Urteil des BVerfG vom 20.02.2017

Erfolglose Verfassungsbeschwerde betreffend die unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union

Bundesverfassungsgericht
Sie sind hier:
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 63/15 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des minderjährigen Y ... ,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser,
Kanzlei am Ulmer Münster,
Münsterplatz 13, 89073 Ulm -
gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. November 2014 - BVerwG 1 C 4.14 -
und
Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe
und Beiordnung von Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser, Ulm
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
die Richterin Kessal-Wulf
und den Richter Maidowski
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 20. Februar 2017 einstimmig beschlossen:
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Thomas Oberhäuser, Ulm, wird
abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
G r ü n d e :
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, in der dieses ohne eine
Vorlage an den Europäischen Gerichtshof davon ausgegangen ist, dass das Ziel einer effektiven Zuwanderungskontrolle als
zwingender Grund des Allgemeininteresses eine Beschränkung der Stillhalteklausel des Art. 13 des
Assoziationsratsbeschlusses 1/80 rechtfertigen könne. Der Beschwerdeführer rügt, das Bundesverwaltungsgericht habe ihn
seinem gesetzlichen Richter entzogen, da es das Unionsrecht fortentwickelt habe, wozu ausschließlich der Europäische
Gerichtshof befugt gewesen sei. Im Übrigen sei die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auch in der Sache verfehlt.
II.
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Die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten
Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>). Sie ist jedenfalls
unbegründet.
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Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinem grundrechtsgleichen Recht
auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, da die Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV weder wegen des
Fehlens einer expliziten Begründung für die Nichtvorlage (1.) noch der Sache nach (2.) unhaltbar gehandhabt worden ist.
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1. Eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nicht schon darin, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht explizit
begründet hat, warum es von einer Vorlage abgesehen hat. Zwar kann eine fehlende Begründung nach der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts auf einen Entzug des gesetzlichen Richters hindeuten (vgl. BVerfG, Beschluss der
2. Kammer des Ersten Senats vom 3. März 2014 - 1 BvR 2083/11 -, juris, Rn. 30; vgl. aber BVerfGE 135, 155 <234>, wonach
allein eine fehlende Begründung bei materieller Vertretbarkeit nicht ausreicht). Dies entspricht auch der bei der Auslegung
des Grundgesetzes zu berücksichtigenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl.
BVerfGE 111, 307), der prüft, ob die unterlassene Vorlage an den Europäischen Gerichtshof durch nationale
Höchstgerichte einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK darstellt (EGMR, Entscheidung vom 10. April 2012 - 4832/04 - Vergauwen
u.a. - und EGMR, Entscheidung vom 8. April 2014 - 17120/09 - Dhahbi). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat hierbei insbesondere das Erfordernis einer Begründung der Nichtvorlage anhand der vom Europäischen Gerichtshof
anerkannten Fallgruppen, in denen eine Vorlage entbehrlich ist, angenommen. Einen Verstoß gegen Art. 6 EMRK hat er in
einem Fall festgestellt, in dem sich das nationale Gericht mit dem ausdrücklichen Vorlagebegehren des Klägers nicht
auseinandergesetzt und sich darüber hinaus in dem Urteil mit keinem Wort mit der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs befasst hatte (EGMR, Entscheidung vom 8. April 2014 - 17120/09 - Dhahbi, Rn. 33).
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Vorliegend ergibt sich aus diesen Maßstäben keine Verletzung des gesetzlichen Richters. Das Bundesverwaltungsgericht hat
sich ausführlich mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auseinandergesetzt und diese ausgewertet.
Jedenfalls solange der Verfahrensbeteiligte keine konkrete Vorlagefrage formuliert hat und sich das Fachgericht mit dem
Unionsrecht auseinandersetzt, stellt allein die Unterlassung einer ausdrücklichen Begründung der Nichtvorlage für sich
genommen keinen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter dar. Dass sich eine derartige Begründung im vorliegenden Fall
zur Klarstellung des vom Revisionsgericht eingenommenen Rechtsstandpunkts angeboten hätte, ändert daran nichts.
6
2. Es liegt auch keine unhaltbare Handhabung der Vorlagepflicht vor.
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a) Das Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von Normen, die die gerichtliche
Zuständigkeitsverteilung regeln, nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken
nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind. Dies gilt auch für die unionsrechtliche
Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht
zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung
behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und
Beurteilung, der demjenigen bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung
entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums; ein „oberstes
Vorlagenkontrollgericht“ ist es nicht (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerfGE 135, 155 <230 ff., Rn. 176 ff.> m.w.N.).
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Die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wird offensichtlich unhaltbar gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches
Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der
unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen
Beantwortung der Frage hegt und das Unionsrecht somit eigenständig fortbildet (grundsätzliche Verkennung der
Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung
bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder
nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt schließlich zu einer
entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat
eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet
oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit
(Unvollständigkeit der Rechtsprechung), wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche
Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise
überschreitet. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn die Fachgerichte das Vorliegen eines „acte clair“ oder eines „acte
éclairé“ willkürlich bejahen (zu den drei Fallgruppen vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>;
129, 78 <106 f.>).
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b) Vorliegend sind die Voraussetzungen keiner der drei Fallgruppen erfüllt. Das Bundesverwaltungsgericht hat die
Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt. Vielmehr ist es nach Auswertung der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs davon ausgegangen, dass dieser nunmehr auch zwingende Gründe des Allgemeininteresses als
Rechtfertigungsgründe bei Abweichungen von der Stand-Still-Klausel anerkennt, und es hat das Vorliegen solcher
zwingender Gründe festgestellt. Es hat die Rechtslage damit als geklärt angesehen und gerade keine eigenständige
Fortentwicklung des Unionsrechts bei zweifelhafter Rechtslage angenommen. Auch ein bewusstes Abweichen ohne
Vorlagebereitschaft liegt nicht vor.
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Die Voraussetzungen der dritten Fallgruppe sind ebenfalls nicht erfüllt, denn das Bundesverwaltungsgericht hat den ihm
bei der Frage, ob die Rechtsprechung unvollständig ist beziehungsweise ein „acte clair“ oder „acte eclairé“ vorliegt,
zustehenden Beurteilungsspielraum nicht unvertretbar ausgefüllt. Zwar sprach Einiges dafür, den Europäischen Gerichtshof
zur Präzisierung des Begriffs der „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ anzurufen (vgl. Vorlagebeschluss des VG
Darmstadt vom 1. Dezember 2015 - 5 K 1261/15.DA -, juris, Rn. 64 ff. und Beschluss des VGH Baden-Württemberg vom
16. September 2015 - 11 S 1711/15 -, juris, Rn. 8). Denn diesen Rechtfertigungsgrund hatte der Europäische Gerichtshof im
Assoziationsrecht erst in seiner jüngeren Rechtsprechung entwickelt und insbesondere die Verhinderung rechtswidriger
Einreise und rechtswidrigen Aufenthalts sowie die Bekämpfung von Zwangsheiraten und die Förderung der Integra-tion
erörtert (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013 - C-225/12 - Demir, und EuGH, Urteil vom 10. Juli 2014 - C-138/13 -
Dogan). Diese Rechtfertigungsgründe waren präziser konturiert als die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelte
Fallgruppe der wirksamen Steuerung der Migration, die zur Rechtfertigung von Zu-zugsbeschränkungen türkischer
Staatsangehöriger vielfach angeführt werden könnte.
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Die Handhabung der Vorlagepflicht durch das Bundesverwaltungsgericht hat jedoch den fachgerichtlichen
Wertungsrahmen im Ergebnis gleichwohl noch nicht überschritten. Denn es ist davon ausgegangen, dass die zwingenden
Gründe des Allgemeininteresses parallel zum Recht der Grundfreiheiten zu bestimmen sind, in denen eine derartige
ungeschriebene Einschränkungsmöglichkeit seit langem anerkannt ist und grundsätzlich weit ausgelegt wird (vgl. schon
EuGH, Urteil vom 20. Februar 1979 - C-120/78 - Cassis de Dijon, Rn. 8). Dieses Verständnis der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs wird auch in der Literatur vertreten (vgl. Thym, ZAR 2014, S. 301 <303>). Dass das
Bundesverwaltungsgericht den Verweis des Beschwerdeführers auf Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG
(Freizügigkeitsrichtlinie) nicht zum Anlass für eine Vorlage genommen hat, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Denn die Vorschrift stellt durch einen besonders intensiven Ausweisungsschutz nur eine besonders schützenswerte Gruppe
von Unionsbürgern besser und wirkt zudem nur gegenüber dem schwerstmöglichen aufenthaltsrechtlichen Eingriff, der
Ausweisung. Dies ist auf die Wiedereinführung einer formalen Voraussetzung für den legalen Aufenthalt türkischer
Staatsangehöriger nicht übertragbar.
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Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Voßkuhle
Kessal-Wulf
Maidowski