Urteil des BVerfG vom 31.07.2014

anwendung des rechts, summarisches verfahren, neue tatsache, verfassungsbeschwerde

- Bevollmächtigter:
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 571/14 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn U…
Rechtsanwalt Markus Kuhaupt,
Nordgraben 18 a, 48324 Sendenhorst -
gegen
a) den Beschluss des Landgerichts Münster
vom 31. Januar 2014 - 11 Qs-61 Js 628/13-37/13 -,
b) den Beschluss des Amtsgerichts Münster
vom 29. April 2013 - 32 Cs-61 Js 628/13-91/13 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Richter Landau
und die Richterinnen Kessal-Wulf,
König
am 31. Juli 2014 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Landgerichts Münster vom 31. Januar 2014 - 11 Qs-61 Js
628/13-37/13 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus
Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip des Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes. Er wird
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aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung
angenommen.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 10.000 € (in
Worten: zehntausend Euro) festgesetzt.
G r ü n d e :
A.
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Verwerfung eines
strafrechtlichen Wiederaufnahmeantrages.
I.
1. Gegen den Beschwerdeführer wurde mit Strafbefehl des Amtsgerichts
Halle/Westfalen vom 17. November 2011 wegen vorsätzlichen Fahrens ohne
Fahrerlaubnis (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) eine Geldstrafe in Höhe von 25 Tagessätzen
verhängt. Der Strafbefehl wurde rechtskräftig. Dem Beschwerdeführer wurde
vorgeworfen, am 17. August 2011 mit einem selbstfahrenden Radlader, Typ New
Holland P 958 ce, eine öffentliche Straße befahren zu haben, obwohl er
bewusstermaßen nicht im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis für ein solches
Fahrzeug gewesen sei.
Dieser Radlader wies ein zulässiges Gesamtgewicht von 18.500 kg und eine Breite
von 3 m auf. Im polizeilichen Schlussvermerk wurde ausgeführt, für Fahrten mit
diesem Fahrzeug im öffentlichen Verkehrsraum werde aufgrund des Gewichts die
Fahrerlaubnis der Klasse C benötigt. Der Beschwerdeführer - der im Besitz der
Fahrerlaubnisklasse B war - sei damit nicht berechtigt gewesen, das genannte
Kraftfahrzeug im öffentlichen Verkehrsraum zu führen. Feststellungen zur
Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeugs finden sich in der Strafakte nicht.
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2. Mit Anwaltsschriftsatz vom 28. November 2012 beantragte der Beschwerdeführer
- gestützt auf § 373a Abs. 2, § 359 Nr. 5 StPO - die Zulassung der
Verfahrenswiederaufnahme mit dem Ziel des Freispruchs. Die vom
Beschwerdeführer innegehabte Fahrerlaubnis der Klasse B schließe gemäß § 6 Abs.
3 Nr. 3 FeV (in der damals geltenden Fassung) Fahrzeuge der Klasse L ein. Die
Klasse L umfasse unter anderem selbstfahrende Arbeitsmaschinen mit einer durch
die Bauart bestimmten Höchstgeschwindigkeit von nicht mehr als 25 km/h. Bei dem
betreffenden Radlader habe es sich um eine solche selbstfahrende Arbeitsmaschine
gehandelt. Demgegenüber sei im Rahmen des Strafverfahrens allein auf das
zulässige Gesamtgewicht des Radladers von über 18.000 kg und dessen Breite von 3
m abgehoben und die Auffassung vertreten worden, dass das Fahrzeug der
Fahrerlaubnisklasse C zuzuordnen sei. Die Klasse L der Fahrerlaubnisverordnung
stelle indes nicht auf das zulässige Gesamtgewicht und die Breite des Fahrzeugs ab,
sondern allein auf die durch die Bauart bestimmte Höchstgeschwindigkeit von 25
km/h. Wie der Beschwerdeführer erst nach Rechtskraft des Strafbefehls erfahren
habe, überschreite die bauartbedingte Höchstgeschwindigkeit des seinerzeit
gefahrenen Radladers 25 km/h nicht, so dass dieser als selbstfahrende
Arbeitsmaschine im Sinne der Fahrerlaubnisklasse L einzuordnen sei.
Für diese Höchstgeschwindigkeit wurden zwei Zeugen benannt, ferner wurde die
Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt.
Weil sich weder in der Strafakte noch im Strafbefehl Angaben zur bauartbestimmten
Höchstgeschwindigkeit des Radladers gefunden hätten, handele es sich hierbei um
neue Beweismittel im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO.
3. Mit angegriffenem Beschluss vom 29. April 2013 verwarf das Amtsgericht Münster
den Wiederaufnahmeantrag als unzulässig. Die vorgetragenen Umstände - deren
Richtigkeit unterstellt - seien als eine unvollständige Prüfung der Rechtslage durch
das Amtsgericht Halle zu werten. Dieses habe den Sachverhalt dahingehend
rechtlich gewürdigt, dass der Beschwerdeführer zum Führen des Radladers nur
berechtigt gewesen wäre, wenn er über die Fahrerlaubnis Klasse C verfügt hätte. Das
Amtsgericht habe dabei verkannt, dass der Straftatbestand nur verwirklicht sei, wenn
der Radlader schneller als 25 km/h fahre. Insoweit seien die Feststellungen des
Amtsgerichts unvollständig und würden den Schuldspruch nicht tragen. Solches wäre
mit einem fristgerechten Einspruch anzugreifen gewesen. Eine Wiederaufnahme sei
nicht möglich; andernfalls stünde das Wiederaufnahmeverfahren einer nicht
fristgebundenen Revision gleich.
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4. Hiergegen wandte sich der Beschwerdeführer mit sofortiger Beschwerde vom 11.
Juni 2013. Die Frage der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit finde an keiner
Stelle der Strafakte Erwähnung. In diesem Zusammenhang gelte es zu
berücksichtigen, dass das Strafbefehlsverfahren als summarisches Verfahren
ausgestaltet sei, bei dem die den Schuldvorwurf begründenden Tatsachen nicht so
sorgfältig geprüft würden wie im Rahmen einer Hauptverhandlung, so dass ein
Strafbefehl möglicherweise auf weniger zuverlässigen Erkenntnisquellen beruhe und
es rechtsstaatlich geboten sei, sich aus den Akten aufdrängende, klar auf der Hand
liegende Fehler bei der Tatsachenfeststellung zu beachten. Einer im
Wiederaufnahmeverfahren vorgetragenen Tatsache könne nur dann die „Neuheit“ im
Sinne von § 359 Nr. 5 StPO abgesprochen werden, wenn sie im
Strafbefehlsverfahren Eingang in die Verfahrensakten und in den Text des
Strafbefehls selbst gefunden habe, weil ansonsten der verurteilte Betroffene im
Wiederaufnahmeverfahren rechtsschutzlos gestellt wäre. Daher müsse für das
Wiederaufnahmeverfahren davon ausgegangen werden, dass die Frage der
bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit nicht Gegenstand der Urteilsfindung
geworden sei.
5. Die sofortige Beschwerde wurde mit angegriffenem Beschluss des Landgerichts
Münster vom 31. Januar 2014 als unbegründet verworfen. Die Wiederaufnahme nach
§ 359 Nr. 5 StPO sei beschränkt auf Tatsachen oder Beweismittel, welche die dem
rechtskräftigen Urteil zugrunde liegende Tatsachenbasis in Frage stellten. Damit
seien lediglich solche Tatsachen gemeint, die Vorgänge, Verhältnisse oder Zustände
betreffen, die im rechtskräftigen Urteil beziehungsweise Strafbefehl explizit
festgestellt worden seien oder diesem zumindest zugrunde lägen. Keine neue
Tatsache sei demgegenüber die unrichtige Anwendung des Rechts und sei sie noch
so offensichtlich. Die vom Beschwerdeführer vorgetragene Tatsache der
bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h betreffe keinen durch das
Amtsgericht explizit festgestellten Umstand. Wie der Beschwerdeführer selbst
vorgetragen habe, finde sich dazu in der Strafakte nichts. Die Tatsache betreffe auch
sonst keinen dem Strafbefehl zugrunde liegenden Umstand; aus der Strafakte
ergäben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Höchstgeschwindigkeit für das
Amtsgericht bei seiner Entscheidung relevant gewesen sei. Das Fehlen von
Feststellungen weise vielmehr darauf hin, dass diese Frage nicht Gegenstand der
amtsrichterlichen Prüfung gewesen sei. Vor diesem Hintergrund betreffe die neu
vorgetragene Tatsache einen vom Amtsgericht - in Verkennung der Rechtslage - nicht
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berücksichtigten Umstand; die unrichtige Anwendung des Rechts genüge indes nicht
für eine Verfahrenswiederaufnahme. Infolgedessen komme es auf die angebotenen
Beweismittel nicht an.
II.
1. Mit der binnen Monatsfrist ab Zugang der Beschwerdeentscheidung
eingegangenen Verfassungsbeschwerde wird die Verletzung der Grundrechte des
Beschwerdeführers aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gerügt.
Zur Begründung wird - nach Darstellung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe -
ausgeführt, dass die Tatsache der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit des
Radladers von 25 km/h entgegen der Auffassung der Fachgerichte eine neue
Tatsache im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO darstelle, weil sich in der Strafakte keine
Anhaltspunkte für ihre Berücksichtigung im Ausgangsverfahren fänden. Vorgenannter
Umstand hätte zu einem Freispruch des Beschwerdeführers beziehungsweise zur
Ablehnung des Strafbefehlsantrages führen müssen, weil der Beschwerdeführer im
Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis der Klasse B gewesen sei. Die von den
Wiederaufnahmegerichten
angenommene
unvollständige
Sachverhalts-
/Tatsachenfeststellung könne nicht zu Lasten des Beschwerdeführers gehen.
Andernfalls wäre in den Fällen, in denen weder aus der Strafakte noch aus dem
Strafbefehl hervorgeht, dass ein bestimmter Umstand der Entscheidung zugrunde
gelegt worden ist, ein Wiederaufnahmeverfahren aussichtslos, was mit dem Ziel der
Erlangung eines gerechten Richterspruchs und dem Rechtsstaatsprinzip nicht
vereinbar sei. Es sei „mithin verfassungsrechtlich geboten, dass die der
Entscheidungsfindung
zugrunde
gelegten
Tatsachen
Eingang
in
die
Strafakte/Erwähnung in der Strafakte finden müssen“. Nicht unberücksichtigt dürfe
bleiben, dass es sich bei dem Strafbefehlsverfahren um ein summarisches Verfahren
handele, was eine möglicherweise weniger sorgfältige Prüfung und weniger
zuverlässige Erkenntnisse mit sich bringe. Entgegen der Auffassung der
Wiederaufnahmegerichte sei „nicht von einer unrichtigen Anwendung des Rechts
auszugehen“.
2. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat eine Stellungnahme
abgegeben und erachtet die Verfassungsbeschwerde für zulässig und aussichtsreich.
Die Fachgerichte hätten den Prüfungsgegenstand des Wiederaufnahmeantrages
verkürzt. Mit der Annahme eines rechtlichen Wertungsfehlers sei das Vorbringen des
Beschwerdeführers nicht ausgeschöpft worden. Vielmehr hätten die Fachgerichte
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offensichtliche Fehler der Tatsachenfeststellung beachten müssen und vor dem
Hintergrund der vom Beschwerdeführer benannten neuen Beweismittel eine
Sachprüfung nicht durch den Verweis auf eine vorangegangene fehlerhafte
Rechtsanwendung verweigern dürfen. Auf der daraus folgenden Verletzung des
Anspruchs des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren beruhe das Ergebnis der
von den Fachgerichten getroffenen Unzulässigkeitsentscheidung.
Das Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hatte Gelegenheit zur
Stellungnahme.
Die
Akten
des
Ausgangsverfahrens
haben
dem
Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen die
Ausgangsentscheidung des Amtsgerichts Münster wendet. Das Beschwerdegericht
hatte hinsichtlich des Verfahrensgegenstandes eine eigene umfassende Sachprüfung
vorzunehmen (§ 309 Abs. 2 StPO; dazu Meyer-Goßner, in: ders./Schmitt, StPO, 57.
Aufl. 2014, § 309 Rn. 3 f.). Damit ist die vorhergehende Entscheidung des
Amtsgerichts prozessual überholt (vgl. BVerfGK 10, 134 <138>; BVerfG, Beschluss
der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 27. September 2006 - 2 BvR 1844/06 -, juris,
Rn. 2).
C.
Soweit die Verfassungsbeschwerde im Übrigen zulässig ist, nimmt die Kammer sie
zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG
genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der
Verfassungsbeschwerde stattgebende Kammerentscheidung sind gegeben. Die
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht
bereits entschieden.
I.
1. Das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen
Strafverfahrens ist dazu bestimmt, den Konflikt zwischen den Grundsätzen der
materialen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit zu lösen, die sich beide
verfassungskräftig aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten (vgl. BVerfGE 22, 322
<329>). Demgemäß ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass im
Wiederaufnahmeverfahren zunächst die Zulässigkeit gemäß § 368 Abs. 1 StPO zu
prüfen ist, die bei der Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel (§
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359 Nr. 5 StPO) voraussetzt, dass diese geeignet sind, die Freisprechung des
Angeklagten oder - in Anwendung eines milderen Strafgesetzes - eine geringere
Bestrafung zu begründen (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 6. November 1974 - 2 BvR 407/74 -,
MDR 1975, S. 468 f.). Weicht das Wiederaufnahmegericht von den Grundsätzen des
Wiederaufnahmeverfahrens im Sinne einer wesentlichen Verschlechterung der
Chancen des Verurteilten auf Erlangung eines gerechten Richterspruchs ab, so
verfehlt es dessen Ziel, den Konflikt zwischen materialer Gerechtigkeit und
Rechtssicherheit angemessen zu lösen. Wird das Wiederaufnahmeverfahren - an
diesem Ziel gemessen - derart ineffektiv, so steht dies in Widerspruch zum
Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes und verletzt den Verurteilten in dessen
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, das ein Recht auf effektiven Rechtsschutz in sich
schließt (vgl. BVerfGE 53, 115 <127 f.>; Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1993 - 2 BvR 1746/91 -,
NJW 1993, S. 2735 f. und vom 7. September 1994 - 2 BvR 2093/93 -, NJW 1995, S.
2024).
2. Bei Strafbefehlen, die einem rechtskräftigen Urteil gleichstehen (§ 410 Abs. 3
StPO) und auf die die für die Wiederaufnahme geltenden Vorschriften (§§ 359 bis 373
StPO) entsprechend anzuwenden sind (§ 373a Abs. 2 StPO), ist hinsichtlich der
Beweiswürdigung und für die Beurteilung, ob neue Tatsachen und Beweismittel
vorliegen, auf die Aktenlage abzustellen. Die Bestimmung des § 373a Abs. 2 StPO,
wonach die Vorschriften der §§ 359 bis 373 StPO entsprechend anzuwenden sind,
lässt bei der Eignungsprüfung Raum, der Eigenart des Strafbefehlsverfahrens
angemessen Rechnung zu tragen. Das Strafbefehlsverfahren ist als summarisches
Verfahren ausgestaltet, so dass ein Strafbefehl möglicherweise auf weniger
zuverlässigen Erkenntnissen beruht (vgl. BVerfGE 65, 377 <384 f.>). Im
Wiederaufnahmeverfahren gegen einen Strafbefehl ist es daher rechtsstaatlich
geboten, sich aus den Akten aufdrängende, klar auf der Hand liegende Fehler bei der
Tatsachenfeststellung zu beachten (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Februar 1993 - 2 BvR 1746/91 -,
NJW 1993, S. 2735 f. m.w.N.).
3. Dabei hat die Kammer mit Beschluss vom 19. Juli 2002 (2 BvR 18/02, 2 BvR
76/02, StV 2003, S. 225 f.; auch Beschluss vom 14. September 2006 - 2 BvR 123/06,
2 BvR 429/06, 2 BvR 430/06 -, NJW 2007, S. 207 <208>) bereits festgestellt, dass als
Tatsachen im wiederaufnahmerechtlichen Sinne alle als existierend feststellbaren
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Vorgänge oder Zustände zu verstehen sind, die der Gegenwart oder der
Vergangenheit
zugehören.
Ob
eine
derartige
Tatsache
im
wiederaufnahmerechtlichen Sinne neu ist, beurteilt sich allein danach, ob das Gericht
sie bereits bei der Urteilsfindung verwertet hat. Neu ist damit grundsätzlich alles, was
der Überzeugungsbildung des Gerichts nicht zugrunde gelegt worden ist, auch wenn
es ihr hätte zugrunde gelegt werden können.
4. Ferner gebietet das Recht auf effektiven Rechtsschutz eine grundsätzlich
umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes (vgl.
BVerfGE 85, 337 <345>) sowie eine zureichende gerichtliche Sachaufklärung (vgl.
BVerfGE 103, 142 <161 ff.>).
II.
Nach diesen Maßstäben verletzt der Beschluss des Landgerichts den
Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in seiner durch das
Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) vermittelten Gewährleistung effektiven
Rechtsschutzes.
1. Dabei ist zunächst im Ausgangspunkt - auch für die verfassungsgerichtliche
Prüfung - die hier nicht beanstandete und vom Bundesverfassungsgericht überdies
hinzunehmende einfachrechtliche Rechtsauffassung (vgl. BVerfGE 74, 102 <127>; st.
Rspr.) zugrunde zu legen, dass die vom Beschwerdeführer innegehabte
Fahrerlaubnisklasse B durch den Einschluss der Klasse L zum Führen des
Radladers - dessen Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h unterstellt - berechtigt hat
und trotz dessen Gewichts keine Fahrerlaubnis der Klasse C notwendig war.
2. Demnach stellt sich vorliegend die Frage, ob das Amtsgericht im
Strafbefehlsverfahren die Fahrerlaubnisklasse L übersehen hat oder ob es
stillschweigend davon ausgegangen ist, dass der vom Beschwerdeführer geführte
Radlader nicht unter diese Fahrerlaubnisklasse fällt, weil aus der Akte nicht
hervorgeht, dass er bauartbedingt eine Höchstgeschwindigkeit von 25 km/h nicht
überschreiten konnte. Im ersten Fall läge ein Rechtsfehler vor, der die
Wiederaufnahme
nicht
rechtfertigt,
im
zweiten
Fall
dagegen
die
Nichtberücksichtigung einer entscheidungserheblichen Tatsache, auf die eine
Wiederaufnahme gestützt werden könnte. Hier ist das Landgericht allein aufgrund der
Aktenlage zu der Überzeugung gelangt, dass das Amtsgericht im
Strafbefehlsverfahren die Fahrerlaubnisklasse L übersehen hat und daher auch bei
Kenntnis der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit nicht zu einem anderen
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Ergebnis gelangt wäre. Dies folgert das Landgericht maßgeblich daraus, dass im
gesamten Verfahren keinerlei Feststellungen zu einer bauartbedingten
Höchstgeschwindigkeit getroffen wurden. Dieser Umstand allein schließt indes die
Möglichkeit nicht aus, dass das Amtsgericht im Strafbefehlsverfahren gerade
aufgrund dieser fehlenden Angaben davon ausgegangen sein könnte, die
Voraussetzungen der Fahrerlaubnisklasse L hätten nicht vorgelegen. Insoweit wäre
eine weitere Aufklärung durch freibeweisliche Einholung einer dienstlichen
Stellungnahme des den Strafbefehl erlassenden Richters am Amtsgericht möglich
und zur umfassenden Prüfung auch angezeigt gewesen (vgl. dazu Meyer-Goßner, in:
ders./Schmitt, StPO, 57. Aufl. 2014, § 368 Rn. 5; ferner den dem Beschluss der
Kammer vom 14. September 2006 – 2 BvR 123/06, 2 BvR 429/06, 2 BvR 430/06 -
zugrunde liegenden Verfahrensgang, juris, Rn. 7 ff. - in NJW 2007, S. 207 insoweit
nicht abgedruckt). Die vorschnelle Festlegung auf einen Rechtsanwendungsfehler
durch das Landgericht hat demgegenüber den Anspruch des Beschwerdeführers auf
erschöpfende Behandlung seines Antrages in verfassungsrechtlich zu
beanstandender Weise verkürzt.
III.
Der Beschluss des Landgerichts wird aufgehoben und die Sache dorthin
zurückverwiesen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG).
IV.
1. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des
Beschwerdeführers beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Weil die
Verfassungsbeschwerde in der Sache weitgehend Erfolg hat und deren nicht zur
Entscheidung angenommener Teil insoweit von untergeordneter Bedeutung ist, ist
die vollständige Auslagenerstattung angemessen (vgl. BVerfGE 86, 90 <122>).
2. Der nach § 37 Abs. 2 RVG festzusetzende Gegenstandswert für die anwaltliche
Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren beträgt mindestens 5.000 € und, wenn
- wie hier - die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Entscheidung der Kammer
Erfolg hat, in der Regel 10.000 €. Weder die objektive Bedeutung der Sache noch
Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit weisen Besonderheiten auf, die
zu einer Abweichung Anlass geben.
3. Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Landau
Kessal-Wulf
König