Urteil des BVerfG vom 17.04.2015

Vorläufige Untersagung der Abschiebung einer somalischen Familie mit Kleinstkind nach Italien

- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Siegmund & Heilborn,
Obotritenring 109, 19053 Schwerin -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 602/15 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. der Frau A ... ,
2. des minderjährigen F ... ,
3. des minderjährigen F ... ,
gegen
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Schwerin
vom 2. März 2015 - 5 B 1190/14 As -
hier:
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Huber,
Müller,
Maidowski
am 17. April 2015 einstimmig beschlossen:
Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge wird einstweilen bis zur
Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde untersagt, die im Bescheid
des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Juni 2014
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angeordnete Abschiebung der Beschwerdeführer nach Italien zu vollziehen.
G r ü n d e :
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen
Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr
schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl
dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des
angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu
bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als
unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen,
die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die
Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen, die
entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der
Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25
<35>; 89, 109 <110 f.>; stRspr).
2. Nach vorläufiger Prüfung kann nicht festgestellt werden, dass die von den
Beschwerdeführern erhobene Verfassungsbeschwerde unzulässig oder offensichtlich
unbegründet ist.
Die Beschwerdeführer rügen, den Anforderungen an die Begründung einer
Verfassungsbeschwerde genügend, die Versagung vorläufigen gerichtlichen
Rechtsschutzes im Abänderungsverfahren gemäß § 80 Abs. 7 VwGO verstoße gegen
das in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Willkürverbot (vgl. zu diesem BVerfGE 78, 123
<126>; 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13, 14>; 96, 189 <203>). Denn der Rechtsstandpunkt,
den das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall eingenommen habe, sei unter
keinem rechtlichen Gesichtspunkt haltbar. Diese Rüge ist jedenfalls nicht
offensichtlich unbegründet; ihr wird im Rahmen der Verfassungsbeschwerde
nachzugehen sein.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschlüsse der
3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. September 2014 - 2 BvR 939/14 -, NVwZ
2014, S. 1511, 2 BvR 732/14 und 2 BvR 1795/14, jeweils juris sowie 2 BvR 991/14)
und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR , Tarakhel v.
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Schweiz, Urteil vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, S. 127) muss bei
der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern nach Italien vom Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der
italienischen Behörden eingeholt werden, dass die Familie in Italien eine gesicherte
Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde. Dem angegriffenen Beschluss
zufolge genügt es, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Verfahren
des einstweiligen Rechtsschutzes erklärt hat, dass es eine solche Zusicherung
einholen und ohne diese eine Überstellung nicht veranlassen werde. Das
Rechtsschutzbegehren könne auch ohne Überprüfung der im Einzelfall vorgelegten
Zusicherung allein im Hinblick auf eine derartige vom Bundesamt abgegebene
Erklärung zurückgewiesen werden.
Die
Beschwerdeführer
tragen
demgegenüber
vor,
Aufgabe
der
Verwaltungsgerichtsbarkeit sei es, in jedem konkreten Einzelfall die Rechtmäßigkeit
des Behördenhandelns zu überprüfen. Dazu gehöre auch die Prüfung, ob die auf den
zur Entscheidung stehenden Einzelfall bezogene Zusicherung der italienischen
Behörden den Anforderungen der Rechtsprechung an eine derartige Zusicherung
genüge. Insbesondere reiche es nicht aus, wenn eine Behörde pauschal behaupte,
sich nach Recht und Gesetz verhalten zu wollen.
Dies
bedarf
näherer
Überprüfung;
der
Ausgang
des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens erweist sich damit jedenfalls als offen.
3. Die danach gebotene Abwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.
Den Beschwerdeführern droht durch den Vollzug der Abschiebung ein schwerer und
nicht ohne weiteres wiedergutzumachender Nachteil. Demgegenüber wiegen
etwaige Nachteile, die durch den auf überschaubare Zeit verlängerten Aufenthalt der
Beschwerdeführer in Deutschland entstehen, weniger schwer.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Huber
Müller
Maidowski