Urteil des BVerfG vom 28.02.2013

klinik, verfassungsbeschwerde, rechtsschutzinteresse, wiederholungsgefahr

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 612/12 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn G...
gegen a) den Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 15. Februar
2012 - Vollz (Ws) 22/11 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 7. Dezember 2011 -
II StVK 1086/11 -,
c) den Beschluss des Landgerichts Saarbrücken vom 27. September 2011
- II StVK 1086/11, II StVK 1074/11 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Lübbe-Wolff,
den Richter Landau
und die Richterin Kessal-Wulf
am 28. Februar 2013 einstimmig beschlossen:
Die Beschlüsse des Landgerichts Saarbrücken vom 7. Dezember 2011 - II StVK
1086/11 - und des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 15. Februar 2012 -
Vollz (Ws) 22/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel
19 Absatz 4 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das
Landgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Saarland hat dem Beschwerdeführer zwei Drittel seiner notwendigen Auslagen
für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
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Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung einer Ausführung eines
Strafgefangenen zum Sterbebett seines Vaters.
1. Der strafgefangene Beschwerdeführer beantragte am 12. September 2011 bei der
Justizvollzugsanstalt Saarbrücken, in der er damals inhaftiert war, ihn zu seinem auf
der Intensivstation liegenden Vater auszuführen. Er erläuterte den Sachverhalt und
legte dazu ein Schreiben vom 7. September 2011 vor, mit dem seine Mutter erklärte,
ihr Ehemann befinde sich nach einigen Herzoperationen in einem Zustand, der
seinen nahen Tod befürchten lasse. Seit zwei Wochen liege er auf der Intensivstation
der Caritasklinik Saarbrücken und sei dort in ein künstliches Koma versetzt worden.
Der Unterschrift der Mutter folgte der Satz „Die Richtigkeit der Angaben bezüglich des
Zustandes von Herrn G. kann von hier bestätigt werden“ (im Original mit nicht
abgekürztem Namen des Vaters). Darunter befand sich ein Stempelaufdruck der
Intensivstation der Caritasklinik St. Theresia, Saarbrücken, versehen mit einer mit
einem großen „K“ beginnenden, im Übrigen nicht leserlichen Unterschrift, sowie eine
handschriftliche Datumsangabe „8.09.11“.
Die Justizvollzugsanstalt lehnte den Antrag am 12. September 2011 mangels
Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses mit hinreichender Aussagekraft ab.
2. a) Hiergegen stellte der Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt L., am
21. September 2011 Antrag auf gerichtliche Entscheidung (§ 109 StVollzG) und
beantragte zugleich, die Justizvollzugsanstalt im Wege der einstweiligen Anordnung
(§ 114 StVollzG) zu verpflichten, ihm unverzüglich Ausgang, Ausführung oder Urlaub
zum Besuch seines Vaters in der Klinik zu gewähren. Obwohl er der
Justizvollzugsanstalt die Bescheinigung des behandelnden Arztes mit Stempel und
Unterschrift im Original vorgelegt habe, sei sein Antrag mit der Begründung abgelehnt
worden, die Bescheinigung reiche nicht aus. Es habe weder eine Überprüfung durch
einen Telefonanruf stattgefunden, noch sei die ärztliche Bescheinigung in anderer
Weise verifiziert worden.
Die Justizvollzugsanstalt nahm dahingehend Stellung, dass Außenlockerungen des
Beschwerdeführers Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit entgegenstünden.
Zudem handele es sich bei der vom Beschwerdeführer vorgelegten Bescheinigung
um ein von seinem Rechtsanwalt vorformuliertes Schreiben der Mutter, und die
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dortigen Angaben seien lediglich durch einen Stempel der Klinik als richtig bestätigt
worden, wobei sich die auf dem Stempel befindliche Unterschrift nicht habe entziffern
lassen. Auf die Bedenken gegen die Authentizität der ärztlichen Erklärung sei der
Beschwerdeführer sofort hingewiesen und aufgefordert worden, eine neue, von der
Klinik stammende Bescheinigung vorzulegen. Auch sei dem Beschwerdeführer
versichert
worden, dass nach Vorlage der entsprechenden Bescheinigung
unverzüglich erneut über seinen Antrag entschieden werde. Zudem habe sich der
Rechtsanwalt des Beschwerdeführers, Herr L., im Rahmen eines am 13. September
2011 geführten Telefonats der Justizvollzugsanstalt gegenüber „einsichtig“ gezeigt
und angekündigt, dieser umgehend eine von der Klinik ausgestellte Bescheinigung
per Fax zu übermitteln. Dies sei jedoch bis zum Tod des Vaters des
Beschwerdeführers nicht erfolgt.
b) Am 21. September 2011 verstarb der Vater des Beschwerdeführers. Der
Beschwerdeführer erfuhr dies zwei Tage später.
c) Nachdem das Landgericht mit angegriffenem Beschluss vom 27. September 2011
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen hatte, änderte
der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 29. September 2011 seinen Antrag auf
gerichtliche Entscheidung in einen auf Feststellung, dass die Versagung der
Ausführung rechtswidrig gewesen sei, gerichteten Fortsetzungsfeststellungsantrag
(§ 115 Abs. 3 StVollzG) ab. Für den Beschwerdeführer auf die Stellungnahme der
Justizvollzugsanstalt erwidernd, erklärte der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers,
es treffe nicht zu, dass er am 13. September 2011 in der Justizvollzugsanstalt
angerufen, sich „einsichtig“ gezeigt und die behaupteten Angaben gemacht habe. Er
habe in der Angelegenheit zu keinem Zeitpunkt mit der Justizvollzugsanstalt
telefoniert und das Mandat erst am 14. September 2011 übernommen.
d) Mit angegriffenem Beschluss vom 7. Dezember 2011 verwarf das Landgericht den
Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unzulässig. Die Voraussetzungen für ein
n a c h Erledigung fortbestehendes Feststellungsinteresse lägen nicht vor. Eine
konkrete Wiederholungsgefahr sei ebensowenig ersichtlich wie die Möglichkeit
nachteiliger Auswirkungen auf künftige Entscheidungen oder diskriminierende
Wirkungen.
3. a) Der Beschwerdeführer erhob Rechtsbeschwerde. Die Versagung der
Ausführung sei rechtswidrig gewesen und habe ihn in seinen Rechten verletzt. Ein
Feststellungsinteresse könne ihm entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht
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abgesprochen werden.
b)
Das
Oberlandesgericht
verwarf
mit angegriffenem Beschluss die
Rechtsbeschwerde als unzulässig.
Zur Fortbildung des Rechts sei die Nachprüfung nicht geboten, da die
Voraussetzungen für die Gewährung von Ausgang oder Ausführung aus wichtigem
Anlass ebenso wie die Anforderungen an das nach § 115 Abs. 3 Halbsatz 2 StVollzG
erforderliche Feststellungsinteresse geklärt seien. Ein Feststellungsinteresse sei zu
bejahen
bei
Maßnahmen diskriminierenden Charakters und gegebenem
Rehabilitierungsinteresse, bei konkret sich abzeichnender Wiederholungsgefahr und
wenn die Feststellung für ein anderes Rechtsverhältnis präjudiziell sei und der
Vorbereitung anderer Prozesse, namentlich der Geltendmachung von Amtshaftungs-
und Schadensersatzansprüchen, dienen solle und der beabsichtigte Prozess nicht
von vornherein aussichtslos sei. Schließlich komme nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts
ein
trotz
Erledigung fortbestehendes
Rechtsschutzinteresse in Fällen tiefgreifender Grundrechtseingriffe in Betracht.
Die Rechtsbeschwerde sei auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung zuzulassen. Dieser Gesichtspunkt komme im Streitfall schon
deshalb nicht zum Tragen, weil die Entscheidung der Justizvollzugsanstalt im
maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt, dem 12. September 2011, nicht rechtswidrig
gewesen sei. Der Leiterin der Justizvollzugsanstalt sei durchaus bewusst gewesen,
dass dem Beschwerdeführer im Fall einer lebensgefährlichen Erkrankung seines
Vaters Ausgang oder eine Ausführung zu gewähren gewesen sei. Die
Justizvollzugsanstalt
habe
den
Antrag
ohne Rechtsverstoß
aufgrund
nachvollziehbarer Zweifel an der Authentizität der vom Beschwerdeführer
vorgelegten Bestätigungserklärung der Klinik abgelehnt. In tatsächlicher Hinsicht sei
bei ärztlichen Zeugnissen, die Gefangene zwecks Gewährung von Ausgang oder
einer Ausführung vorlegten, wegen der mit solchen Maßnahmen verbundenen
gesteigerten Fluchtmöglichkeiten ein strenger Maßstab anzulegen. Die Möglichkeit
des Missbrauchs und der Fälschung sei gerade bei Gefangenen, die langjährige
Haftstrafen zu verbüßen hätten, im Blick zu behalten. Die Justizvollzugsanstalt habe
vor
dem Landgericht darauf hingewiesen, dass die Gewährung von
Außenlockerungen aus Sicherheitsgründen derzeit nicht verantwortbar und die
Authentizität des vom Beschwerdeführer vorgelegten Schreibens zweifelhaft sei.
Weiter mache die Justizvollzugsanstalt darauf aufmerksam, dass eine ärztliche
Bescheinigung der hier in Rede stehenden Art sehr ungewöhnlich sei. In der Tat sei
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es nicht die Regel, dass Ärzte oder Mitarbeiter einer Klinik eine nicht von der
Behandlungsseite
selbst
stammende
laienhafte
Beschreibung
des
Gesundheitszustandes eines Patienten mit einem Richtigkeitsvermerk bestätigten.
Ausweislich der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt sei der Beschwerdeführer
auf die bestehenden Bedenken unter Versicherung, dass nach Vorlage einer
hinreichenden Bescheinigung unverzüglich erneut über seinen Antrag entschieden
werde, hingewiesen worden. Weiter sei davon auszugehen, dass sich der frühere
anwaltliche
Bevollmächtigte des Beschwerdeführers, bei dem es sich um
Rechtsanwalt
C. gehandelt habe, schon am Tag nach der ablehnenden
Entscheidung mit der Justizvollzugsanstalt in Verbindung gesetzt habe. Hätte er
entsprechend seiner bei diesem Gespräch erfolgten Ankündigung eine von der Klinik
ausgestellte Bescheinigung per Fax vorgelegt, hätte der Beschwerdeführer mit hoher
Wahrscheinlichkeit seinen Vater noch besuchen können. Der Vorwurf, die
Justizvollzugsanstalt habe es unverständlicherweise unterlassen, ihre Zweifel durch
ein unverzügliches Telefonat mit der Klinik zu klären, erscheine ex ante betrachtet
nicht gerechtfertigt. Dabei könne nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Vater
ausweislich des vom Beschwerdeführer vorgelegten Schreibens bereits zwei
Wochen auf der Intensivstation gelegen habe und sich den Verantwortlichen der
Justizvollzugsanstalt deshalb nicht der Eindruck habe aufdrängen müssen, dass der
Eintritt des Todes des Vaters nur noch eine Frage von Stunden sei. Zwar wäre es
möglich gewesen, die im Klinikstempel nicht enthaltene Telefonnummer der Klinik zu
ermitteln. Jedoch sei aus Sicht der Justizvollzugsanstalt mit Blick auf die ärztliche
Schweigepflicht mehr als fraglich gewesen, ob die Klinik ohne förmliche
Entbindungserklärung auf wesentlich den aktuellen Gesundheitszustand des Vaters
des Beschwerdeführers betreffende telefonische Fragen hin Auskunft erteilt hätte.
Auf die Rechtmäßigkeit der Versagung des Ausgangs komme es im Übrigen nicht
entscheidend an. Von der Entscheidung des Landgerichts gehe keine Gefahr für die
Einheitlichkeit der Rechtsordnung aus, da die Kammer weder die Voraussetzungen
des § 35 StVollzG verkannt, noch ein berechtigtes Feststellungsinteresse „in einer die
Wiederholungsgefahr begründenden Weise rechtsfehlerhaft verneint“ habe.
Insbesondere könne ein trotz Erledigung fortbestehendes Rechtsschutzinteresse
wegen eines „tiefgreifenden Grundrechtseingriffs“ nicht festgestellt werden. In
Strafvollzugssachen sei dieser Gesichtspunkt in der Spruchpraxis insbesondere bei
z e i tw e i l i g e r menschenunwürdiger
Unterbringung
bedeutsam
geworden.
Demgegenüber habe die Rechtsprechung ein Feststellungsinteresse in Fällen der
Ablehnung eines einmaligen, in dieser Art unwiederholbaren Vorgangs regelmäßig
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verneint. Ein Feststellungsinteresse habe das Landgericht auch nicht aus Gründen
der Prozessökonomie bejahen müssen. Der Beschwerdeführer habe im Verfahren vor
dem Landgericht weder vorgetragen, einen Amtshaftungsprozess zu beabsichtigen,
noch sei eine solche Absicht sonst ersichtlich gewesen. Die bloß theoretische
Möglichkeit eines Amtshaftungsprozesses genüge nicht.
4. Mit seiner rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt der
Beschwerdeführer, nun nicht mehr anwaltlich vertreten, seine Grundrechte aus Art. 6
Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 und 2 GG seien verletzt.
Die von ihm vorgelegte Bescheinigung sei ausreichend gewesen, da sie mithilfe
eines Anwalts erstellt gewesen sei, die nötigen Informationen enthalten habe und
durch den Anwalt per Fax an die Justizvollzugsanstalt übermittelt worden sei. Auf die
Äußerung seines Wunsches, an der Beerdigung teilzunehmen, sei ihm geantwortet
worden, dass es „hier im Saarland keine Ausführungen zum Begräbnis“ gebe. Die
Justizvollzugsanstalt behaupte zu Unrecht, der Beschwerdeführer sei gefährlich. Wie
von seinem Verteidiger dargestellt, habe er sich stets bemüht, die Auflagen des
Vollzugsplanes zu erfüllen. Die angegriffenen Entscheidungen seien diskriminierend.
D as Oberlandesgericht habe zudem den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.
Die Justizvollzugsanstalt und die Gerichte hätten die Möglichkeit einer Fesselung
nach § 90 StVollzG nicht einmal erwogen. Die Verletzung seiner Grundrechte sei
tiefgreifend.
5. Das saarländische Ministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme
abgesehen. Die Akten des fachgerichtlichen Verfahrens haben der Kammer
vorgelegen.
II.
Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen den Beschluss des Landgerichts
vom 27. September 2011 richtet, mit dem über den Eilantrag des Beschwerdeführers
entschieden wurde, wird sie nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie insoweit
nicht fristgemäß (§ 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) erhoben wurde und deshalb keine
Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
III.
Im Übrigen nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an
und gibt ihr in dem im Tenor bezeichneten Umfang statt, weil dies zur Durchsetzung
der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c
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Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundsätze sind durch die Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Danach ist die Verfassungsbeschwerde im
genannten Umfang zulässig und in einem die Kammerzuständigkeit begründenden
Sinne (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG) offensichtlich begründet.
1. Der Beschluss des Landgerichts vom 7. Dezember 2011 verletzt den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19
Abs. 4 GG.
a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet die Effektivität des Rechtsschutzes. Das
Rechtsmittelgericht darf ein in der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel
daher nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen.
Hiervon muss sich das Rechtsmittelgericht auch bei der Antwort auf die Frage leiten
lassen, ob im jeweiligen Einzelfall ein Rechtsschutzinteresse besteht (vgl. BVerfGE
117, 244 <268> m.w.N.). Die Anforderungen an das Rechtsschutzinteresse dürfen
nicht in einer der Effektivität des Rechtsschutzes zuwiderlaufenden Weise überspannt
werden (vgl. BVerfGE 120, 274 <300> m.w.N.). Mit dem Gebot effektiven
Rechtsschutzes ist es zwar prinzipiell vereinbar, die Rechtsschutzgewährung von
einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse abhängig zu machen. Daher ist es
grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Fachgerichte bei Erledigung des
Verfahrensgegenstandes einen Fortfall des Rechtsschutzinteresses annehmen.
Ausnahmsweise kann aber das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der
Rechtslage auch noch nach Erledigung in besonderer Weise schutzwürdig sein (vgl.
BVerfGE 104, 220 <232 ff.>). Dies betrifft nicht nur die vom Landgericht
angesprochenen Fälle der drohenden Wiederholungsgefahr (vgl. BVerfGE 81, 138
<140> ; 117, 71 <122>; stRspr), der fortbestehenden Beeinträchtigung (vgl. BVerfGE
81, 138 <140> ; 110, 77 <85 f.>; stRspr) und des Rehabilitationsinteresses im Falle
fortbestehender diskriminierender Wirkungen einer rechtsverletzenden Maßnahme
(vgl. BVerfGE 110, 77 <86> ). Unter anderem ist bei gewichtigen Eingriffen ein
Feststellungsinteresse
trotz zwischenzeitlicher Erledigung des ursprünglichen
Rechtsschutzanliegens dann anzuerkennen, wenn die direkte Belastung durch den
angegriffenen Hoheitsakt sich nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine
Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene gerichtlichen Rechtsschutz kaum
erlangen kann, das ursprüngliche Rechtsschutzanliegen sich also typischerweise vor
Erlangbarkeit gerichtlichen Rechtsschutzes erledigt (vgl. BVerfGE 96, 27 <39 f.>; 110,
77 <86> ; 117, 71 <122 f.>; 117, 244 <268> ; stRspr). Die Anforderungen an das
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Gewicht des Grundrechtseingriffs dürfen dabei nicht überspannt werden mit der
Folge, dass Rechte - und insbesondere Grundrechte - in bestimmten Konstellationen
i n rechtsstaatlich unerträglicher Weise systematisch ungeschützt bleiben. Gewichtig
im hier maßgeblichen Sinne können daher neben Grundrechtseingriffen, die das
Grundgesetz ihres besonders hohen Gewichts wegen unter Richtervorbehalt gestellt
hat (vgl. BVerfGE 96, 27 <40>; 104, 220 <233> ; 117, 244 <269>) auch Eingriffe in
andere Grundrechte sein (vgl. BVerfGE 110, 77 <86>; für den Bereich des
Haftvollzuges BVerfGK 11, 54 <59>; BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten
Senats vom 25. November 2010 - 2 BvR 2111/09 -, juris, vom 3. August 2011 - 2 BvR
1739/10 -, juris, vom 7. März 2012 - 2 BvR 988/10 -, StraFo 2012, S. 129 <130>, und
vom 28. Oktober 2012 - 2 BvR 737/11 -, juris).
b) Die daraus sich ergebenden Erfordernisse der Rechtsschutzgewährung hat das
Landgericht in seinem Beschluss vom 7. Dezember 2011 verkannt. Es hat den Antrag
des Beschwerdeführers als mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig verworfen,
ohne zu prüfen, ob die oben genannten Voraussetzungen für ein nach Erledigung des
ursprünglichen Rechtsschutzziels fortbestehendes Rechtsschutzinteresse vorlagen.
Eine solche Prüfung hätte sich dem Gericht aufdrängen müssen.
Die wertentscheidende Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. nur BVerfGE 103,
242 <257> ; 105, 313 <342>) stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der
staatlichen Ordnung. Dieser verfassungsrechtliche Schutzauftrag gilt auch für den
Haftvollzug (vgl. BVerfGE 42, 95 <101>; 89, 315 <322> ; BVerfGK 8, 36 <43 f.>;
BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 1993 - 2 BvR
1479/93 -, NStZ 1994, S. 52) und bezieht sich auch auf das Verhältnis zwischen
Eltern und ihren volljährigen Kindern (vgl. BVerfGE 57, 170 <178>; 80, 81 <91> ).
Mit der Versagung der Ausführung zu seinem im Sterben liegenden Vater, gegen die
der Beschwerdeführer sich gewandt hatte, stand ein gewichtiger Eingriff in das
- für die vorliegende Fallgestaltung einfachgesetzlich durch § 35 Abs. 1 StVollzG
konkretisierte - Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG in Rede. Der Beschwerdeführer hatte
mit der Vorlage des Schreibens seiner Mutter ausdrücklich geltend gemacht, dass der
Vater sich in einem Zustand befinde, der seinen nahen Tod befürchten lasse.
Nachdem diese Befürchtung sich bewahrheitet hatte, hat das Gericht zutreffend
angenommen, dass damit das auf Gewährung der Ausführung gerichtete
Rechtsschutzbegehren durch den Tod des Vaters gegenstandslos geworden war,
sich also im Rechtssinne erledigt hatte. Bei der Entscheidung darüber, ob dem
Beschwerdeführer unter diesen Umständen ein fortbestehendes Interesse an der
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Klärung der Rechtmäßigkeit des geltend gemachten Eingriffs zuzubilligen war, hat es
jedoch verkannt, dass die prozessualen Folgen einer Erledigung des ursprünglichen
Rechtsschutzbegehrens so bestimmt werden müssen, dass eine systemische
Verkürzung des Rechtsschutzes in der Hauptsache vermieden wird. Die hierauf
zielende Regel, nach der bei gewichtigen Grundrechtseingriffen in Fallgestaltungen,
in denen eine gerichtliche Entscheidung vor Erledigung typischerweise nicht erlangt
werden
kann,
von einem
auch
nach
Erledigung
fortbestehenden
Rechtsschutzinteresse auszugehen ist (s.o. unter III.1.a)), hat das Landgericht nicht
berücksichtigt. Im vorliegenden Fall, in dem geltend gemacht worden war, dass der
Tod des Vaters nah bevorstehe, und der Vater tatsächlich innerhalb eines Zeitraums
verstarb, in dem gerichtlicher Rechtsschutz in der Hauptsache typischerweise nicht
zu erlangen ist, hätte die Anwendung dieser Regel zur Anerkennung eines
Feststellungsinteresses führen müssen.
Etwas anderes gilt hier nicht deshalb, weil der Beschwerdeführer zum Beleg dafür,
dass sein Vater im Sterben liege, nur ein entsprechendes Schreiben seiner Mutter mit
einem mit Stempel und weitgehend unleserlicher Unterschrift versehenen
Bestätigungsvermerk der Intensivstation der Klinik vorgelegt hatte, auf dessen
Echtheit sich die Justizvollzugsanstalt nicht verlassen wollte. Ob die
Justizvollzugsanstalt den Beschwerdeführer in der gegebenen Situation, in der
zumindest Anhaltspunkte dafür bestanden, dass sein Vater jederzeit versterben
könnte, zu Recht darauf verwiesen hat, dass er zunächst eine verlässlichere
schriftliche Bestätigung der Klinik unter klinikeigenem Briefkopf beibringen möge,
oder ob nicht im Interesse rechtzeitiger Entscheidung über die begehrte Ausführung
die Justizvollzugsanstalt gehalten gewesen wäre, zumindest den Versuch zu
machen, ihre Zweifel auf andere Weise, etwa durch einen eigenen Anruf oder mithilfe
eines von ihr überwachten Anrufs des Beschwerdeführers auf der Intensivstation der
Klinik, auszuräumen (vgl. Calliess/
Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 35 Rn. 1; Ullenbruch, in: Schwind/Böhm/
Jehle/Laubenthal, StVollzG, 5. Aufl. 2009, § 35 Rn. 3; Köhne/Lesting, in: Feest/
Lesting, AK-StVollzG, 6. Aufl. 2012, § 35 Rn. 13; Arloth, StVollzG, 3. Aufl. 2011, § 35
Rn.
2),
ist
gerade die
Frage,
die
das
Landgericht
auf
den
Fortsetzungsfeststellungsantrag des Beschwerdeführers hin zu klären gehabt haben
würde und deren Klärung es sich durch die Behandlung dieses Antrages als
unzulässig in grundrechtswidriger Weise entzogen hat.
2. Auch der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts vom 15. Februar 2012
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verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG.
a) Zwar fordert Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht
aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger auch
insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.> ; 54, 94
<96 f.>; 122, 248 <271> ; stRspr). Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der
jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in
der
sie
die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer
Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den
Rechtssuchenden „leer laufen“ lassen; der Zugang zu den in der Verfahrensordnung
eingeräumten Instanzen darf nicht in einer durch Sachgründe nicht mehr zu
rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 96, 27 <39> ; 117, 244
<268>; 122, 248 <271> ; stRspr).
Der rechtsuchende Bürger muss zudem erkennen können, welches Rechtsmittel für
ihn in Betracht kommt und unter welchen rechtlichen Voraussetzungen es zulässig ist
(vgl. BVerfGE 49, 148 <164> ; 54, 277 <292 f.>; 87, 48 <65> ; 107, 395 <416>; 108,
341 <349> ; BVerfGK 2, 213 <218>; 6, 72 <76>). Er darf nicht mit einem für ihn nicht
übersehbaren „Annahmerisiko“ und dessen Kostenfolgen belastet werden (vgl.
BVerfGE 49, 148 <164>; 54, 277 <293> ; BVerfGK 6, 72 <76>; 16, 362 <366>).
b) Nach diesem Maßstab ist der Beschluss des Oberlandesgerichts mit Art. 19
Abs. 4 GG unvereinbar.
Mit der Annahme, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung sei weder zur
Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
geboten (§ 116 Abs. 1 StVollzG), weil die Voraussetzungen für die Gewährung von
Ausgang oder Ausführung aus wichtigem Anlass sowie die Anforderungen an das
Feststellungsinteresse nach § 115 Abs. 3 StVollzG geklärt seien und das Landgericht
ein berechtigtes Feststellungsinteresse des Beschwerdeführers nicht „in einer die
Wiederholungsgefahr begründenden Weise rechtsfehlerhaft verneint“ habe, hat das
Oberlandesgericht die Anforderungen an die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde
überspannt.
Die Rechtsbeschwerde war zur Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung zuzulassen, weil der landgerichtliche Beschluss erkennbar von der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (zur Bedeutung einer solchen
Abweichung für die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde vgl. OLG Celle, Beschluss
vom 7. Juli 2006 - 1 Ws 288/06 -, juris) wie auch von der obergerichtlichen
Rechtsprechung zum Fortbestand des Rechtsschutzinteresses (OLG Koblenz,
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Beschluss vom 14. Juli 2003 - 1 Ws 293/03 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom
13. Januar 2004 - 1 Ws 27/03 -, juris) abwich (s. o., III.1.).
Zwar hat das Oberlandesgericht seine Entscheidung zusätzlich auf die Annahme
der Rechtmäßigkeit der vollzugsbehördlichen Entscheidung gestützt. Auch dieser
Teil der Entscheidungsbegründung ist jedoch nach den obigen Maßstäben nicht
tragfähig. Das Oberlandesgericht hat sich insoweit auf Feststellungen zum
Sachverhalt gestützt, für die eine Grundlage im Beschluss des Landgerichts fehlte.
U nter anderem hat es darauf abgestellt, dass der frühere Rechtsanwalt des
Beschwerdeführers, Rechtsanwalt C., in einem Telefonat mit der Justizvollzugsanstalt
die Beibringung einer weiteren Bescheinigung der lebensgefährlichen Erkrankung
d e s Vaters
des
Beschwerdeführers
angekündigt
habe.
Eigene
Tatsachenfeststellungen sind wegen der revisionsähnlichen Ausgestaltung des
Rechtsbeschwerdeverfahrens nach herrschender Auffassung, von engen Ausnahmen
abgesehen, dem Rechtsbeschwerdegericht verwehrt (vgl. etwa OLG Rostock,
Beschluss vom 6. Februar 2012
- I Vollz 3/12 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 11. November 2003 - 1 Vollz
194/03 -, juris; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. April 2002 - 3 Ws 53/02 -,
juris; vgl. auch Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 11. Aufl. 2008, § 119 Rn. 2; Schuler/
Laubenthal, in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, StVollzG, 5. Aufl. 2009, § 116 Rn. 9
m.w.N.; Kamann/Spaniol, in: Feest/Lesting, AK-StVollzG, 6. Aufl. 2012, § 116 Rn. 14).
Unabhängig von der Frage, unter welchen Voraussetzungen es danach dem
Rechtsbeschwerdegericht überhaupt gestattet ist, seine Entscheidung auf Annahmen
zum Sachverhalt zu stützen, die in der Entscheidung des Tatsachengerichts keine
Grundlage finden, ist jedenfalls nicht nachvollziehbar, wie das Oberlandesgericht
seiner Entscheidung die Annahme zugrundelegen konnte, Rechtsanwalt C. habe sich
in Vertretung des Beschwerdeführers telefonisch auf die geforderte Beibringung einer
weiteren Bescheinigung der Klinik eingelassen. Denn nach der im Verfahren vor der
Strafvollstreckungskammer abgegebenen Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt
war das betreffende Telefongespräch nicht mit einem Rechtsanwalt C., sondern mit
Rechtsanwalt
L. geführt
worden.
Angesichts
dieser
Äußerung
der
Justizvollzugsanstalt hätte selbst das zur Aufklärung des Sachverhalts berufene
Landgericht (vgl. BVerfGK 2, 318 <324 f.>; 9, 390 <395>; 9, 460 <464>; 13, 487
<493 f.>; 17, 429 <430 f.> jew. m.w.N.) seiner Entscheidung nicht ohne weiteres die
Annahme zugrundelegen dürfen, von der das Oberlandesgericht Gebrauch gemacht
hat. Soweit das Oberlandesgericht zudem anführt, aus der Sicht der
Justizvollzugsanstalt sei mit Blick auf die ärztliche Schweigepflicht fraglich gewesen,
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ob die Klinik auf telefonische Nachfrage Auskunft erteilt haben würde, kann dies
schon dem Aussagegehalt nach nicht als Beitrag zur Rechtfertigung des Verhaltens
der Justizvollzugsanstalt verstanden werden. Zu der Frage, ob die Sicht der
Justizvollzugsanstalt berechtigt war und ob nicht Möglichkeiten der schnellen
telefonischen Informationsbeschaffung verfügbar waren und hätten erwogen werden
müssen, die ein Problem der Schweigepflicht nicht aufwarfen (s.o., III.1.b)), wird damit
nicht Stellung genommen. Ob auch insoweit die Grenzen der Befugnis eines
Rechtsbeschwerdegerichts überschritten wären, wenn denn eine Feststellung mit
potentiell rechtfertigender Bedeutung vorläge, ist daher ohne Belang.
IV.
Der Beschluss des Landgerichts vom 7. Dezember 2011 und der Beschluss des
Oberlandesgerichts vom 15. Februar 2012 beruhen auf dem festgestellten
Grundrechtsverstoß. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass diese Beschlüsse
zumindest im Ergebnis alternativlos waren und die Verfassungsbeschwerde daher
nicht zur Entscheidung anzunehmen ist, weil der Beschwerdeführer auch im Fall
e i n e r stattgebenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit seinem
Rechtsschutzbegehren vor den Fachgerichten letztlich keinen Erfolg haben könnte
(v g l . BVerfGE 90, 22 <25 f.> ). Von einer Aussichtslosigkeit der weiteren
Rechtsverfolgung vor den Fachgerichten ist insbesondere nicht deshalb auszugehen,
weil im Ergebnis feststünde, dass die Justizvollzugsanstalt berechtigt war, den
Beschwerdeführer auf die Einholung einer andersartigen als der vorgelegten
Bescheinigung zu verweisen (s. unter III.1.b)).
V.
1. Die Beschlüsse des Landgerichts vom 7. Dezember 2011 und des
Oberlandesgerichts vom 15. Februar 2012 sind nach alledem gemäß § 93c Abs. 2,
§ 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben, und das Verfahren ist an das Landgericht
zurückzuverweisen.
2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Lübbe-Wolff
Landau
Kessal-Wulf