Urteil des BVerfG vom 02.07.2014

freiheit der person, unterbringung, wahrscheinlichkeit, fortdauer

- Bevollmächtigte:
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 64/14 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn W...,
Rechtsanwältin Annika Hirsch,
Ohlsdorfer Straße 1-3, 22299 Hamburg -
gegen
a)
den Beschluss des Oberlandesgerichts München
vom 29. November 2013 - 1 Ws 900/13 -,
b)
den Beschluss des Oberlandesgerichts München
vom 18. September 2013 - 1 Ws 880, 881/13 -,
c)
den Beschluss des Landgerichts Memmingen
vom 8. August 2013 - StVK 113/10 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Gerhardt,
die Richterin Hermanns
und den Richter Müller
am 2. Juli 2014 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Landgerichts Memmingen vom 8. August 2013 - StVK
113/10 - und der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom
18. September 2013 - 1 Ws 880, 881/13 - verletzen den Beschwerdeführer in
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seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 in Verbindung mit Artikel 20
Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 18. September 2013
- 1 Ws 880, 881/13 - wird aufgehoben. Damit ist der Beschluss des
Oberlandesgerichts München vom 29. November 2013 - 1 Ws 900/13 -
gegenstandslos. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das
Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen
Auslagen zu erstatten.
G r ü n d e :
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung
des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus.
I.
1. a) Mit Urteil des Landgerichts Augsburg vom 7. Juli 2009 wurde im Rahmen eines
Sicherungsverfahrens die Unterbringung des Beschwerdeführers in einem
psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet.
Der
Unterbringung
lagen
Beleidigungs-,
Verleumdungs-
und
Körperverletzungshandlungen sowie ein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte
zugrunde. Die Taten standen im Zusammenhang mit einem Konflikt des
Beschwerdeführers mit seiner ehemaligen psychologischen Beraterin, mit der er sich
überworfen hatte. Der Beschwerdeführer hatte Schreiben mit die Betreuerin
beleidigendem Inhalt verschickt, diese selbst beleidigt, ihr am 25. November 2008
einen vereisten Schneeklumpen aus geringer Entfernung ins Gesicht geschleudert,
ein Handy aus der Hand geschlagen und nach ihr zu treten versucht. Zudem hatte er
sich seiner Festnahme widersetzt, die dabei anwesenden Polizeibeamten bespuckt,
als „Nazis“ bezeichnet und nach ihnen getreten und geschlagen, wobei er jedoch
niemanden getroffen hatte.
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b) Der Beschwerdeführer befand sich zunächst in der Zeit vom 17. Februar 2009 bis
zum 15. April 2009 in Untersuchungshaft. Seitdem befand er sich - zunächst aufgrund
einer vorläufigen Unterbringung gemäß § 126a StPO - in der Klinik für Forensische
Psychiatrie und Psychotherapie des Bezirkskrankenhauses G.
Mit Beschluss vom 24. März 2014 setzte das Landgericht Memmingen die weitere
Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus zur
Bewährung aus. Der Beschwerdeführer wurde zwischenzeitlich aus der
Maßregelvollzugseinrichtung entlassen.
2. Mit vorangegangenem Beschluss vom 8. August 2013 hatte das Landgericht
Memmingen - nach Anhörung des Beschwerdeführers - die Fortdauer der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet, da nicht zu
erwarten gewesen sei, dass der Beschwerdeführer außerhalb des Maßregelvollzugs
keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen werde.
Obwohl der Beschwerdeführer sich mittlerweile gut in den Behandlungsrahmen
einfüge, sich in den gewährten Lockerungen zuverlässig und verantwortungsbewusst
gezeigt habe und auch regelmäßig an der Therapie teilnehme, sei der
Behandlungsverlauf noch nicht frei von impulshaften Durchbrüchen als Folge der
fortbestehenden chronisch-wahnhaften Störung (ICD-10: F 22.0). Ebenso sei ein
Fortbestehen der Tendenz abnormer Bedeutungszumessung von Alltagssituationen
zu verzeichnen, wobei der Beschwerdeführer einer medikamentösen Unterstützung
zur Dämpfung seiner Impulsivität weiterhin skeptisch gegenüberstehe. Es sei jedoch
zu erwarten, dass es zu einer (weiteren) Rückläufigkeit impulshafter Momente durch
das Fortdauern des am 1. Juli 2013 begonnenen „Probewohnens“ in einer
geeigneten Einrichtung kommen werde.
Die Fortdauer der Unterbringung sei im Hinblick auf die durch den
Beschwerdeführer begangenen Taten auch noch verhältnismäßig.
3. Die gegen diesen Beschluss gerichtete sofortige Beschwerde hatte das
Oberlandesgericht München mit angegriffenem Beschluss vom 18. September 2013
unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen landgerichtlichen
Beschlusses als unbegründet verworfen, nachdem eine Begründung der sofortigen
Beschwerde bis zu diesem Zeitpunkt nicht erfolgt war.
4. Auf die hiergegen gerichtete Anhörungsrüge des Beschwerdeführers hin stellte
das Oberlandesgericht München mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom
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29. November 2013 fest, dass es bei dem Beschluss des Oberlandesgerichts vom
18. September 2013 sein Bewenden habe.
a) Zwar erweise sich die Anhörungsrüge als begründet, weil der Beschwerdeführer
aufgrund einer verzögert gewährten Akteneinsicht an der rechtzeitigen Begründung
seiner sofortigen Beschwerde gehindert gewesen sei. Die Gehörsrüge führe jedoch in
der Sache - auch unter Berücksichtigung des nunmehr vorliegenden
Beschwerdevorbringens - zu keinem von dem Beschluss vom 18. September 2013
abweichenden Ergebnis.
Das fortbestehende Krankheitsbild des Beschwerdeführers lasse weitere Straftaten
des Beschwerdeführers im Falle seiner Entlassung befürchten. Nach dem
eingeholten externen Sachverständigengutachten bestehe eine sehr hohe
Wahrscheinlichkeit der Begehung erneuter Beleidigungs- und Verleumdungsdelikte
sowie
eine
erhöhte
Wahrscheinlichkeit
der
Begehung
neuer
Körperverletzungsdelikte. Für letztere Annahme spreche auch, dass sowohl der
diesem Verfahren zugrunde liegenden Verurteilung als auch der letzten
Vorverurteilung aus dem Jahr 2008 zu entnehmen sei, dass den anfänglich verbalen
Attacken des Beschwerdeführers jeweils nicht nachvollziehbare Wutausbrüche
gegenüber Außenstehenden gefolgt seien, welche zum Teil mit Körperverletzungen
von erheblichem Gewicht für die Betroffenen verbunden gewesen seien. Die
fortbestehende Erkrankung des Beschwerdeführers und der derzeitige
Behandlungsstand ließen den Schluss zu, dass von dem Beschwerdeführer mit
hoher Wahrscheinlichkeit infolge seines Zustandes die Begehung gleichartiger
erheblicher Delikte zu erwarten sei und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich
sei.
b) Das Oberlandesgericht verkenne nicht, dass dem Freiheitsgrundrecht des
Beschwerdeführers mit zunehmender Dauer des Maßregelvollzugs, die nunmehr
bereits vier Jahre betrage, ein immer stärkeres Gewicht zukomme. Der
Unterbringungszeitraum sei aber in Anbetracht der von dem Beschwerdeführer
begangenen Anlasstaten und seines fortbestehenden unveränderten psychischen
Zustandsbildes nicht als unverhältnismäßig zu bewerten. Insofern sei insbesondere
zu berücksichtigen, dass dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz derzeit dadurch
Rechnung getragen werde, dass der Beschwerdeführer durch die Verlegung in eine
geeignete Einrichtung zum „Probewohnen“ auf ein Leben außerhalb der
Maßregelvollzugseinrichtung vorbereitet werde. Zudem beabsichtige das Landgericht
bei weiterhin positivem Verlauf der Erprobung eine vorzeitige Prüfung der weiteren
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Unterbringung.
II.
Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Beschlüsse in seinem
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.
Es fehle an einer nachvollziehbaren Feststellung der Gefahr solcher rechtswidriger
Taten, die ihrer Art und ihrem Gewicht nach ausreichten, die Anordnung der
Fortdauer der Unterbringung zu tragen. Daneben werde nicht dargelegt, dass die von
dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr das angesichts der Dauer der
Unterbringung zunehmende Gewicht seines Freiheitsanspruchs aufzuwiegen
vermöge. Schließlich fehle auch eine Befassung mit der Frage, ob dem
Sicherungsinteresse der Allgemeinheit nicht durch den Beschwerdeführer weniger
belastende Maßnahmen Rechnung getragen werden könne.
III.
1.
a)
Der
Generalbundesanwalt
beim
Bundesgerichtshof
hält
die
Verfassungsbeschwerde für aussichtsreich. Die angegriffenen Beschlüsse des
Landgerichts Memmingen vom 8. August 2013 und des Oberlandesgerichts München
vom 18. September 2013 genügten den verfassungsrechtlichen Anforderungen
hinsichtlich der Begründung der Fortdauer der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nicht.
aa) Sie führten bereits nicht näher aus, dass von dem Beschwerdeführer zukünftig
erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von § 63 StGB zu erwarten seien. Das
Gewicht der durch den Beschwerdeführer in der Vergangenheit begangenen
Beleidigungen und Verleumdungen, die aufgrund ihrer Strafandrohung nicht ohne
Weiteres dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen seien, reiche ohne das
Hinzutreten - vorliegend nicht erkennbarer - spezifischer Besonderheiten nicht aus,
um eine den Beschwerdeführer erheblich belastende Freiheitsentziehung durch eine
zeitlich potentiell unbegrenzte Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
zu rechtfertigen. Ebenso sei nicht näher dargelegt, in welchem Umfang die Gefahr
künftiger Körperverletzungen von erheblichem Gewicht bestehe. Die durch das
Oberlandesgericht insofern geschilderten Handlungen des Beschwerdeführers
könnten nicht ohne Weiteres als erhebliche Taten im Sinne des § 63 StGB gewertet
werden.
Zudem fehle es an einer fundierten Darstellung der Wahrscheinlichkeit des Eintritts
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künftiger Körperverletzungshandlungen. Das Oberlandesgericht gehe zwar von einer
hohen Wahrscheinlichkeit für die Begehung entsprechender Straftaten aus, lasse
aber unerörtert, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit der früheren
Therapeutin des Beschwerdeführers um einen persönlichen Konflikt gehandelt habe,
der nicht ohne Weiteres den Schluss zulasse, der Beschwerdeführer werde
Körperverletzungen entsprechender Intensität auch gegenüber Dritten begehen.
bb) Schließlich fehle es an einer hinreichenden Darlegung der weiteren
Verhältnismäßigkeit der Freiheitsentziehung. Zum einen sei aufgrund der knappen
Ausführungen zu besorgen, dass die Fachgerichte der bisherigen Dauer der
Unterbringung - mit dem daraus für die Abwägung folgenden stärkeren Gewicht des
Freiheitsgrundrechts - nur unzureichend Rechnung getragen hätten. Zum anderen
habe es einer Prüfung und Darlegung bedurft, ob sich der nötige Schutz der
Allgemeinheit nicht schonender im Wege der Führungsaufsicht erreichen lasse.
b) Der Freistaat Bayern hat von einer Stellungnahme abgesehen.
2. Dem Bundesverfassungsgericht haben die Akten 406 Js 144493/08 der
Staatsanwaltschaft Augsburg vorgelegen.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr
statt. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c
Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das
Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere die sich aus dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden Anforderungen an die Anordnung der
Fortdauer
langandauernder
Unterbringungen
in
einem
psychiatrischen
Krankenhaus - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 70,
297) und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch zur Durchsetzung des
Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die zulässige
Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
I.
Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass die weitere
Vollstreckung der Maßregel zwischenzeitlich mit Beschluss des Landgerichts
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Memmingen vom 24. März 2014 zur Bewährung ausgesetzt und der
Beschwerdeführer aus dem Maßregelvollzug entlassen worden ist. Denn die
angegriffenen Entscheidungen waren Grundlage eines tiefgreifenden Eingriffs in das
Grundrecht des Beschwerdeführers auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2
GG (vgl. BVerfGE 128, 326 <389>). Der Beschwerdeführer hat daher ein
fortbestehendes
schutzwürdiges
Interesse
an
einer
nachträglichen
verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen
Feststellung der Verfassungswidrigkeit dieses Grundrechtseingriffs durch das
Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 9, 89 <92 ff.>; 32, 87 <92>; 53, 152 <157 f.>;
91, 125 <133>; 104, 220 <234 f.>).
II.
Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts Memmingen vom 8. August 2013
und des Oberlandesgerichts München vom 18. September 2013 verletzen den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG, weil sie den Anforderungen, die sich aus dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für die Anordnung der Fortdauer der Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus ergeben, nicht genügen.
1. a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistet jedermann „die Freiheit der Person“ und
nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum
Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG die Freiheit der Person als „unverletzlich“
bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines
förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere
Verfahrensgarantien für ihre Beschränkung statuiert (vgl. BVerfGE 35, 185 <190>;
109, 133 <157>; 128, 326 <372>).
Die Freiheit der Person darf nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter
strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden. Zu diesen wichtigen
Gründen gehören in erster Linie solche des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts.
Eingriffe in die persönliche Freiheit auf diesem Gebiet dienen vor allem dem Schutz
der Allgemeinheit (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>; 45, 187 <223>; 58, 208 <224 f.>);
zugleich haben die gesetzlichen Eingriffstatbestände freiheitsgewährleistende
Funktion, da sie die Grenzen zulässiger Einschränkung der Freiheit der Person
bestimmen. Das gilt auch für die Regelung der Unterbringung eines schuldunfähigen
oder erheblich vermindert schuldfähigen Straftäters, von dem infolge seines
Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, in einem psychiatrischen
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Krankenhaus gemäß § 63 StGB (vgl. BVerfGE 70, 297 <307>).
b) Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 GG hat auch
verfahrensrechtliche
Bedeutung.
Unverzichtbare
Voraussetzung
eines
rechtsstaatlichen Verfahrens ist, dass Entscheidungen, die den Entzug der
persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung
beruhen (vgl. BVerfGE 58, 208 <222>) und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende
Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE
58, 208 <230>).
c) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht Anordnung und Fortdauer der
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das Spannungsverhältnis
zwischen dem Freiheitsanspruch des betroffenen Einzelnen und dem
Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit vor zu erwartenden erheblichen
Rechtsgutverletzungen verlangt nach gerechtem und vertretbarem Ausgleich. Dieser
lässt sich für die Entscheidung über die Aussetzung der Maßregelvollstreckung nur
dadurch bewirken, dass Sicherungsbelange und der Freiheitsanspruch des
Untergebrachten als wechselseitiges Korrektiv gesehen und im Einzelfall
gegeneinander abgewogen werden (vgl. BVerfGE 70, 297 <311>). Der Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit ist in die Prüfung der Aussetzungsreife der Maßregel nach § 67d
Abs. 2 StGB einzubeziehen (integrative Betrachtung). Die darauf aufbauende
Gesamtwürdigung hat die von dem Täter ausgehenden Gefahren zur Schwere des
mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (vgl. BVerfGE 70,
297 <312 f.>).
Abzustellen ist auf die Gefahr solcher rechtswidriger Taten, die ihrer Art und ihrem
Gewicht nach ausreichen, auch die Anordnung der Maßregel zu tragen; diese
müssen mithin „erheblich“ im Sinne des § 63 StGB sein.
Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche Art rechtswidriger
Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist
(Häufigkeit und Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern
zukommt. Dabei ist die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr hinreichend zu
konkretisieren; die Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger
Taten sind zu bestimmen; deren bloße Möglichkeit vermag die weitere
Maßregelvollstreckung nicht zu rechtfertigen. Bei allem ist auf die Besonderheiten
des jeweiligen Einzelfalles einzugehen. Zu erwägen sind das frühere Verhalten des
Untergebrachten und von ihm bislang begangene Taten. Abzuheben ist aber auch
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auf die seit der Anordnung der Maßregel veränderten Umstände, die für die künftige
Entwicklung bestimmend sind (vgl. BVerfGE 70, 297 <314 f.>; BVerfGK 16, 501
<506>).
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet es zudem, die Unterbringung in
einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB nur solange zu vollstrecken, wie
der Zweck der Maßregel dies unabweisbar erfordert und zu seiner Erreichung den
Untergebrachten weniger belastende Maßnahmen nicht genügen. Bei der Prüfung
der Verhältnismäßigkeit kann es daher auf die voraussichtlichen Wirkungen der im
Falle der Aussetzung der Maßregelvollstreckung zur Bewährung kraft Gesetzes
eintretenden Führungsaufsicht (§ 67d Abs. 2 Satz 2 StGB) und der damit
verbindbaren weiteren Maßnahmen der Aufsicht und Hilfe (vgl. §§ 68a, 68b StGB),
insbesondere also die Tätigkeit eines Bewährungshelfers und die Möglichkeit
bestimmter Weisungen, ankommen (vgl. BVerfGE 70, 297 <313 f.>).
d) Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63
StGB andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit
des Freiheitsentzuges. Das zunehmende Gewicht des Freiheitsanspruchs bei der
Verhältnismäßigkeitsprüfung wirkt sich bei langdauernden Unterbringungen in einem
psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) auch auf die an die Begründung einer
Entscheidung nach § 67d Abs. 2 StGB zu stellenden Anforderungen aus. In diesen
Fällen engt sich der Bewertungsrahmen des Strafvollstreckungsrichters ein; mit dem
immer stärker werdenden Freiheitseingriff wächst die verfassungsgerichtliche
Kontrolldichte. Dem lässt sich dadurch Rechnung tragen, dass der Richter seine
Würdigung eingehender abfasst, sich also nicht etwa mit knappen, allgemeinen
Wendungen begnügt, sondern seine Bewertung anhand der dargestellten
einfachrechtlichen Kriterien substantiiert offenlegt. Erst dadurch wird es möglich, im
Rahmen verfassungsgerichtlicher Kontrolle nachzuvollziehen, ob die von dem Täter
ausgehende Gefahr seinen Freiheitsanspruch gleichsam aufzuwiegen vermag. Zu
verlangen ist mithin vor allem die Konkretisierung der Wahrscheinlichkeit weiterer
rechtswidriger Taten, die von dem Untergebrachten drohen, und deren Deliktstypus
(vgl. BVerfGE 70, 297 <315 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
Senats vom 4. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 -, NStZ-RR 2013, S. 72).
Genügen die Gründe einer Entscheidung über die Fortdauer einer bereits
außergewöhnlich lange währenden Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus diesen Maßstäben nicht, so führt dies dazu, dass die Freiheit der
Person des Untergebrachten auf solcher Grundlage nicht rechtmäßig eingeschränkt
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werden kann; sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist verletzt, weil es an einer
verfassungsrechtlich tragfähigen Grundlage für die Unterbringung fehlt (vgl. BVerfGE
70, 297 <316 f.>).
2. Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben sind die Beschlüsse des
Landgerichts Memmingen vom 8. August 2013 und des Oberlandesgerichts München
vom 18. September 2013 nicht zu vereinbaren. Die Beschlüsse genügen den
verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begründung der Anordnung einer
Fortdauer der Unterbringung des Beschwerdeführers nicht. Es fehlt bereits an der
ausreichenden Konkretisierung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit der
vom Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr künftiger rechtswidriger Taten (a).
Daneben wird in den angegriffenen Beschlüssen nicht ausreichend dargelegt, dass
die von dem Beschwerdeführer ausgehende Gefahr das angesichts der Dauer der
Unterbringung zunehmende Gewicht seines Freiheitsanspruchs aufzuwiegen vermag
(b). Schließlich fehlt auch eine Befassung mit der Frage, ob dem Sicherungsinteresse
der Allgemeinheit nicht auch durch den Beschwerdeführer weniger belastende
Maßnahmen Rechnung hätte getragen werden können (c).
a) Die Art und der Grad der Wahrscheinlichkeit der vom Beschwerdeführer
ausgehenden Gefahr der Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten kann
den angegriffenen Beschlüssen nicht in dem verfassungsrechtlich gebotenen Umfang
entnommen werden.
aa) Das Landgericht Memmingen macht im Rahmen des angegriffenen Beschlusses
vom 8. August 2013 keinerlei Angaben dazu, welche konkreten rechtswidrigen Taten
zukünftig von dem Beschwerdeführer zu erwarten sind. Dementsprechend fehlt es
auch vollständig an Ausführungen zu der Schwere zu erwartender Taten im Hinblick
auf das Tatbestandsmerkmal der „Erheblichkeit“ im Sinne von § 63 StGB und zu dem
Grad der Wahrscheinlichkeit, mit dem solche Taten zu erwarten sind.
bb) Das Oberlandesgericht München nimmt im angegriffenen Beschluss vom
29. November 2013 Bezug auf das Gutachten des beauftragten Sachverständigen,
der eine „große Wahrscheinlichkeit“ weiterer Straftaten und eine „erhöhte
Wahrscheinlichkeit“ neuer Körperverletzungshandlungen festgestellt hatte. Daraus
folgert das Oberlandesgericht eine „hohe Wahrscheinlichkeit der Begehung
gleichartiger erheblicher Delikte“.
Dem Erfordernis, Art und Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger erheblicher
rechtswidriger Taten im Sinne des § 63 StGB unter Berücksichtigung der
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Besonderheiten des vorliegenden Falles eigenständig zu bestimmen und
nachvollziehbar darzulegen, ist damit jedoch nicht Rechnung getragen.
(1) Dem Beschluss des Oberlandesgerichts lässt sich bereits nicht entnehmen, ob
es die Fortdauer der Unterbringung lediglich aufgrund künftig zu erwartender
Körperverletzungsdelikte oder auch aufgrund künftig möglicher Beleidigungs- und
Verleumdungstaten als gerechtfertigt ansieht. Straftaten von erheblicher Bedeutung
im Sinne des § 63 StGB liegen aber nur vor, wenn diese mindestens der mittleren
Kriminalität zuzurechnen sind, den Rechtsfrieden empfindlich stören und geeignet
sind, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen.
Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht sind,
können daher nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten mit erheblicher
Bedeutung zugerechnet werden (vgl. BVerfGE 70, 297 <312>; BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12 -, juris, Rn. 21).
Daher hätte das Oberlandesgericht, falls es die Fortdauer der Unterbringung auf die
Gefahr weiterer Beleidigungs- oder Verleumdungsdelikte stützen wollte, darlegen
müssen, aufgrund welcher besonderen Umstände diese vorliegend als Straftaten von
erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 StGB angesehen werden können. Daran
fehlt es. Daher haben diese Delikte als Grundlage der Fortdauer der Unterbringung
des Beschwerdeführers in einem psychiatrischen Krankenhaus außer Betracht zu
bleiben.
(2) Soweit das Oberlandesgericht von einer hohen Wahrscheinlichkeit künftiger
Körperverletzungsdelikte ausgegangen sein sollte, setzt es sich mit den besonderen
Umständen des vorliegenden Falles unzureichend auseinander.
(a) Insoweit ist zunächst zu beachten, dass die behandelnde Klinik bereits im
Rahmen ihrer Stellungnahme vom 23. November 2010 ausgeführt hat, dass zwar die
Wahrscheinlichkeit für einschlägige Straftaten im Sinne des Verfassens von
Schreiben und Briefen beleidigenden Inhalts bei gegebener Frustration des
Beschwerdeführers weiterhin als hoch einzuschätzen sei. Die Häufigkeit von
Körperverletzungshandlungen sei jedoch aus gutachterlicher Sicht weiter als eher
gering einzuschätzen. Auch im Folgejahr hielt sie an dieser Einschätzung fest. In der
Stellungnahme im vorliegenden Verfahren vom 22. Mai 2013 beschränkt sie sich auf
den Hinweis, dass querulatorische Verhaltensweisen des Beschwerdeführers auch in
Zukunft nicht ausgeschlossen werden könnten.
Soweit das Oberlandesgericht daher in Abweichung von diesen seit mehreren
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Jahren eindeutigen Stellungnahmen der behandelnden Klinik zu der Annahme
gelangt, dass weiterhin eine „erhöhte Wahrscheinlichkeit“ für die Begehung erneuter
Körperverletzungshandlungen besteht, wäre diese Annahme, die sich alleine auf das
externe Sachverständigengutachten stützt, jedenfalls begründungsbedürftig
gewesen.
(b) Dabei hätte das Oberlandesgericht berücksichtigen müssen, dass das in Bezug
genommene Sachverständigengutachten bereits am 11. April 2012 erstattet wurde.
Der Beschwerdeführer, der bereits zuvor durch die behandelnde Klinik als
zuverlässig und absprachefähig eingestuft worden ist, war zwischenzeitlich am 1. Juli
2013 in eine externe Einrichtung zur weiteren Entlassungsvorbereitung verlegt
worden und hatte sich dort positiv bewährt. Inwieweit diese Entwicklung nicht der
zuvor angestellten, ohnehin im Widerspruch zu den Ausführungen der behandelnden
Klinik stehenden Gefahrenprognose des Sachverständigen entgegenstand, führt das
Oberlandesgericht in keiner Weise aus.
(c) Schließlich ist nicht erkennbar, dass das Oberlandesgericht sich mit der Frage
auseinandergesetzt hat, welche Bedeutung hinsichtlich der Erheblichkeit und der
Wahrscheinlichkeit künftiger Körperverletzungshandlungen insbesondere dem
Umstand zukommt, dass sämtliche Aggressionshandlungen des Beschwerdeführers
in der Vergangenheit auf den Konflikt mit seiner früheren psychologischen Beraterin
zurückzuführen sind.
b) Da die Bestimmung der Art und des Grades der Wahrscheinlichkeit künftiger
erheblicher rechtswidriger Taten den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht
genügt, fehlt es bereits an einer ausreichenden Grundlage für die gebotene
Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers und den
Sicherungsinteressen der Allgemeinheit. Auch im Übrigen genügen die angegriffenen
Beschlüsse den verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine nachvollziehbare
Begründung der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Unterbringung in einem
psychiatrischen Krankenhaus nicht.
Die Gerichte stellen lediglich fest, dass die weitere Unterbringung - trotz ihrer
bisherigen Dauer von bereits mehr als vier Jahren - im Hinblick auf die begangenen
und noch zu erwartenden Taten nicht unverhältnismäßig sei, zumal sich der
Beschwerdeführer nunmehr zur Entlassungsvorbereitung in einer geeigneten
Einrichtung zum „Probewohnen“ befinde und eine vorzeitige erneute Überprüfung der
Fortdauer der Unterbringung angedacht sei. Sie setzen sich dabei in keiner Weise mit
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der individuellen Entwicklung des Beschwerdeführers, etwa dessen bereits
längerfristiger Bewährung in Lockerungen und dem stabilen Behandlungsverlauf,
auseinander. Auch fehlt es vollständig an einer Gegenüberstellung der bereits durch
den Beschwerdeführer im Maßregelvollzug verbrachten Zeiten mit den
unterschiedlichen Strafrahmen der der Anlassverurteilung zugrunde liegenden oder
zukünftig zu erwartenden Delikte. Dass vorliegend die von dem Beschwerdeführer
ausgehende Gefahr das aufgrund der Dauer der Unterbringung zunehmende Gewicht
seines Freiheitsanspruchs aufzuwiegen vermag, kann den angegriffenen
Beschlüssen daher nicht entnommen werden.
c) Schließlich verhalten sich die angegriffenen Beschlüsse auch nicht zu der Frage,
ob im Falle einer Aussetzung des Maßregelvollzugs zur Bewährung den
Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit durch Maßnahmen der kraft Gesetzes
eintretenden Führungsaufsicht und der damit verbindbaren weiteren Maßnahmen der
Aufsicht und Hilfe (§§ 68a, 68b StGB) hinreichend hätte Rechnung getragen werden
können. Dies wäre jedoch insbesondere im Hinblick darauf erforderlich gewesen,
dass sich die Aggressionen des Beschwerdeführers, der sich nunmehr zuverlässig in
den Behandlungsrahmen einfügt, ersichtlich nur auf einzelne Personen bezogen
haben und sich dieser zudem bereits seit längerer Zeit in Lockerungen befindet, die
er ohne Beanstandungen durchlaufen hat.
III.
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 18. September 2013 ist
daher aufzuheben. Die Sache ist an das Oberlandesgericht München
zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a
Abs. 2 BVerfGG.
Gerhardt
Hermanns
Müller