Urteil des BVerfG vom 10.03.2004

verfassungsbeschwerde, streichung, behinderung, behinderter

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Michael Richter,
Freiherr-vom-Stein-Straße 24, 35041 Marburg -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 577/01 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P ...
gegen den Beschluss des Landgerichts Leipzig vom 7. März 2001 - 322-1/00 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 10. März 2004 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob einer blinden Person unter
Hinweis auf ihre Behinderung die Eignung für ein Schöffenamt in Strafsachen
abgesprochen werden darf.
I.
Der Beschwerdeführer ist blind. Nach einer mehrjährigen ehrenamtlichen
Richtertätigkeit in der Verwaltungs- und in der Sozialgerichtsbarkeit wurde er beim
Landgericht für die Geschäftsjahre 2001 bis 2004 zum Hilfsschöffen gewählt. Als das
Landgericht von seiner mangelnden Sehfähigkeit erfuhr, strich es ihn - gegen seinen
Antrag - gemäß §§ 52 Abs. 1 Nr. 2, 77 GVG, § 33 Nr. 4 GVG a. F. von der
Schöffenliste. Zur Begründung führte es unter Bezugnahme auf das Urteil des
Bundesgerichtshofs vom 17. Dezember 1987 (BGHSt 35, 164) aus, der
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Beschwerdeführer sei infolge eines körperlichen Gebrechens für ein Schöffenamt
beim Landgericht nicht geeignet. Ein Schöffe müsse ebenso wie ein Berufsrichter in
der Lage sein, alle ihm verfahrensrechtlich obliegenden Aufgaben zu erfüllen. Dazu
benötige er auch die Fähigkeit, die Vorgänge in der Hauptverhandlung umfassend
optisch wahrzunehmen. An einer Augenscheinseinnahme könne ein Blinder jedoch
nicht mitwirken. Zudem verlange der strafprozessuale Unmittelbarkeitsgrundsatz,
dass sich ein Schöffe einen eigenen auch optischen Eindruck von den
Verfahrensbeteiligten, insbesondere von ihren Reaktionen, ihrer Mimik und Gestik,
machen könne. Diese Erkenntnisse seien einem Blinden verschlossen und weder
durch
einen Augenscheinsgehilfen noch durch Übermittlung seitens der
Richterkollegen ersetzbar. Da die Strafprozessordnung die Tatsachenfeststellung und
Beweiswürdigung weitgehend in die Verantwortung des Tatrichters stelle und
insoweit nur eine beschränkte revisionsrechtliche Überprüfung vorsehe, müsse sie
die Fähigkeit eines Schöffen gewährleisten, sämtliche - auch optischen - Eindrücke
zu empfangen. Dementsprechend knüpfe § 33 Nr. 4 GVG a. F. die Eignung zum
Schöffenamt an körperliche Voraussetzungen, deren Fehlen die nachträgliche
Streichung eines Schöffen gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 2 GVG sachlich rechtfertige. Da
dem Beschwerdeführer die zur Ausübung des Schöffenamts notwendige Sehfähigkeit
fehle, verstoße seine Streichung von der Schöffenliste des Landgerichts nicht gegen
das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.
Mit
seiner
gegen
den
landgerichtlichen Beschluss
gerichteten
Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner
Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 33 Abs. 1 GG
und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Bei einer Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG berücksichtigenden
Auslegung des § 33 Nr. 4 GVG a. F. könne ihm trotz seiner Blindheit die zur
Ausübung des Schöffenamts erforderliche Eignung nicht abgesprochen werden. Die
i h m verbliebenen Restsinne ermöglichten ihm - insbesondere durch die
Wahrnehmung der Stimme und Sprechweise zu vernehmender Personen - ein
eigenes zutreffendes Urteil über Personen und Situationen, wie es von einem
Schöffen erwartet werde. Anderes gelte nur für Entscheidungen, die von einer nicht
ersetzbaren Augenscheinseinnahme abhingen.
Bundesregierung,
oberste
Bundesgerichte, Landesregierungen, juristische
Berufsverbände und der Verein Blinder Menschen in Studium und Beruf hatten
Gelegenheit zur Stellungnahme im Verfassungsbeschwerde-Verfahren.
II.
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Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
Die Entscheidung des Landgerichts, den Beschwerdeführer wegen seiner
Blindheit gemäß §§ 77, 52 Abs. 1 Nr. 2 GVG von der dort geführten Schöffenliste
z u streichen, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die dieser
Entscheidung zu Grunde liegende Auffassung, die mangelnde Sehfähigkeit des
Beschwerdeführers sei ein seine Eignung als Hilfsschöffe der Strafkammern
ausschließendes körperliches Gebrechen im Sinne der §§ 77 GVG, 33 Nr. 4 GVG a.
F., verletzt den Beschwerdeführer nicht in seinen Grundrechten oder
grundrechtsgleichen Rechten.
Insbesondere hat das Landgericht nicht gegen das Verbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2
GG, Behinderte zu benachteiligen, verstoßen. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG will den Schutz
des allgemeinen Gleichheitssatzes für bestimmte Personengruppen verstärken und
der staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vorgeben, als die Behinderung nicht
als Anknüpfungspunkt für eine benachteiligende Ungleichbehandlung dienen darf
(vgl. BVerfGE 85, 191 <206>; 96, 288 <302> sowie BTDrucks 12/6323, S. 12). Das
Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gilt jedoch nicht ohne jede
Einschränkung. Fehlen einer Person gerade wegen ihrer Behinderung bestimmte
körperliche Fähigkeiten, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung
eines Rechts sind, liegt in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das
Benachteiligungsverbot. Eine rechtliche Schlechterstellung Behinderter ist danach
zulässig, wenn behinderungsbezogene Besonderheiten es zwingend erfordern (vgl.
BTDrucks 12/6323, S. 12 sowie BVerfGE 85, 191 <207>; 99, 341 <357>).
Diesem Maßstab wird die angegriffene Entscheidung gerecht. Das Landgericht hat
dem Beschwerdeführer die Eignung für das Schöffenamt in einer Strafkammer nicht
deswegen abgesprochen, weil er behindert ist, sondern weil ihm eine bestimmte
körperliche Fähigkeit, die Sehfähigkeit, fehlt, die nach Ansicht des Gerichts
unverzichtbare Voraussetzung für die Ausübung eines solchen Amts ist. Die
Streichung des Beschwerdeführers von der Schöffenliste erfolgte also nicht ohne
sachlichen Grund. Vielmehr hat das Landgericht sie vorgenommen, um einer
behinderungsbedingten Besonderheit Rechnung zu tragen. Dabei betonen die
Gründe des angegriffenen Beschlusses, dass eine weniger einschneidende
Maßnahme als die Streichung des Beschwerdeführers von der Schöffenliste nicht zur
Verfügung gestanden habe, weil die Beeinträchtigung seiner Körperfunktionen im
Anwendungsbereich des strafprozessualen Unmittelbarkeitsgrundsatzes auch mittels
technischer oder persönlicher Hilfestellungen nicht ausreichend kompensierbar sei.
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Insoweit war die angegriffene Entscheidung aufgrund behinderungsbezogener
Besonderheiten zwingend erforderlich; für eine Laienrichtertätigkeit in anderen
Gerichtszweigen hat das Landgericht dem Beschwerdeführer die Eignung nicht
abgesprochen.
Auch der rechtliche Ausgangspunkt des Landgerichts, der strafprozessuale
Unmittelbarkeitsgrundsatz verlange es, dass sich jedes Mitglied des Spruchkörpers
selbst und unmittelbar einen - auch optischen - Eindruck von den
Verfahrensbeteiligten machen könne, ist von Verfassungs wegen nicht zu
beanstanden. Das Landgericht hat diese auch in der Literatur verbreitete Auffassung
(vgl. Wimmer, JZ 1953, S. 671; Schorn, JR 1954, S. 298 <299>; Eb. Schmidt, JZ
1979, S. 337 <340>; Fezer, NStZ 1987, S. 335 und NStZ 1988, S. 375) in den
Gründen seines Beschlusses nachvollziehbar begründet und sich dabei ergänzend
auf die umfangreiche Argumentation des Bundesgerichtshofs in dem Urteil vom 17.
Dezember 1987 (BGHSt 35, 164) bezogen. Sie ist - wie die 3. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts bereits in dem Beschluss vom 7. November
1989, 2 BvR 467/89 (Juris), ausgeführt hat - frei von Willkür. Ob die Annahme des
Landgerichts, Sehfähigkeit sei wegen des in der Strafprozessordnung geltenden
Unmittelbarkeitsgrundsatzes für die Ausübung des Schöffenamts in einer
Strafkammer unverzichtbar, aus rechtsstaatlichen Gründen geboten war, bedarf im
vorliegenden Fall keiner Klärung.
Die angegriffene Entscheidung genügt auch den vom Ersten Senat des
Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 8. Oktober 1997 (BVerfGE 96,
2 8 8 <310 ff.>) aus dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG
entwickelten verfahrensrechtlichen Anforderungen. Das in § 52 Abs. 1 Nr. 2 GVG
geregelte Streichungsverfahren schreibt eine förmliche richterliche Entscheidung
nach Anhörung des betroffenen Schöffen vor und ist damit geeignet, die Rechte
Behinderter aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verfahrensmäßig und organisatorisch
abzusichern. Das Landgericht hat dieses Verfahren auch eingehalten; insbesondere
hat es dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Zudem hat
das Landgericht die gemäß §§ 77, 33 Nr. 4 GVG a. F. für die Eignung eines Schöffen
der Strafkammern maßgeblichen Voraussetzungen sachgerecht beurteilt und seinen
Beschluss mit einer substantiellen Begründung versehen.
Nach allem verletzt der angegriffene Beschluss den Beschwerdeführer auch nicht in
seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG.
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Von einer weiter gehenden Begründung der Entscheidung wird gemäß § 93d Abs. 1
Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff