Urteil des BVerfG vom 21.11.2011

in verkehr bringen, pfand, eugh, europäischer gerichtshof

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Rolf Karpenstein,
in Sozietät Blume, Ritscher, Engler, Rega,
Gerhofstraße 38, 20354 Hamburg -
- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Heuking, Kühn, Lüer, Wojtek,
Partnerschaft von Rechtsanwälten,
Steuerberatern, Attorney-at-Law,
Unter den Linden 10, 10117 Berlin -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 516/09 -
- 2 BvR 535/09 -
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
I.
der Firma S... GmbH,
vertreten durch den Geschäftsführer P...,
gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. Januar 2009 - III ZR 233/07 -
- 2 BvR 516/09 -,
II.
der Firma R... GmbH & Co.,
vertreten durch den Geschäftsführer W...,
gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 22. Januar 2009 - III ZR 233/07 -
- 2 BvR 535/09 -
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Di Fabio,
Gerhardt
und die Richterin Hermanns
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gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung
vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473 ) am 21. November 2011 einstimmig
beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden
und nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerden betreffen eine unterbliebene Vorlage an den
Gerichtshof
der
Europäischen Gemeinschaften (Europäischer Gerichtshof)
hinsichtlich der Auslegung des unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs.
I.
Die Beschwerdeführerinnen nehmen die Bundesrepublik Deutschland auf
Schadensersatz
nach
den Grundsätzen
des
unionsrechtlichen
Staatshaftungsanspruchs in Anspruch. Dies steht im Zusammenhang mit der
Inkraftsetzung der Pfanderhebungs- und Rücknahmepflicht nach der Verordnung über
die Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen vom 21. August 1998
(VerpackV 1998 < BGBl I S. 2379 >, geändert durch Art. 8 des Gesetzes zur
Umstellung der umweltrechtlichen Vorschriften auf den Euro vom 9. September 2001
< BGBl I S. 2331, 2332 >) zum 1. Januar 2003.
1.
Die
Beschwerdeführerinnen
sind
Hersteller und
Abfüller
von
Erfrischungsgetränken
mit
Sitz
in Österreich, die ihre Produkte in
Einwegverpackungen in Verkehr bringen und einen erheblichen Teil ihrer Umsätze
mit dem Export ihrer Produkte nach Deutschland erzielen. Sie waren hinsichtlich ihrer
Verpackungen an das Rücknahme- und Entsorgungssystem „Duales System
Deutschland“ angeschlossen und deshalb von der grundsätzlich nach § 8 Abs. 1
VerpackV 1998 bestehenden Pfanderhebungspflicht für Einwegverpackungen befreit
(§ 9 Abs. 1 in Verbindung mit § 6 Abs. 3 VerpackV 1998).
Die Befreiung von der Pfanderhebungspflicht stand jedoch unter dem Vorbehalt,
dass der Gesamtanteil der in Mehrwegverpackungen abgefüllten Getränke
bundesweit die Quote von 72 % nicht wiederholt unterschritt (§ 9 Abs. 2 VerpackV
1998). Nach einer Bekanntmachung der Bundesregierung vom 28. Januar 1999 war
d e r Mehrweganteil des Referenzjahres 1997 in den Getränkebereichen
Mineralwasser, Bier und kohlensäurehaltige Erfrischungsgetränke bundesweit zum
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ersten Mal unter 72 % gesunken. Da dieser Anteil in zwei aufeinanderfolgenden
Erhebungszeiträumen unter 72 % blieb, gab die Bundesregierung am 2. Juli 2002 die
Nacherhebungsergebnisse im Bundesanzeiger bekannt und ordnete die sofortige
Vollziehung der Bekanntmachung an. Mit dieser Bekanntmachung war nach § 9
Abs. 2 VerpackV 1998 die Rechtsfolge verbunden, dass ab 1. Januar 2003 die
Berechtigung nach § 6 Abs. 3 VerpackV 1998 als widerrufen galt, die
Einwegverpackungen über das Duale System Deutschland zu sammeln und zu
entsorgen, und dass die Pfanderhebungspflicht nach § 8 Abs. 1 VerpackV 1998
wiederauflebte.
Die Bundesrepublik Deutschland führte ab dem Frühjahr 2002 Gespräche mit den
beteiligten Wirtschaftskreisen über die Einrichtung eines ab 2003 wirksamen
einheitlichen Pfand- und Rücknahmesystems für Einwegverpackungen, die allerdings
zu keinem Erfolg führten. Sie forderte daraufhin am 20. Dezember 2002 die für den
Vollzug zuständigen Länder auf, vom 1. Januar bis 1. Oktober 2003 eine nur
eingeschränkte Erfüllung der Pfanderhebungs- und Rücknahmepflichten zu dulden,
indem das Pfand zunächst nur vom Endabnehmer erhoben und nur am Ort des
Einkaufs wiedererstattet werden sollte. Obwohl die beteiligten Wirtschaftskreise im
Gegenzug den Aufbau eines einheitlichen Pfandsystems zum 1. Oktober 2003
zugesagt hatten, gelang die Einführung eines solchen Systems bis zu diesem
Zeitpunkt nicht. An dessen Stelle etablierten sich ab 2003 verschiedene offene Pfand-
und Rücknahmesysteme, die nicht miteinander kompatibel und zum Teil auch nur
regional tätig waren. Einige große Handelsketten richteten sogenannte Insellösungen
ein, die auf der Grundlage von § 6 Abs. 1 Satz 4 VerpackV 1998 eine Pfand- und
Rücknahmepflicht nur für die von ihnen vertriebenen Produkte enthielten. Darüber
hinaus entschlossen sich andere Teile des Handels, bestimmte Getränke in
Einwegverpackungen aus ihrem Sortiment zu entnehmen.
Durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Verpackungsverordnung vom 24. Mai
2005 (VerpackV 2005 ) wurden unter anderem die §§ 8, 9 neu
gefasst. Danach ergibt sich die Verpflichtung zur Pfanderhebung für die Vertreiber
von Einweggetränkeverpackungen unmittelbar aus der Verordnung, ohne dass es
dabei auf bestimmte Anteile ankommt, die in Mehrwegverpackungen vertrieben
werden. Zugleich werden Insellösungen mit Wirkung zum 1. Mai 2006 nicht mehr
zugelassen (§ 8 Abs. 1 Satz 7 VerpackV 2005). Seit diesem Zeitpunkt betreibt die von
den
beteiligten Wirtschaftskreisen gegründete Deutsche Pfandsystem GmbH
bundesweit ein einheitliches Pfandclearingsystem für Einweggetränkeverpackungen.
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2. Die Beschwerdeführerinnen erhoben im Mai 2002 erfolglos Klage gegen das
Land Baden-Württemberg vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart, mit der sie im
Wesentlichen festgestellt wissen wollten, dass sie bei Beteiligung am Dualen System
Deutschland nicht verpflichtet seien, auf ihre in Einwegverpackungen in den Verkehr
gebrachten Getränke ein Pfand zu erheben und die gebrauchten Verpackungen
gegen Erstattung des Pfandes unentgeltlich zurückzunehmen.
Auf Vorlage des Verwaltungsgerichts Stuttgart entschied der Europäische
Gerichtshof durch Urteil vom 14. Dezember 2004, dass Art. 7 der Richtlinie 94/62/EG
des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 1994 über
Verpackungen und Verpackungsabfälle (Verpackungsrichtlinie ;
geändert durch die Richtlinie 2004/12/EG des Europäischen Parlaments und des
Rates vom 11. Februar 2004 zur Änderung der Richtlinie 94/62/EG über
Verpackungen und Verpackungsabfälle ) und Art. 28 EGV (jetzt
Art. 34 AEUV) einer nationalen Regelung wie der nach den § 8 Abs. 1 und § 9 Abs. 2
VerpackV
1998
entgegenstünden,
wenn
diese
die Ersetzung eines
flächendeckenden Systems der Sammlung von Verpackungsabfällen durch ein
Pfand- und Rücknahmesystem vorsehe, ohne dass die betroffenen Hersteller und
Vertreiber über eine angemessene Übergangsfrist verfügten, um sich darauf
einzustellen, und ohne dass sichergestellt sei, dass sie sich im Zeitpunkt der
Umstellung des Systems der Bewirtschaftung von Verpackungsabfall tatsächlich an
einem arbeitsfähigen System beteiligen könnten (EuGH, Urteil vom 14. Dezember
2004, Rs. C-309/02, Radlberger und Spitz, Slg. 2004, S. I-11763, Rn. 83).
3. Die Vereinbarkeit der VerpackV 1998 mit Art. 28 EGV war auch Gegenstand
eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland vor dem
Europäischen Gerichtshof. Der Europäische Gerichtshof stellte - ebenfalls durch
Urteil vom 14. Dezember 2004 - fest, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch
gegen Art. 5 der Verpackungsrichtlinie in Verbindung mit Art. 28 EGV und Art. 3 in
Verbindung mit Anhang II Nr. 2 Buchstabe d der Richtlinie 80/777/EWG des Rates
vom 15. Juli 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über
die Gewinnung von und den Handel mit natürlichen Mineralwässern (ABl Nr. L 229/1)
verstoßen habe, dass sie mit den § 8 Abs. 1 und § 9 Abs. 2 VerpackV 1998 ein
System zur Wiederverwendung von Verpackungen für Produkte eingeführt habe, die
nach der Richtlinie 80/777/EWG an der Quelle abzuführen seien (Rs. C-463/01,
Kommission/Deutschland, Slg. 2004, S. I-11705 Rn. 84). Die in § 9 Abs. 2 VerpackV
1998 vorgesehene Frist von sechs Monaten zwischen der Bekanntmachung, dass ein
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Pfand- und Rücknahmesystem einzuführen sei, und dem Inkrafttreten dieses Systems
reiche nicht aus, um es den Herstellern natürlicher Mineralwässer zu ermöglichen,
ihre Produktion und ihre Bewirtschaftung der Einwegverpackungsabfälle an das neue
System anzupassen, da dieses System sofort einzuführen sei (EuGH, Urteil vom
14. Dezember 2004, Rs. C-463/01, a.a.O., Rn. 78 ff.).
4. Im Ausgangsverfahren machten die Beschwerdeführerinnen geltend, die
Inkraftsetzung der Pflichtpfandregelung zum 1. Januar 2003 habe „offenkundig und
erheblich“ gegen Gemeinschaftsrecht, insbesondere gegen Art. 7 Abs. 1 der
Verpackungsrichtlinie, verstoßen. Ihnen sei ein erheblicher Schaden entstanden, da
sie einerseits wegen der Verwendung von Einwegverpackungen in beträchtlichem
Ausmaß von der Auslistung ihrer Produkte durch den deutschen Handel betroffen
gewesen seien und es ihnen andererseits mangels eines flächendeckenden Systems
zur Erfüllung der Pfanderhebungs- und Rücknahmepflicht nicht möglich gewesen sei,
sich an einem solchen System zu beteiligen. Die zuletzt auf Zahlung von
1.857.107,50 € für die Beschwerdeführerin zu I. und von 7.677.999 € für die
Beschwerdeführerin zu II. jeweils mit Zinsen gerichteten Klagen hatten in den
Vorinstanzen keinen Erfolg. Die gegen das Urteil des Oberlandesgericht Köln vom
9. August 2007 (7 U 147/06, NVwZ 2008, S. 468 ff.) gerichteten Revisionen der
Beschwerdeführerinnen
wies
der Bundesgerichtshof mit dem durch die
Verfassungsbeschwerden angegriffenen Urteil vom 22. Januar 2009 (NJW 2009,
S. 2534 ff.) als unbegründet zurück.
a) Das Oberlandesgericht gehe zutreffend davon aus, dass vorliegend eine einfache
Verletzung des Gemeinschaftsrechts zur Annahme eines hinreichend qualifizierten
Verstoßes nicht ausreiche. Der Bundesrepublik Deutschland sei bei der Wahl der
Mittel, um ihr richtlinienkonformes Ziel der Förderung von wiederverwendbaren
Verpackungen im Sinne des Art. 5 der Verpackungsrichtlinie zu erreichen, ein weiter
Gestaltungsspielraum verblieben. Die Verpackungsrichtlinie treffe keine näheren
Regelungen über die Organisation oder Ausgestaltung von Systemen zur Förderung
von wiederverwendbaren Verpackungen (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2004,
Rs. C-309/02, a.a.O., Rn. 55).
b) Es sei weiter nicht rechtsfehlerhaft, dass das Oberlandesgericht einen
erheblichen Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen das Gemeinschaftsrecht
verneint habe. Soweit der Europäische Gerichtshof seine Entscheidungen auf die
Notwendigkeit einer angemessenen Übergangsfrist und der Sicherstellung eines
arbeitsfähigen Systems im Zeitpunkt der Umstellung des bisherigen Systems der
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Bewirtschaftung von Verpackungsabfall stütze, sei nicht ersichtlich, dass diese
Gesichtspunkte in den vorausgegangenen rechtlichen Auseinandersetzungen eine
Rolle gespielt hätten. Der Senat trete der Wertung des Oberlandesgerichts bei, dass
der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Übergangsfrist, die bis zu den
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs nicht thematisiert worden sei, nur ein
geringer Vorwurf zu machen sei. Dass die Bundesrepublik Deutschland zur
Vermeidung von Bürokratie und zusätzlichen Kosten auf die Selbstregulierung der
betroffenen Wirtschaftskreise vertraut habe, könne nicht als erheblicher Verstoß
gegen das Gemeinschaftsrecht gewertet werden. Auch wenn sich die Bundesrepublik
Deutschland damit ihrer Erfüllungsverantwortlichkeit nicht habe entledigen können,
sei es doch gemeinschaftsrechtlich unbedenklich gewesen, Herstellern und
Vertreibern die Einführung eines funktionierenden Systems zu überlassen, so dass
diese die Rücknahme der Verpackungen, die Erstattung des Pfandes und den
eventuellen Ausgleich der Beträge unter den Vertreibern organisieren sollten (vgl.
EuGH, Urteil vom 14. Dezember 2004, Rs. C-309/02, a.a.O., Rn. 80).
c) Der Senat trete dem Oberlandesgericht auch darin bei, dass es an einem
offenkundigen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht fehle. Es sei nicht ersichtlich,
dass die Bundesrepublik Deutschland die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs offenkundig verkannt habe. Es sei ein Sachgebiet betroffen, auf dem
klare gemeinschaftsrechtliche Vorgaben in Form einer eindeutigen Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs bis zu seinen Entscheidungen vom 14. Dezember
2004 gefehlt hätten. Unter diesen Gesichtspunkten sei ein qualifizierter Verstoß
gegen das Gemeinschaftsrecht regelmäßig zu verneinen. Gegen einen offenkundigen
Verstoß spreche auch der Umstand, dass nationale Gerichte vor und nach Einführung
des Pfand- und Rücknahmesystems wiederholt die Gemeinschaftskonformität der
beanstandeten Regelungen bekräftigt hätten.
d) Die Klage habe auch hinsichtlich der im Jahre 2005 entstandenen Schäden
keinen Erfolg. Zwar sei ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dann als
offenkundig zu qualifizieren, wenn er trotz eines Urteils, aus dem sich die
Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergebe, fortbestanden habe. Ein solcher
Fall liege indes nicht vor. Feststellungen über die Gemeinschaftsrechtskonformität der
i m Zeitpunkt der Urteile etablierten Rücknahmesysteme seien den Urteilen ebenso
wenig zu entnehmen wie eine eindeutige Festlegung, ob das System der
Insellösungen allein oder gemeinsam mit den parallel operierenden offenen
Rücknahmesystemen gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen genügt habe.
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II.
Die Beschwerdeführerinnen sehen sich durch das angegriffene Urteil des
Bundesgerichtshofs in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG verletzt. Die Beschwerdeführerin zu I. behauptet, dass der
Bundesgerichtshof
nicht
ansatzweise
in Erwägung gezogen habe, die
entscheidungserhebliche Frage, ob der Verstoß gegen Art. 28 EGV und Art. 7 der
Verpackungsrichtlinie „hinreichend qualifiziert“ sei, dem Europäischen Gerichtshof
vorzulegen, obwohl er bei der Auslegung und Anwendung gemeinschaftsrechtlicher
Tatbestandsmerkmale grundsätzlich zur Vorlage verpflichtet sei.
Beide
Beschwerdeführerinnen
machen
außerdem geltend, dass der
Bundesgerichtshof bewusst von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
z u r entscheidungserheblichen Frage abgewichen sei. Es sei ständige
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, dass ein Verstoß gegen
Gemeinschaftsrecht hinreichend qualifiziert sei, wenn der Mitgliedstaat innerhalb der
Umsetzungsfrist keine Maßnahmen zur Umsetzung der einschlägigen
Richtlinienbestimmung treffe und wenn der Ermessenspielraum des Staates
erheblich oder gar auf Null reduziert sei. Der Bundesgerichtshof weiche auch von der
ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ab, dass ein Verstoß
immer hinreichend qualifiziert sei, wenn der Gerichtshof die einschlägigen Fragen
-
wie vorliegend - bereits entschieden habe. Schließlich bringen die
Beschwerdeführerinnen vor, der Bundesgerichtshof habe seinen Beurteilungsrahmen
in unvertretbarer Weise überschritten. Die Auffassung, die Einleitung eines
Vertragsverletzungsverfahrens der Kommission gegen Deutschland genüge nicht, um
die unstreitige Verletzung von Art. 28 EGV und Art. 7 der Verpackungsrichtlinie als
hinreichend qualifiziert zu beurteilen, sei offenkundig unrichtig.
III.
Die Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen. Die
Annahmevoraussetzungen nach § 93a Abs. 2 BVerfGG sind nicht erfüllt. Den
Verfassungsbeschwerden kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu, da die Frage
der Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch unterbliebene Vorlagen an den
Europäischen Gerichtshof in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
hinreichend geklärt ist (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 ff.>; 126, 286 <315 ff.>). Die
Annahme der Verfassungsbeschwerden ist - mangels hinreichender Aussicht auf
Erfolg - auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG bezeichneten
Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <25 f.>).
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1.
Obwohl
die
Beschwerdeführerinnen
die Einleitung
eines
Vorabentscheidungsverfahrens im Revisionsverfahren nicht ausdrücklich angeregt
haben, steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden der in § 90 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG zum Ausdruck kommende Grundsatz der Subsidiarität nicht entgegen.
a) Nach diesem Grundsatz müssen die Beschwerdeführerinnen zwar über das
Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinn hinaus alle nach Lage der
Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen, um eine
Korrektur der geltend gemachten Verletzungen von Grundrechten und
grundrechtsgleichen Rechten zu erwirken oder eine Verletzung von Grundrechten
und grundrechtsgleichen Rechten zu verhindern (vgl. BVerfGE 73, 322 <325>; 81, 22
< 2 7 > ; 95,
163 <171>).
Eine Abhilfemöglichkeit
im
Sinne
des
Subsidiaritätsgrundsatzes besteht nicht nur dann, wenn der Erfolg vorher feststeht;
vielmehr ist jede Möglichkeit, der Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen
Verfahren abzuhelfen, zu nutzen, wenn ihr Erfolg zumindest möglich erscheint (vgl.
BVerfGE 68, 376 <380 f.>; 70, 180 <185 f.>).
b) Die Beschwerdeführerinnen waren vorliegend jedoch nicht gehalten, im
Revisionsverfahren eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof anzuregen.
Einem Beschwerdeführer obliegt es nicht grundsätzlich, sondern nur in bestimmten
Verfahrenskonstellationen, die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens
anzuregen.
So
muss
ein Beschwerdeführer in der Begründung einer
Nichtzulassungsbeschwerde darauf hinweisen, dass sich aus seiner Sicht die
Notwendigkeit einer Rechtsmittelzulassung aus der Pflicht des letztinstanzlichen
Rechtsmittelgerichts ergibt, dem Europäischen Gerichtshof Fragen zur Auslegung
des Unionsrechts vorzulegen (BVerfGK 13, 418 <426>; offenlassend noch BVerfGK
8, 280 <282>). Denn eine Rechtssache hat immer dann grundsätzliche Bedeutung,
wenn die Notwendigkeit einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof in Rede
steht (vgl. BVerfGK 13, 418 <425> m.w.N.). Vorliegend befanden sich die
Beschwerdeführerinnen jedoch bereits vor dem letztinstanzlichen Gericht, das bei
entscheidungserheblichen Gültigkeits- oder Auslegungszweifeln nach Art. 267 Abs. 3
AEUV von Amts wegen zur Vorlage verpflichtet ist.
2. Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. Das angegriffene Urteil des
Bundesgerichtshofs hat die Beschwerdeführerinnen nicht entgegen Art. 101 Abs. 1
Satz 2 GG ihrem gesetzlichem Richter entzogen.
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a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der
Europäische Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Unterlässt es ein deutsches Gericht, ein Vorabentscheidungsverfahren an den
Europäischen Gerichtshof zu stellen, obwohl es unionsrechtlich dazu verpflichtet ist,
werden die Rechtsschutzsuchenden des Ausgangsverfahrens ihrem gesetzlichen
Richter entzogen ( BVerfGE 73, 339 <366 ff.>; 75, 223 <233 ff.>; 82, 159 <192 ff.>;
126, 286 <315 ff.>). Allerdings stellt nicht jede Verletzung der sich aus Art. 267 Abs. 3
AEUV ergebenden Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar.
D a s Bundesverfassungsgericht beanstandet die Auslegung und Anwendung von
Zuständigkeitsnormen nur, wenn sie bei verständiger Würdigung der das
Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen oder
offensichtlich unhaltbar sind. Dieser Willkürmaßstab wird auch angelegt, wenn eine
Verletzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV in Rede steht ( BVerfGE 82, 159 <194 f.>; 126,
286 <316>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 - 1 BvR
1741/09 -, NJW 2011, S. 1427 <1431>).
Im Rahmen dieser Willkürkontrolle haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen
herausgebildet, in denen die Vorlagepflichtverletzung zu einer Verletzung des Rechts
auf den gesetzlichen Richter führt. Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV wird
danach insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein
letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach
bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt
nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen
Beantwortung der Frage hegt (Fallgruppe der grundsätzlichen Verkennung der
Vorlagepflicht). Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche
Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und
gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (Fallgruppe des bewussten Abweichens
ohne Vorlagebereitschaft).
Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine
vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise
noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit,
wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche
Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden
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Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Fallgruppe der
Unvollständigkeit der Rechtsprechung) (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286
<316 f.> ; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 25. Januar 2011 - 1 BvR
1741/09 -, NJW 2011, S. 1427 <1431>). Letzteres kann nach der ständigen
Rechtsprechung des Zweiten Senats (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 126, 286 <317> )
insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der
entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht
vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind. Zu verneinen ist in Fällen der
Unvollständigkeit der Rechtsprechung ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
deshalb bereits dann, wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in
zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat.
b) Gemessen an diesem Maßstab liegt keine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG durch das angegriffene Urteil vor.
aa) Der Bundesgerichtshof hat die Vorlagepflicht nicht grundsätzlich verkannt.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin zu I. sind die
letztinstanzlichen Hauptsachegerichte der Mitgliedstaaten bei der Auslegung und
A n w e n d u n g unionsrechtlicher Tatbestandsmerkmale des unionsrechtlichen
Staatshaftungsanspruchs nicht grundsätzlich zur Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV
verpflichtet. Sie sind vielmehr zunächst verpflichtet, in den bei ihnen anhängigen
Verfahren das vorrangige Unionsrecht in eigener Verantwortung auszulegen und
anzuwenden (vgl. für den unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruch nur EuGH, Urteil
vom 1. Juni 1999, Rs. C-302/97, Konle, Slg. 1999, S. I-3099 Rn. 59). Eine
Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht nach der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs nur dann, wenn die im Ausgangsverfahren aufgeworfenen
Auslegungsfragen nicht bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer
Vorabentscheidung
gewesen
sind,
wenn
nicht bereits eine gesicherte
Rechtsprechung vorliegt, durch die die Rechtsfragen gelöst sind, oder wenn die
richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig ist, dass keinerlei
Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Fragen bleibt
(vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, Rs. 283/81, CILFIT, Slg. 1982, S. 3415
Rn. 13 ff.).
Die Beschwerdeführerin zu I. legt nicht dar, dass der Bundesgerichtshof Zweifel
hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Auslegung und Anwendung des
unionsrechtlichen Staatshaftungsanspruchs hatte, so dass die Fallgruppe der
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grundsätzlichen Verkennung der Vorlagepflicht aus diesem Grund nicht erfüllt ist.
bb) Darüber hinaus ist der Bundesgerichtshof auch nicht bewusst von der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abgewichen, ohne vorzulegen.
Indem die Beschwerdeführerinnen behaupten, dass der Bundesgerichtshof die
Leitlinien, die der Europäische Gerichtshof zur Bestimmung eines „hinreichend
qualifizierten“ Verstoßes festgelegt habe, nicht hinreichend berücksichtigt habe,
verkennen sie, dass der Bundesgerichtshof die von den Beschwerdeführerinnen
angeführten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs angewendet hat. Der
Umstand allein, dass der Bundesgerichtshof bei der Subsumtion des Sachverhalts
unter die in diesen Entscheidungen enthaltenen Leitlinien zu einem anderen
Ergebnis als die Beschwerdeführerinnen gekommen ist, begründet noch kein
Abweichen von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hinzukommen
müsste vielmehr, dass die Erwägungen, die der Bundesgerichtshof dabei angestellt
hat, nicht mehr vertretbar sind. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall.
(1) Soweit die Beschwerdeführerin zu I. geltend macht, die Bundesrepublik
Deutschland habe innerhalb der Umsetzungsfrist keine Maßnahmen getroffen, um
das durch die Verpackungsrichtlinie verfolgte Ziel zu erreichen, vermag sie bereits
nicht darzulegen, dass die Bundesrepublik Deutschland untätig geblieben ist. Der
Bundesgerichtshof stellt darauf ab, dass die Bundesrepublik Deutschland zunächst
auf die Selbstregulierung der betroffenen Wirtschaftskreise habe vertrauen dürfen.
Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs den Herstellern und Vertreibern die Einführung eines Pfand- und
Rücknahmesystems nur überlassen kann, wenn er gleichzeitig sicherstellt, dass sich
zum Zeitpunkt der Umstellung des Systems alle betroffenen Hersteller und Vertreiber
tatsächlich an einem arbeitsfähigen System beteiligen können (vgl. EuGH, Urteil vom
14. Dezember 2004, Rs. C-309/02, a.a.O., Rn. 80), lässt allenfalls den Schluss zu,
dass die Bundesrepublik Deutschland eine fehlerhafte Maßnahme getroffen hat, nicht
aber, dass sie untätig geblieben ist.
(2) Soweit beide Beschwerdeführerinnen darauf abstellen, dass Art. 7 der
Verpackungsrichtlinie hinsichtlich der zeitlichen Komponente klar und eindeutig
gewesen sei und für die Frage der zeitgleichen Einrichtung eines arbeitsfähigen
Rücknahmesystems mit der Pfandpflicht und der Gewährung einer ausreichenden
Übergangsfrist eine Ermessensreduzierung auf Null bestanden habe, verkennen sie,
dass die Vereinbarkeit der in der VerpackV 1998 normierten Pfandpflicht auf
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Einwegverpackungen mit dem Unionsrecht vor Erlass der Urteile des Europäischen
Gerichtshofs vom 14. Dezember 2004 (Rs. C-309/02, a.a.O.; Rs. C-463/01, a.a.O.) in
Rechtsprechung und Literatur kontrovers diskutiert wurde (vgl. Fischer/Arndt,
Kommentar zur Verpackungsverordnung, 2. Aufl. 2007, § 8 Rn. 121 m.w.N.). Erst mit
Erlass des Urteils vom 14. Dezember 2004 in der Rechtssache C-463/01 stand fest,
dass sechs Monate nicht genügen, damit sich die betroffenen Hersteller und
Vertreiber auf ein neues Pfand- und Rücknahmesystem einstellen und dieses
errichten können (a.a.O., Rn. 78 ff.). Es ist vertretbar, die Offenkundigkeit eines
Verstoßes gegen Unionsrecht zu verneinen, wenn die Anforderungen einer Richtlinie
erst
durch den Europäischen Gerichtshof festgestellt werden müssen (vgl.
Frenz/Götzkes, EuR 2009, S. 622 <630> unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom
30. September 2003, Rs. C-224/01, Köbler, Slg. 2003, S. I-10239 Rn. 121; anders
Koenig, EWS 2009, S. 249 <250 f.>).
(3) Soweit beide Beschwerdeführerinnen vorbringen, dass der Bundesgerichtshof
insoweit von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abgewichen sei,
indem er den Verstoß gegen Unionsrecht selbst ab dem Zeitpunkt der Urteile des
Europäischen Gerichtshofs vom 14. Dezember 2004 (Rs. C-309/02, a.a.O.; Rs. C-
463/01, a.a.O.) nicht als hinreichend qualifiziert angesehen habe, setzen sie sich
nicht hinreichend mit der Argumentation des Bundesgerichtshofs auseinander. Der
Bundesgerichtshof hat ausgeführt, dass die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs, wonach ein Verstoß gegen Unionsrecht als offenkundig zu qualifizieren
sei, wenn er trotz eines Urteils des Europäischen Gerichtshofs, aus dem sich die
Pflichtwidrigkeit des fraglichen Verhaltens ergebe, fortbestanden habe, auf den
vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Der nicht von vornherein willkürlichen
Argumentation des Bundesgerichtshofs, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs
vom 14. Dezember 2004 (Rs. C-309/02, a.a.O.; Rs. C-463/01, a.a.O.) hätten keine
Feststellungen über die Unionsrechtskonformität der im Zeitpunkt ihres Erlasses
etablierten, parallel operierenden offenen Rücknahmesysteme getroffen, setzen die
Beschwerdeführerinnen nichts entgegen.
cc) Schließlich hätte der Bundesgerichtshof auch nicht wegen Unvollständigkeit der
Rechtsprechung
eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs
herbeiführen müssen. Wie bereits dargelegt, hat er sich mit der Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs zu den Voraussetzungen des unionsrechtlichen
Staatshaftungsanspruchs auseinandergesetzt und diese auf den vorliegenden Fall
übertragen. Unter der Annahme, dass der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich
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der Übergangsfrist nur ein geringer Vorwurf zu machen sei, hat er die
entscheidungserhebliche Frage, ob der mögliche Verstoß gegen Art. 7 der
Verpackungsrichtlinie und Art. 28 EGV hinreichend qualifiziert war, in vertretbarer
Weise verneint.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Di Fabio
Gerhardt
Hermanns