, die dem Resozialisierungszweck der Strafhaft widerspricht
(vgl. BVerfGK 7, 140 <161>).
Die veröffentlichte Rechtsprechung (vgl. Landgericht Zweibrücken, Urteil vom 17.
August 1994 - 424 Js 3601/92 - 1 KLs -, juris) und die Literatur (vgl. Fischer, StGB, 59.
Aufl., § 51 Rn. 19; Patzak, in: Körner, Betäubungsmittelgesetz, 7. Aufl. 2012, vor
§§ 29 ff. BtMG Rn. 205) legen für in Paraguay erlittene Haft einen
Anrechnungsmaßstab von 1:2 zu Grunde.
Zudem ist bei der Einschätzung der Straferwartung auch die Frage einer vorzeitigen
Haftentlassung zu beachten. Denn der Resozialisierungszweck der Strafhaft erfordert
es auch, dass bei der Ermittlung der Dauer der zu erwartenden Strafhaft eine
Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gemäß § 57 StGB jedenfalls dann
berücksichtigt wird, wenn eine solche im konkreten Fall zu erwarten ist (vgl. BVerfGK
7, 140 <161 f.>). Dies ist vorliegend deshalb der Fall, weil der Beschwerdeführer
bislang nicht vorbestraft und erstmalig von einer freiheitsentziehenden Maßnahme
betroffen ist.
III.
Gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ist die Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in
Verbindung mit Art. 104 GG durch das Oberlandesgericht wie auch durch das
Landgericht festzustellen.
Wegen der Eilbedürftigkeit der Haftsache ist es angezeigt, nach § 93c Abs. 2 in
Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG nur den Beschluss des Oberlandesgerichts
aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht
zurückzuverweisen. Es liegt im Interesse des Beschwerdeführers, möglichst rasch
eine das Verfahren abschließende Entscheidung zu erhalten (vgl. BVerfGE 84, 1 <5>;
94, 372 <400>). Das Oberlandesgericht hat unverzüglich unter Berücksichtigung der
angeführten Gesichtspunkte erneut eine Entscheidung über die weitere Beschwerde
gegen den Beschluss des Landgerichts vom 1. August 2011 herbeizuführen.
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Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Da
der nicht zur Entscheidung angenommene Teil der Verfassungsbeschwerde von
untergeordneter Bedeutung ist, sind die Auslagen in vollem Umfang zu erstatten (vgl.
BVerfGE 86, 90 <122>).
Lübbe-Wolff
Huber
Kessal-Wulf