Urteil des BVerfG vom 12.05.1998

ddr, ruhen der verjährung, verfassungsbeschwerde, geheimdienst

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Prof. Dr. Erich Buchholz,
Am Treptower Park 44, Berlin -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 61/96 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des am 8. April 1996 verstorbenen Herrn Prof. Dr. R...,
fortgeführt von Frau R...
gegen a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. November 1995 - 5 StR 747/94 -,
b) das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Juni 1994 - (528) 29/2 Js 283/92 Ks
(1/94) -
und Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter
Kruis,
Winter,
Hassemer
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 ( BGBl I S. 1473) am 12. Mai 1998 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung hat sich durch den Tod des
Beschwerdeführers erledigt.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage der Verjährung sogenannter DDR-Alttaten
und die Frage der Strafbarkeit von DDR-Richtern wegen Rechtsbeugung.
I.
1. Der Beschwerdeführer wurde durch das angegriffene Urteil des Landgerichts wegen
Rechtsbeugung in drei Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit Totschlag, in einem Fall
in Tateinheit mit versuchtem Totschlag (in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen) zu
einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.
Nach den tatrichterlichen Feststellungen wirkte der Beschwerdeführer, der ab 1954 als
Hilfsrichter Beisitzer im Strafsenat 1a des Obersten Gerichts der DDR war, an drei
Strafverfahren wegen "Verbrechen gemäß Art. 6 Abs. 2 der Verfassung der DDR" (DDR-
Verfassung von 1949) mit, die zu Todesurteilen führten.
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Die angewandte Bestimmung der Verfassung lautete:
"Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen,
Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-,
Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und
alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten,
s i n d Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung
demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze."
Diese Verfassungsbestimmung wurde in der DDR unmittelbar als Strafgesetz angewendet
und mit den aus § 1 Abs. 1 StGB (in der zur Tatzeit geltenden Fassung) für Verbrechen
vorgesehenen
Rechtsfolgen
der
zeitigen Zuchthausstrafe, der lebenslänglichen
Zuchthausstrafe und der Todesstrafe belegt.
a) Am 3. März 1955 verurteilte das Bezirksgericht Cottbus den 52-jährigen Kaufmann T.
zum Tode. T.'s Berufung wurde vom Obersten Gericht der DDR unter Mitwirkung des
Beschwerdeführers durch Urteil vom 1. April 1955 zurückgewiesen. Dabei hielt der
Beschwerdeführer als Berichterstatter die Todesstrafe nicht für schuldangemessen; er
stimmte dem Urteil aber zu, weil er nicht wagte, auf seine abweichende Meinung
hinzuweisen. T. wurde am 26. Juli 1955 hingerichtet. Das Urteil beruhte auf folgenden
Feststellungen:
T. sei seit Herbst 1950 in DDR-feindlichen Gruppierungen aktiv gewesen. So sei er Mitglied
d e r "Vereinigung politischer Ostflüchtlinge" gewesen und habe an verschiedenen
Versammlungen dieser Organisation auch als Redner teilgenommen. Später sei er
Verbindungsmann zur "Deutschen Freiheitsliga" gewesen. 1951 habe er auf Grenzbahnhöfen
zu den östlichen Sektoren Berlins westliche Tageszeitungen und andere "Hetzschriften"
verteilt. Er habe Gruppen für den systematischen Vertrieb von "Hetzschriften" in der DDR
organisiert und sei dafür verantwortlich gewesen, daß monatlich mehrere tausend
"Hetzflugblätter", zum Teil in russischer Sprache, in der DDR abgesetzt worden seien. Diese
Gruppen seien auch mit Phosphor-Ampullen (zur Inbrandsetzung von Transparenten und
Plakaten), Stinkbomben und Apparaten zur selbständigen Herstellung von Hetzschriften
ausgerüstet gewesen. Neben dieser Organisationstätigkeit habe der Betroffene sich ständig
mit der Abgabe von Gutachten über die Wirksamkeit verschiedener "Hetzschriften"
beschäftigt. Darüber sei T. vom Frühjahr 1951 bis zu seiner Inhaftierung im Sommer 1954
geheimdienstlich tätig gewesen. Bis 1952 habe er "Spionageaufträge" und "Kurierdienste" für
d e n französischen Geheimdienst "Sûreté Nationale" ausgeführt. Er habe während der
"Weltspiele der Jugend und Studenten" die Namen französischer Teilnehmer feststellen
sollen. Außerdem habe er (nicht näher bezeichnete) Informationen über die FDJ sowie
"Stimmungsberichte" geliefert und über das Schulsystem in der DDR berichtet, wozu auch
die "Besorgung sämtlicher Schulbücher" gehört habe. Bereits im Jahr 1951 habe er im
Auftrag des Abwehrdienstes der Britischen Rheinarmee ein "Spionagenetz" in der DDR
aufgebaut mit dem Ziel, "Militärspionage hinsichtlich der sowjetischen Militäreinheiten" zu
betreiben. Dieses Spionagenetz habe im Sommer 1952 einen derartigen Umfang
angenommen, daß der Betroffene einem britischen Geheimdienstoffizier im Range eines
Oberstleutnants unterstellt worden sei; T. sei zweimal monatlich mit einem britischen
Flugzeug nach Westdeutschland gebracht worden, um diesem Offizier direkt zu berichten
und neue Anweisungen zu empfangen. Ihm seien schwerpunktmäßig die Schaffung eines
Agentennetzes,
die
Beschaffung
von militärischen
Informationen,
die
Grenzgeländeerkundungen zum Einschleusen von Agenten nach Polen sowie die Schaffung
von Verbindungen zu Institutionen der SED und des Staatsapparats der DDR aufgegeben
gewesen. Da T. nicht gewillt gewesen sei, die Leitung der von ihm geschaffenen
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Spionageorganisation aus den Händen zu geben, habe der britische Geheimdienst die
Verbindung mit ihm gelöst. Während der zweijährigen Zusammenarbeit hätten für ihn
insgesamt etwa 40 Agenten gearbeitet. Anschließend sei T. "Hauptagent" der "Organisation
Gehlen" gewesen. Auch hier habe seine wesentliche Aufgabe in der Militärspionage
bestanden. Er sei insgesamt zwei Monate für diese Organisation mit mindestens 25
ständigen Mitarbeitern tätig gewesen und habe in dieser Zeit 42 Berichte über Objekte der
sowjetischen Militäreinheiten und der kasernierten Volkspolizei geliefert. Seit November 1953
habe T. Spionage für den amerikanischen Geheimdienst betrieben; er habe etwa 120
Berichte über verkehrstechnische Einrichtungen und Flugplätze geliefert. Für die Berichte
habe er jeweils ein Entgelt von 40,- DM erhalten. Darüber hinaus habe er einen Spion mit
einer Spezialkamera ausgerüstet, mit welcher dieser Wirtschaftspläne habe fotografieren
sollen. Ferner habe der Betroffene ein Tonbandgerät in das "Büro einer wichtigen
Verwaltungsdienststelle" der DDR einbauen lassen wollen, wozu es allerdings nicht
gekommen sei. Im April 1954 habe T. einen "größeren Spionageauftrag des dänischen
Geheimdienstes" erhalten; er habe gegen Bezahlung von 500 Westmark etwa 25 Berichte
geliefert, wobei er nur zum Teil neue Informationen verwendet habe. Seit Herbst 1953 habe
der Betroffene schließlich Kontakte zum Landesamt für Verfassungsschutz in Berlin (West)
gesucht. Von diesem Amt sei er beauftragt worden, Spionageverbindungen zu
Organisationen der DDR herzustellen. In diesem Zusammenhang habe T. durch eine Agentin
etwa 25 Berichte über "finanzwirtschaftliche Angelegenheiten" und über "landwirtschaftliche
Produktionsgenossenschaften" sowie vier Berichte über Objekte der kasernierten
Volkspolizei erhalten.
b) Am 4. November 1955 verurteilte das Bezirksgericht Cottbus den 40-jährigen Ingenieur
F. zum Tode. F.'s Berufung wurde vom Obersten Gericht der DDR durch Urteil vom 2.
Dezember 1955 unter Mitwirkung des Beschwerdeführers zurückgewiesen. Der
Beschwerdeführer - wiederum als Berichterstatter - stimmte im Ergebnis für die Todesstrafe,
obwohl er dem Fall noch geringeres Gewicht als dem Fall T. beimaß. F. wurde am 22.
Dezember 1955 hingerichtet. Das Urteil beruhte auf dem Vorwurf, F. sei von Herbst 1953 bis
Sommer 1955 für den britischen Geheimdienst tätig gewesen:
Bis Mai 1955 habe F. Informationen über "sowjetische Objekte und Militäreinheiten"
gesammelt; insbesondere habe er Beobachtungen über sowjetische Kraftfahrzeuge und
deren Insassen angestellt, die zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Straße passiert
hätten und in ein Sperrgebiet gefahren seien. Monatlich habe er zehn bis 30 solcher
Informationen geliefert. Außerdem habe er unter Zuhilfenahme eines Stadtplanes eine Skizze
über ein "sowjetisches Objekt" gefertigt. Für diese "staatsfeindlichen Handlungen" habe er
monatlich 25 Westmark erhalten. Seit Mai 1954 habe F. mit einem Pkw Opel, für dessen
Erwerb ihm 3.000,- DM ausgehändigt worden seien, Kurierfahrten in die DDR durchgeführt
und u.a. "tote Briefkästen" entleert. Hierfür habe er monatlich 50 Westmark bezogen, die
zunächst mit dem Geld für den Pkw-Erwerb verrechnet worden seien. Nachdem er im Juni
1955 sein Einverständnis erklärt habe, in die kasernierte Volkspolizei einzutreten, sei er nicht
w eiter mit Kurierfahrten betraut worden, sondern habe eine Deckadresse für die
Nachrichtenübermittlung erhalten, um auch ohne Betreten der Westsektoren Berlins
Verbindung mit dem britischen Geheimdienst halten zu können, wozu es später indes nicht
gekommen sei.
c) Am 27. Januar 1956 verhängte das Oberste Gericht der DDR unter Mitwirkung des
Beschwerdeführers in einem erstinstanzlichen Verfahren Todesstrafen gegen den 42-
jährigen Konstrukteur H. und den 33-jährigen Elektriker R.; die 33-jährige Stenotypistin H.
wurde zu lebenslangem Zuchthaus, der 27-jährige Hollerith-Spezialist S. zu acht Jahren
Zuchthaus verurteilt. Der Beschwerdeführer hielt die Strafen zwar nicht für
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schuldangemessen, schloß sich aber stillschweigend dem Votum des Vorsitzenden und des
Berichterstatters an. Die Todesstrafen gegen H. und R. wurden am 8. Februar 1956 in
lebenslange Zuchthausstrafen umgewandelt; beide Verurteilte wurden 1964 aus der Haft
entlassen. S. wurde bereits im März 1957, nachdem die Strafe im Gnadenweg auf drei Jahre
ermäßigt worden war, zur Bewährung entlassen. Frau H. verstarb im September 1956 in der
Haft.
H. wurde zum Vorwurf gemacht, sie habe von 1950 bis 1955 für den amerikanischen
Geheimdienst und für den RIAS insbesondere Gebäude der Polizei und der Staatssicherheit
"ausspioniert" sowie dem amerikanischen Geheimdienst eine Reihe von Wissenschaftlern
zum Zwecke der Abwerbung namhaft gemacht. S. wurde angelastet, zwei Arbeitskollegen
durch den Hinweis auf ein ihm selbst aus Westdeutschland gemachtes Stellenangebot zur
Übersiedelung dorthin veranlaßt und dies bei einer weiteren Kollegin versucht zu haben. H.
und R. wurden beschuldigt, im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes Spionage sowie
die Abwerbung von Wissenschaftlern und sonstigen Fachkräften aus der DDR betrieben zu
haben:
H. habe in den Jahren 1951 bis 1955 bei etwa 100 Zusammentreffen ausführliche
Informationen aus den Betrieben, in denen er tätig gewesen sei, und Berichte über
gelegentlich beobachtete militärische Objekte weitergegeben. Er habe auch Zeichnungen,
Pläne und Unterlagen aus den Betrieben entnommen, wobei er infolge seiner Fachkenntnisse
in der Lage gewesen sei, den Wert der jeweiligen Unterlagen genau zu erkennen. Von Anfang
an sei H. auch mit Militärspionage beauftragt gewesen; er habe über den Flugplatz Dessau
und die dort stationierten Einheiten der sowjetischen Luftwaffe berichtet. Zum anderen habe
e r Informationen (Personalien, Arbeitsstelle, Qualifikation, politische Vergangenheit usw.)
über insgesamt 90 Wissenschaftler gesammelt, die dem amerikanischen Geheimdienst dazu
dienen sollten, die Betreffenden in den Westen abzuwerben. H. habe "für seine
verbrecherische Tätigkeit" insgesamt etwa 3.500 Westmark erhalten. R. habe
Wirtschaftsspionage, namentlich in einem Erfurter Rundfunkwerk, betrieben. Er habe
Produktionsziffern verraten, über Materialschwierigkeiten und Rohstoffengpässe berichtet,
Zeichnungen und Muster von Röhren beschafft; er habe in die DDR liefernde westdeutsche
Firmen verraten und über den Export nach Polen, China und der Sowjetunion berichtet. Zum
anderen habe er sich auch der Militärspionage schuldig gemacht, indem er über Einheiten der
sowjetischen Luftwaffe und Manöver der Sowjetarmee berichtet habe. Schließlich habe er
dem amerikanischen Geheimdienst auch zwölf abzuwerbende "Angehörige der technischen
Intelligenz" aus dem Erfurter Rundfunkwerk benannt. Für seine "Verbrechen" habe R.
insgesamt etwa 4.000 Westmark erhalten.
2. Mit Urteil vom 16. November 1995 verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des
Beschwerdeführers gegen das Urteil des Landgerichts und führte zur Begründung aus:
a) Eine Bestrafung des Beschwerdeführers sei weder durch in der DDR erlassene
Amnestien noch durch Verfolgungsverjährung ausgeschlossen. Für die vorliegend zur
Entscheidung stehenden Fälle der Anwendung politischen Strafrechts durch den 1a-
Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR habe die Verjährung in der DDR aufgrund eines
quasi-gesetzlichen Verfolgungshindernisses geruht, so daß Verfolgungsverjährung nach Art.
315a EGStGB ausgeschlossen sei. Das dem Beschwerdeführer angelastete Verhalten habe
in allen drei der Verurteilung zugrunde liegenden Fällen im Einklang mit der Auffassung der
Staatsführung der DDR gestanden; diese habe jeweils konkret Einfluß genommen, indem
das Politbüro des Zentralkomitees der SED die Hinrichtung T.'s vorab (billigend) zur Kenntnis
genommen, der Staatspräsident ein für F. eingelegtes Gnadengesuch unbeschieden
gelassen und wiederum das Politbüro das Verfahren gegen H. u.a. vorab, auch bereits
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hinsichtlich des Ergebnisses, maßgeblich beeinflußt habe. Es habe demgemäß dem
politischen Willen der Staatsführung entsprochen, die mit jenen Verfahren befaßten
Justizangehörigen
deswegen
nicht strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Besonderheiten, welche der Annahme des daraus folgenden Ruhens der Verjährung hier
ausnahmsweise entgegenstehen könnten, lägen nicht vor.
b) Die von Art. 315 EGStGB und § 2 StGB vorausgesetzte Unrechtskontinuität bestehe.
Auch für den Bereich der politisch motivierten Strafjustiz halte der Senat dabei an der
Einschränkung des Rechtsbeugungstatbestandes dahingehend fest, daß es sich um einen
elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege handeln müsse. Ein solch elementarer Verstoß
könne nur bei offensichtlichen Willkürakten seitens der DDR-Justiz bejaht werden, d.h. die zu
beurteilende Entscheidung müsse sich bei Zugrundelegen des insoweit maßgeblichen
Rechts der DDR und unter Berücksichtigung der im SED-Staat herrschenden, von
rechtsstaatlichen
Grundsätzen abweichenden Wertvorstellungen als unerträgliche
Menschenrechtsverletzung darstellen.
Hier liege eine Rechtsbeugung in der Form grausamen und überhöhten Strafens vor.
Angesichts der Beschränkung des Rechtsbeugungstatbestandes auf offensichtlich schwere
Menschenrechtsverletzungen durch überhöhte Bestrafung könne dies auch bei Anwendung
des § 244 StGB/DDR keinen Bedenken unterliegen. Abweichendes ergebe sich auch nicht
daraus, daß das 1968 in Kraft getretene Zwischengesetz des § 244 StGB/DDR für den
Tatbestand der Rechtsbeugung eine "gesetzwidrige" Entscheidung verlange und
ausdrückliche gesetzliche Strafzumessungsvorschriften ebenfalls erst zu jener Zeit in Kraft
getreten, zur Tatzeit indes noch kein geschriebenes Recht gewesen seien. Der Grundsatz,
daß eine verhängte Strafe nicht in einem unerträglichen Mißverhältnis zur geahndeten Tat
stehen dürfe, sei Allgemeingut aller zivilisierten Völker der Neuzeit und habe in der DDR auch
ohne seine (partielle) Kodifizierung gegolten. Allein die gesetzliche Eröffnung von Strafrahmen
anstelle absoluter Strafdrohungen, wie sie für Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung von 1949
aus § 1 Abs. 1 StGB/DDR entnommen worden sei, bilde hierfür eine hinreichend deutliche
gesetzliche Verankerung, so daß die Verhängung einer in diesem Sinne unverhältnismäßig
hohen Strafe aus dem gesetzlichen Strafrahmen fraglos eine gesetzwidrige Entscheidung
gewesen sei.
Die Verhängung der Todesstrafe vermöge zwar - jedenfalls für den maßgeblich als Periode
des "Kalten Krieges" gekennzeichneten Tatzeitraum - als solche eine Verurteilung wegen
Rechtsbeugung nicht ohne weiteres zu rechtfertigen. Es könne aber keinem Zweifel
unterliegen, daß ein so fundamentaler, irreparabler Eingriff in das Rechtsgut Leben nur in aufs
engste begrenzten Ausnahmefällen hinnehmbar sein könne. Die staatlich verfügte
Vernichtung eines Menschenlebens möge dann keine Rechtsbeugung sein, wenn die
Ahndung schwersten Unrechts und schwerster Schuld, etwa in bestimmten Fällen
vorsätzlicher Tötung, in Rede stehe. Sachverhalte, in denen die Todesstrafe nicht als
Sanktion für vorsätzliche Tötungsdelikte verhängt werde, gäben demgegenüber regelmäßig
zu besonders kritischer Prüfung Anlaß. Dies gelte angesichts der offenkundigen
Mißbrauchsgefahren namentlich für den Bereich des politisch motivierten Strafrechts. Die
DDR-Justiz sei daher - auch unter den Bedingungen des "Kalten Krieges" - in besonderem
Maße gehalten gewesen, die von der Rechtsordnung vorgesehene Todesstrafe, zumal im
Bereich politisch motivierten Strafrechts, auf Fälle schwersten Unrechts zu beschränken.
Diese äußerste Sanktion habe nicht angeordnet werden dürfen, wenn durch die zu ahndende
Straftat kein gravierender Schaden verursacht worden sei. Bei den unter Mitwirkung des
Beschwerdeführers abgeurteilten Taten von T., F., H. und R. habe es sich nicht um
Verbrechen gehandelt, die - auch aus damaliger Sicht eines DDR-Richters - äußerstes
Unrecht und schwerste Schuld des Täters offenbart und deshalb die Verhängung der
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Todesstrafe gerechtfertigt hätten. Rechtsbeugerisch überhöht sei auch die gegen S.
verhängte achtjährige Zuchthausstrafe. Es handele sich ersichtlich um ein Signal, das allein
oder jedenfalls vorrangig einer gänzlich überzogenen Abschreckung in einem Schauprozeß
diente, mit dem die seitens des SED-Staates als gefährlich angesehene Abwanderungs- und
Abwerbungsbewegung plakativ habe angeprangert werden sollen.
II.
Mit der fristgemäß eingelegten Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer
insbesondere eine Verletzung von Art. 103 Abs. 2 GG.
Diese Vorschrift sei dadurch verletzt, daß die Gerichte bereits verjährte Taten verfolgt und
bestraft hätten. Sie hätten entgegen der eindeutigen Gesetzeslage in der DDR ein Ruhen der
Verjährung bis zur Wiedervereinigung angenommen. Damit hätten sie sich in eklatanter
Weise über die Rechtsprechung und Rechtspraxis eines anderen Staates hinweggesetzt. Im
Unterschied zum Berechnungsgesetz von 1965 würden durch diese Rechtsprechung des
Bundesgerichtshofs nicht
nur
(verfassungsrechtlich
zulässig)
noch
laufende
Verjährungsfristen in die Zukunft hinein verlängert, sondern es würden darüber hinaus an
abgeschlossene Tatbestände für die Betroffenen ungünstigere Folgen geknüpft als im
Zeitpunkt der Vollendung der Tatbestände vorhersehbar gewesen sei. Um abgeschlossene
Tatbestände handle es sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen sei nach der Rechtsordnung
der DDR definitiv Verjährung eingetreten gewesen; zum anderen sei mit dem Ende der DDR,
mit ihrem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland, auch deren Rechtsordnung
"abgeschlossen" gewesen. Es sei für den Einzelnen nach rechtsstaatlichen Grundsätzen
nicht voraussehbar gewesen, daß sich danach noch etwas zu seinem Nachteil ändern
könnte oder dürfte.
Des weiteren sei Art. 103 Abs. 2 GG dadurch verletzt worden, daß Landgericht und
Bundesgerichtshof die durch die Vorschrift des § 244 StGB/DDR von 1968 erfolgte
Einengung
des
Rechtsbeugungstatbestandes
auf "wissentlich
gesetzwidrige"
Entscheidungen, die (als milderes Gesetz) auch für frühere Taten hätte in Anwendung
k om m en müssen, nicht beachtet und den Beschwerdeführer wegen Rechtsbeugung
verurteilt hätten, obwohl es zur Tatzeit keine geschriebene Strafzumessungsbestimmung in
der DDR gegeben habe, gegen die der Beschwerdeführer habe verstoßen können. Der
Bundesgerichtshof habe vielmehr seine heutige Rechtsansicht - insbesondere zum
Verhängen der Todesstrafe - zum Maßstab für die Beurteilung 40 Jahre zurückliegender
gerichtlicher Entscheidungen in einem anderen Staat gemacht.
Im Hinblick auf die drohende Strafverbüßung hat der Beschwerdeführer mit Einlegung der
Verfassungsbeschwerde den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt. Im April 1996 ist
der Beschwerdeführer verstorben. Seine Ehefrau hat erklärt, das Verfahren fortführen zu
wollen.
III.
Ein Grund zur Annahme der Verfassungsbeschwerde im Sinne des § 93a Abs. 2 BVerfGG
liegt nicht vor. Die Sache hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Die mit
d e r Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen lassen sich
anhand der vorliegenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beantworten. Die
Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1
BVerfGG bezeichneten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg.
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Die Verfassungsbeschwerde hat sich nicht dadurch erledigt, daß der Beschwerdeführer
verstorben ist. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, daß der Ehefrau des
Beschwerdeführers mit Rücksicht auf ihr Antragsrecht im Wiederaufnahmeverfahren nach
§ 361 Abs. 2 StPO auch die Befugnis zuzubilligen ist, eine gegen das Strafurteil gerichtete
Verfassungsbeschwerde nach seinem Tod fortzuführen (vgl. BVerfGE 37, 201 <206>). Von
dieser Befugnis hat die Ehefrau des Beschwerdeführers Gebrauch gemacht.
Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer jedoch nicht in
Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten.
1. a) Aus den angegriffenen Entscheidungen ergibt sich, daß der Eintritt der
Verfolgungsverjährung nicht aufgrund des Gesetzes über das Ruhen der Verjährung bei
SED-Unrechtstaten vom 26. März 1993 ( BGBl I S. 392) und des durch dieses Gesetz in Art.
315a Abs. 1 EGStGB eingefügten Satzes 2 verneint worden ist. Es bedarf daher keiner
Erörterung, ob die Regelungen des Verjährungsgesetzes mit dem Grundgesetz vereinbar
sind.
Über die Verjährung wurde ausschließlich anhand der allgemeinen Verjährungsvorschriften
entschieden. Bei der auf dieser Grundlage getroffenen Entscheidung der Strafgerichte,
Verfolgungsverjährung sei nicht eingetreten, handelt es sich um die Auslegung und
Anwendung einfachen Rechts auf den einzelnen Fall, die grundsätzlich Sache der dafür
allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht
entzogen sind. Nur bei Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte
kann das Bundesverfassungsgericht insoweit auf die Verfassungsbeschwerde hin eingreifen
(vgl. BVerfGE 1, 418 <420>). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann
verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der
Fehler muß vielmehr gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen ( BVerfGE 18,
85 <92 f.>). Dabei kommt ein verfassungsgerichtliches Eingreifen auf der Grundlage des
allgemeinen Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1 GG) nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht; es
erfordert, daß sich über eine fehlerhafte Rechtsanwendung hinaus der Schluß aufdrängt,
diese beruhe auf sachfremden Erwägungen (vgl. BVerfGE 62, 189 <192>). Diese
Einschränkung der Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts gilt auch, wenn es
um die Feststellung, Auslegung und Anwendung von Normen einer fremden Rechtsordnung
durch die Strafgerichte geht, von denen nach den Vorschriften der Bundesrepublik
Deutschland die strafrechtliche Beurteilung abhängt ( BVerfGE 95, 96 <128>).
b)
Die
Auffassung
des
Bundesgerichtshofs, bereits nach den allgemeinen
Verjährungsvorschriften sei die Verfolgung der Taten des Beschwerdeführers nicht verjährt,
beruht auf folgenden Erwägungen:
Die Verfolgungsverjährung der Straftaten des Beschwerdeführers habe sich bis zur
Vereinigung nach dem Recht der DDR bestimmt. Dies ergebe sich aus Art. 315a Abs. 1 Satz
1 EGStGB. Die Bestimmung gehe als spezielle Vorschrift über die Verjährung dem Art. 315
Abs. 1 Satz 1 EGStGB vor mit der Folge, daß bei der Prüfung, welches Recht das mildere
sei, die Verjährungsfrage auszuklammern sei. Nach der durch den Einigungsvertrag
geschaffenen Rechtslage könne bei DDR-Alttaten, die auch nach dem Strafgesetzbuch der
Bundesrepublik Deutschland strafbar gewesen seien, der noch unverjährte DDR-
Strafanspruch auch dann verfolgt werden, wenn der originäre Strafverfolgungsanspruch der
Bundesrepublik nach den Vorschriften des Strafgesetzbuchs bereits vor dem Beitritt der
DDR verjährt gewesen sei. Für DDR-Alttaten, die entsprechend dem Willen der Staats- und
Parteiführung der DDR aus politischen oder sonst mit wesentlichen Grundsätzen einer
freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbaren Gründen nicht geahndet worden
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seien, ruhe der Lauf der Verjährung bis zum Wegfall dieses Verfolgungshindernisses. Dieser
Wille sei einer "gesetzlichen Vorschrift" im Sinne des § 69 Abs. 1 StGB a.F. (gültig bis zum
Inkrafttreten des StGB/DDR von 1968) und einem "gesetzlichen Grund" im Sinne des § 83
Nr. 2 StGB/DDR von 1968 gleichzuachten, so daß die entsprechende Anwendung dieser
Vorschriften über das Ruhen der Verjährung geboten sei (vgl. BGHSt 40, 48 <55 ff.>; 40, 113
<115 ff.>).
c) (1) Die entsprechende Anwendung der §§ 69 StGB a.F. und 83 Nr. 2 StGB/DDR auf
systemtragende Straftaten, die von der DDR, in deren Namen sie begangen wurden, nicht
verfolgt worden sind, verletzt nicht Art. 103 Abs. 2 GG. Diese Verfassungsbestimmung
betrifft lediglich die Voraussetzungen, unter denen ein Verhalten für strafbar erklärt werden
kann, nicht die Frage, wielange eine Straftat zu verfolgen und zu ahnden ist (vgl. BVerfGE 25,
269 <286>; 8 1 , 132 <135>). Im übrigen handelt es sich vorliegend nicht um eine
nachträgliche Verlängerung von Verjährungsfristen, sondern allein um die Frage der
Auslegung von Verjährungsvorschriften und die Zulässigkeit von deren entsprechender
Anwendung auf vergleichbare Sachverhalte.
(2) Ein weitergehender Vertrauensschutz zugunsten des Beschwerdeführers läßt sich aus
dem Grundgesetz nicht herleiten. Eine von Verfassungs wegen zu beachtende Rückwirkung
liegt nicht vor. Die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten waren bereits vor dem
Inkrafttreten des Einigungsvertrags in beiden Teilen Deutschlands mit Strafe bedroht. Daß
der Beschwerdeführer zunächst in der DDR nicht belangt wurde, beruht nicht auf den damals
dort geltenden Gesetzen, sondern auf dem mangelnden Verfolgungswillen eines Regimes,
das noch vor der Vereinigung gestürzt wurde. Bereits vor Inkrafttreten des Einigungsvertrags
wäre die Strafverfolgung infolge der Änderung der Machtverhältnisse in der DDR nicht nur
rechtlich, sondern auch faktisch möglich gewesen. Bei dieser Sachlage kann nicht gesagt
werden, das Inkrafttreten des Einigungsvertrags habe zu einer dem Beschwerdeführer
nachteiligen Veränderung der verfahrensrechtlichen Lage geführt.
(3) Die Auslegung der Art. 315, 315a EGStGB (a) und der Vorschriften der DDR über das
Ruhen der Verfolgungsverjährung (b) ist auch nicht willkürlich.
(a) Der Auslegung der Art. 315, 315a EGStGB wird entgegengehalten, sie setze das
Bestehen zweier Strafansprüche in der Hand eines Staates voraus und dies sei begrifflich
unmöglich, weil sich der Beitritt der DDR nicht als Zusammenschluß zweier gleichrangiger
Staaten vollzogen habe (vgl. Jakobs, NStZ 1994, S. 332 <333 f.>; Grünwald, StV 1992, S.
333 <337>). Dieser Einwand ist jedoch nicht zwingend. Unabhängig von der staats- und
völkerrechtlichen Form, in der sich die Vereinigung vollzog, bestand die Notwendigkeit,
Übergangsregelungen für die Verfolgung der in beiden Teilrechtsgebieten strafbaren Taten zu
schaffen. Dabei mußte auch eine Lösung für die in beiden Teilrechtsgebieten
unterschiedlichen Verjährungsfristen gefunden werden. Diese Lösung ist nicht durch die
Eigenart des staatlichen Strafanspruchs vorgegeben.
Die Auffassung, Art. 315a Abs. 1 EGStGB gehe als spezielle Regelung über die Verjährung
Art. 315 Abs. 1 Satz 1 EGStGB vor, ist ohne weiteres nachvollziehbar.
(b) Die entsprechende Anwendung der §§ 69 StGB a.F. und 83 Nr. 2 StGB/DDR kann sich
auf die Grundsätze stützen, die von der Rechtsprechung zur verjährungsrechtlichen
Beurteilung von NS-Unrecht entwickelt worden sind (vgl. BGHSt 18, 367 <368 f.>; 23, 137
<139 f.>).
Der Einwand, NS-Gewaltherrschaft und SED-Regime seien nicht vergleichbar, greift
demgegenüber nicht durch. Der Einwand wird damit begründet, daß die Strafverfolgung von
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NS-Gewalttaten durch einen gesetzesgleich erachteten Führerwillen verhindert worden sei,
während es in der DDR Vergleichbares nicht gegeben habe. Für die Frage des Ruhens der
Verjährung kann indessen ohne Verfassungsverstoß als maßgeblich angesehen werden,
daß in beiden Herrschaftssystemen vergleichbare Unrechtsstrukturen bestanden haben,
kraft derer die Verfolgung systemkonformer Straftaten am Willen der Machthaber scheitern
mußte. Auch in der DDR wurden staatlich veranlaßte Unrechtstaten generell nicht verfolgt,
und zwar auch dann nicht, wenn sie als Unrecht erkannt wurden (vgl. Jähnke in: Leipziger
Kommentar, 11. Aufl., § 78c, Rn. 48).
Die Anwendung der §§ 69 StGB a.F. und 83 Nr. 2 StGB/DDR verbietet sich auch nicht
aufgrund der Überlegung, dies hätte den Zielsetzungen des Gesetzgebers der DDR
widersprochen (so Heuer/Lilie, DtZ 1993, S. 354 <355 f.>). Zwar kann die Auslegung des
Rechts der DDR nicht ohne Rücksicht auf die damalige Anschauung und Rechtspraxis
erfolgen. Dies bedeutet indes nicht, daß der nunmehr erkennende Richter im Sinne reiner
Faktizität in jeder Hinsicht an die Interpretation des Rechts gebunden wäre, die in der
damaligen Staatspraxis Ausdruck gefunden hat (vgl. BGHSt 39, 1 <29>). Es ist von
Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, eine entgegenstehende Staatspraxis als
unbeachtlich anzusehen, wenn sie ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck gedient hat,
die strafrechtliche Ahndung staatlich veranlaßten Unrechts zu verhindern. Würde man auch
hier die Sicht des Unrechtsstaates für maßgeblich erachten, wäre die Verfolgung solcher
Straftaten von vornherein zum Scheitern verurteilt.
2. Die Anwendung und Auslegung des § 244 StGB/DDR durch den Bundesgerichtshof
verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG.
Das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Interpretation von Strafgesetzen ist
nicht mehr durch Art. 103 Abs. 2 GG geschützt, wenn die ihr zugrundeliegende Staatspraxis
durch Aufforderung zu schwerstem kriminellen Unrecht und seiner Begünstigung die in der
Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise
mißachtet hat; denn hierdurch setzt der Träger der Staatsmacht extremes staatliches
Unrecht, das sich nur solange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht
faktisch besteht (vgl. BVerfGE 95, 96 <133>; Beschluß der 2. Kammer des Zweiten Senats
des Bundesverfassungsgerichts vom 7. April 1998 - 2 BvR 2560/95 - Umdruck S. 12 f.).
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 244 StGB/DDR führt durch die
einschränkende Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes dazu, daß die dienstliche
Tätigkeit von Richtern und Staatsanwälten der DDR nur dann von der Strafvorschrift erfaßt
wird, wenn im Einzelfall allgemein anerkannte Menschenrechte in schwerwiegender Weise
mißachtet wurden (vgl. BVerfG a.a.O., Umdruck S. 13 f.). Bei einer Rechtsbeugung in der
Form grausamen und überhöhten Strafens handelt es sich um eine unerträgliche
Menschenrechtsverletzung. Dies kann auch für die Zeit vor dem Beitritt der DDR zum
Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) vom 19. Dezember
1966 nicht zweifelhaft sein. Das Verbot grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender
Strafen ist bereits in Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in der von der
Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossenen
Fassung enthalten. Wenn der Bundesgerichtshof annimmt, daß der Erklärung jedenfalls
insofern ein hohes Maß an rechtlicher Bedeutung zukomme, als sie den Willen der
Völkergemeinschaft, Menschenrechte zu verwirklichen, und den ungefähren Inhalt dieser
Menschenrechte zum Ausdruck bringe (vgl. BGHSt 40, 241 <246 ff.>), ist dies nicht zu
beanstanden.
Die Wertung des Bundesgerichtshofs im Ausgangsverfahren, auch ausgehend von den in
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der DDR im Tatzeitraum herrschenden Wertvorstellungen rechtfertige keine der vom
Obersten Gericht der DDR festgestellten Sachverhalte (mit Ausnahme des Falles H.) auch
nur annähernd die jeweils verhängte Sanktion, betrifft ausschließlich die Auslegung und
Anwendung einfachen Rechts. Die insoweit - wie dargestellt - auf die Verletzung spezifischen
Verfassungsrechts eingeschränkte Überprüfung der angegriffenen Entscheidung deckt
keinen Fehler auf.
3.
Die
den
angegriffenen
Entscheidungen zugrundeliegende Auslegung der
Strafbestimmungen der DDR über Rechtsbeugung (§ 336 StGB a.F. und § 244 StGB/DDR)
verstößt auch nicht gegen Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Ausgestaltung als spezielles
Willkürverbot des Grundgesetzes für die Strafgerichtsbarkeit.
Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so
konkret zu umschreiben, daß Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu
erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 47, 109 <120>; 55,
144 <152>). Dieses Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit schließt nach der Rechtsprechung
eine analoge oder gewohnheitsrechtliche Strafbegründung aus. Dabei ist "Analogie" nicht im
engeren technischen Sinn zu verstehen; vielmehr ist jede Rechtsanwendung
ausgeschlossen, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Art. 103
Abs. 2 GG zieht insoweit der Auslegung von Strafvorschriften eine verfassungsrechtliche
Grenze (vgl. BVerfGE 71, 108 <115>). Mit diesem Grundgedanken des Art. 103 Abs. 2 GG
setzt sich eine Verurteilung in Widerspruch, der eine objektiv willkürliche Auslegung des
materiellen Strafrechts zugrunde liegt.
Die Rechtsauffassung, auch wenn das geschriebene Recht der DDR zur Tatzeit keine
Strafzumessungsregeln enthalten habe, könne die Verhängung einer unerträglich überhöhten
Strafe innerhalb des vorgegebenen Strafrahmens eine gesetzwidrige Entscheidung im Sinne
von § 244 StGB/DDR von 1968 darstellen und damit den objektiven Tatbestand einer
Rechtsbeugung erfüllen, überschreitet diese verfassungsrechtliche Grenze der Auslegung
nicht. Der Bundesgerichtshof geht dabei von folgenden Überlegungen aus:
Der aus den allgemeinen Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere dem
Rechtsstaatsprinzip, folgende Grundsatz, daß eine verhängte Strafe ein gerechtes Verhältnis
zum Maß der Schuld des Täters einhalten müsse, sei von jeher ungeschriebener Grundsatz
des deutschen Strafrechts gewesen (vgl. BGHSt 3, 110 <118 f.>; 10, 294 <301>) und auch
bereits durch das MRG Nr. 1 Art. IV Nr. 8 (Amtsbl der Militärregierung Deutschland 1944, S.
12) ausgesprochen worden. Die Proklamation Nr. 3 des Alliierten Kontrollrats vom 20.
Oktober 1945 (II. 4. Satz 2) für alle vier Besatzungszonen (Official Gazette of the Control
Council for Germany) habe das Verbot enthalten, "Strafen, die gegen das gerechte Maß oder
die Menschlichkeit verstoßen", zu verhängen. Der Sache nach sei das Verbot auch in der
DDR anerkannt gewesen. Daß namentlich bei der Anwendung des Art. 6 Abs. 2 der DDR-
Verfassung von 1949 "aus der Überbetonung des Schutzinteresses des Staates" teilweise
überhöhte Strafen festgesetzt wurden, habe das Plenum des Obersten Gerichts der DDR in
seinem Urteil vom 26. August 1953 ausdrücklich kritisiert (vgl. OGStE 3, 102 <103 f.>).
Die Auslegung des Tatbestandmerkmals "gesetzwidrige Entscheidung" des § 244
StGB/DDR durch den Bundesgerichtshof hält sich danach in den verfassungsrechtlichen
Grenzen einer zulässigen Auslegung.
4. Das Landgericht hat schließlich in verfassungsrechtlich nicht angreifbarer Weise
festgestellt, daß dem Beschwerdeführer bewußt gewesen sei, daß die verhängten Strafen
"nicht schuldangemessen" und "grob unbillig" gewesen seien, und daß er darüber hinaus
erkannt habe, daß diese Entscheidungen nach objektiven Maßstäben als offensichtliche
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Willkürakte gesetzwidrig gewesen seien.
Der Antrag auf Erlaß einer die Strafvollstreckung betreffenden einstweiligen Anordnung
nach § 32 Abs. 1 BVerfGG hat sich durch den Tod des Beschwerdeführers erledigt.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kruis
Winter
Hassemer