Urteil des BVerfG vom 29.01.2015

Bei Anordnung der Durchsuchung bei Berufsgeheimnisträgern gelten für die Verhältnismäßigkeit besondere Anforderungen

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 497/12 -
- 2 BvR 498/12 -
- 2 BvR 499/12 -
- 2 BvR 1054/12 -
IM NAMEN DES VOLKES
In den Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerden
1) der R …,
1. gegen
a)
den Beschluss des Landgerichts Stuttgart
vom 1. Februar 2012 - 16 Qs 94/11 und 16 Qs 101/11 -,
b)
die Durchsuchung vom 7. November 2011,
c)
den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts
Stuttgart vom 18. Oktober 2011 - 29 Gs 2222/11 -
- 2 BvR 497/12 - ,
2. gegen
a)
den Beschluss des Landgerichts Stuttgart
vom 2. Mai 2012 - 18 Qs 27/12 -,
b)
den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart
vom 18. April 2012 - 29 Gs 837/12 -,
c)
die Durchsuchung und Beschlagnahme
vom 7. November 2011,
d)
den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart
vom 18. Oktober 2011 - 29 Gs 2222/11 -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 2 BvR 1054 /12 - ,
2) des Herrn H …,
gegen
a)
den Beschluss des Landgerichts Stuttgart
vom 1. März 2012 - 9 Qs 13/12 -,
b)
den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart
vom 7. Februar 2012 - 29 Gs 275/12 -,
c)
den Beschluss des Landgerichts Stuttgart
vom 1. Februar 2012 - 16 Qs 94/11 und 16 Qs 101/11 -,
d)
die Durchsuchung und Beschlagnahme
vom 7. November 2011,
e)
den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart
vom 18. Oktober 2011 - 29 Gs 2222/11 -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 2 BvR 498/12 -,
3) der Frau S …,
gegen
a)
den Beschluss des Landgerichts Stuttgart
vom 1. März 2012 - 9 Qs 13/12 -,
b)
den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart
vom 7. Februar 2012 - 29 Gs 275/12 -,
c)
den Beschluss des Landgerichts Stuttgart
vom 1. Februar 2012 - 16 Qs 94/11 und 16 Qs 101/11 -,
d)
die Durchsuchung und Beschlagnahme
vom 7. November 2011,
e)
den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart
vom 18. Oktober 2011 - 29 Gs 2222/11 -
und
Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
- 2 BvR 499/12 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Huber,
Müller,
Maidowski
am 29. Januar 2015 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerden werden zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden.
Der Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 18. Oktober 2011 - 29 Gs
2222/11 - und der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 1. Februar 2012
- 16 Qs 94/11 und 16 Qs 101/11 - verletzen die Beschwerdeführer zu 1), 2) und
3) in ihrem Grundrecht aus Artikel 13 Absatz 1 und Absatz 2 des
Grundgesetzes. Der Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 7. Februar
2012 - 29 Gs 275/12 - und der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 1.
März 2012 - 9 Qs 13/12 - verletzen die Beschwerdeführer zu 2) und 3) in ihrem
Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 18. April 2012 - 29 Gs 837/12 -
und der Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 2. Mai 2012 - 18 Qs 27/12 -
verletzen die Beschwerdeführerin zu 1) in ihrem Grundrecht aus Artikel 2
Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Beschlüsse des Landgerichts Stuttgart vom 1. Feb-ruar, 1. März und 2.
Mai 2012 werden aufgehoben und die Sachen zur erneuten Entscheidung an
1
2
3
das Landgericht Stuttgart zurückverwiesen.
Im Übrigen werden die Verfassungsbeschwerden nicht zur Entscheidung
angenommen.
Damit erledigen sich die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Das Land Baden-Württemberg hat den Beschwerdeführern die notwendigen
Auslagen zu erstatten.
G r ü n d e :
Gegenstand der Verfassungsbeschwerden sind die Durchsuchung einer
Rechtsanwaltskanzlei sowie die Beschlagnahme von Unterlagen.
I.
Die Beschwerdeführerin zu 1) ist eine Rechtsanwaltskanzlei, die in der Form der
Partnerschaftsgesellschaft von der Beschwerdeführerin zu 3) als Rechtsanwältin und
Partnerin geführt wird. Diese ist seit 2010 mit dem Beschwerdeführer zu 2), der
ebenfalls Rechtsanwalt ist, verheiratet.
1. Der Beschwerdeführer zu 2) arbeitet seit Januar 2011 als Angestellter in Teilzeit
bei der Beschwerdeführerin zu 1). Er ist drei Kindern aus einer früheren Ehe zur
Zahlung
von
Unterhalt
verpflichtet;
Grundlage
hierfür
ist
eine
Scheidungsfolgenvereinbarung aus dem Jahr 2006. Mit der Begründung, er habe
schwerwiegende gesundheitliche Beschwerden - unter anderem Zustand nach einer
Hirnblutung und Burnout-Syndrom - beantragte er im Februar 2011 beim Amtsgericht
Leonberg unter Vorlage eines ärztlichen Attestes die Abänderung des
Kindesunterhalts. Im Rahmen des familiengerichtlichen Verfahrens weigerte er sich
jedoch, sich auf seine Arbeitsfähigkeit untersuchen zu lassen, weil er die Weitergabe
von Details dieser Untersuchungen an seine frühere Ehefrau oder an seine Kinder
verhindern wollte. Im Juli 2011 stellte er einen Eigenantrag auf Eröffnung des
Insolvenzverfahrens, dem im Oktober 2011 entsprochen wurde. Aus einem im
September 2011 vorgelegten Bericht des vorläufigen Treuhänders ergab sich, dass
der Beschwerdeführer zu 2) seit Mitte 2007 zahlungsunfähig war. Er habe allerdings
über Jahre hinweg dem Kindesunterhalt den Vorrang eingeräumt und alle anderen
Gläubiger „hingehalten“. Psychisch sei er angeschlagen und dauerhaft in ärztlicher
4
5
6
7
Behandlung. Pfändungsmaßnahmen der unterhaltsberechtigten Kinder gegen ihn
seien insolvenzrechtlich anfechtbar, weil die Mutter der Kinder Kenntnis von der
Vermögenslage des Beschwerdeführers zu 2) gehabt habe. Allerdings habe dieser
gegenüber der Beschwerdeführerin zu 3) ein abstraktes Schuldanerkenntnis in Höhe
von 160.000 € ausgestellt, ohne dass zugrunde liegende Forderungen nachgewiesen
seien.
Im Juli 2011 erstattete die frühere Ehefrau des Beschwerdeführers zu 2)
Strafanzeige wegen Prozessbetrugs und Verletzung der Unterhaltspflicht, unter
anderem mit der Behauptung, er habe in der Scheidungsauseinandersetzung
bewusst falsch vorgetragen, er sei nicht Partner seiner Anwaltskanzlei. Außerdem
habe er gesundheitsbedingte Einschränkungen seiner Arbeitsfähigkeit bewusst
übertrieben, um durch eine Teilzeitbeschäftigung sein für Unterhaltsleistungen
verfügbares Einkommen geringer darzustellen als es tatsächlich sei.
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart nahm Ermittlungen gegen die Beschwerdeführer zu
2) und 3) auf. Die Beschwerdeführerin zu 3) bot im August 2011 an, sämtliche
erforderlichen Unterlagen herauszugeben, um eine Durchsuchung der
Rechtsanwaltskanzlei mit Folgen für Mandanten zu vermeiden.
2. Am 18. Oktober 2011 erließ das Amtsgericht Stuttgart den angegriffenen
Durchsuchungsbeschluss, bezogen auf die Kanzleiräume der Beschwerdeführerin zu
1) und die Wohnung der Beschwerdeführer zu 2) und 3) zur Sicherstellung von
Unterlagen über den Umfang der Beschäftigung des Beschwerdeführers zu 2) und
seine Einkünfte und über finanzielle Absprachen zwischen den Beschwerdeführern
zu 2) und 3). Die Durchsuchung wurde am 7. November 2011 durchgeführt. Es
wurden - ohne ausdrückliche vorherige richterliche Beschlagnahmeanordnung -
einige Ordner, unter anderem mit Buchhaltungsunterlagen, sowie ein Terminkalender
beschlagnahmt.
Das Landgericht Stuttgart wies durch den angegriffenen Beschluss vom 1. Februar
2012 die hiergegen erhobene Beschwerde der Beschwerdeführerin zu 1) als
unzulässig zurück und verwarf die Beschwerde der Beschwerdeführer zu 2) und 3)
als unbegründet. Falls der Beschwerdeführer zu 2) in höherem Umfang erwerbstätig
sein könne als im Arbeitsvertrag festgelegt und von ihm selbst angegeben, habe dies
möglicherweise Bedeutung für die ihm zur Last gelegten Taten. Die freiwillige
Herausgabe von Unterlagen sei kein ebenso wirksames milderes Mittel. Denn die
Strafverfolgungsbehörden hätten noch gar nicht gewusst, welche Aktenstücke sich
8
9
10
11
konkret in den Räumlichkeiten befunden hätten und was anzufordern gewesen wäre.
Zudem hätte die theoretische Möglichkeit bestanden, dass die Unterlagen nicht
vollständig herausgegeben werden.
3. Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 7. Februar 2012 bestätigte das
Amtsgericht Stuttgart die Beschlagnahme in dem Verfahren gegen die
Beschwerdeführer zu 2) und 3). Das Landgericht Stuttgart verwarf die hiergegen
gerichtete Beschwerde durch Beschluss vom 1. März 2012. Der Tatverdacht ergebe
sich insbesondere daraus, dass der Beschwerdeführer zu 2) sich nicht vom
gerichtlich bestellten Sachverständigen habe untersuchen lassen. In dem Umstand,
dass vor der Beschlagnahme nicht einmal eine telefonische Entscheidung des
Ermittlungsrichters herbeigeführt worden sei, könne eine willkürliche Missachtung
des Richtervorbehalts nicht gesehen werden, weil die beschlagnahmten Objekte ihrer
Art nach bereits im Durchsuchungsbeschluss hinreichend bezeichnet gewesen seien
und weil bei der Durchsuchung eine Staatsanwältin anwesend gewesen sei. Auch
die Art und Weise der Durchsuchung sei nicht zu beanstanden.
4. Im April 2012 wandte sich die Beschwerdeführerin zu 1) erneut an das
Amtsgericht und erinnerte an ihren Antrag, die Beschlagnahme nicht zu bestätigen.
Mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 18. April 2012 bestätigte das Amtsgericht
Stuttgart die Beschlagnahme insoweit. Die dagegen gerichtete Beschwerde verwarf
das Landgericht Stuttgart mit ebenfalls angegriffenem Beschluss vom 2. Mai 2012.
II.
Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer im Wesentlichen
eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 13 und Art. 2 Abs. 1 GG. Anstelle der
Untersuchung durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen habe der
Beschwerdeführer zu 2) ein ärztliches Attest vorgelegt. Dies reiche aus. Im Übrigen
haben die Beschwerdeführer vor allem den Vortrag aus den instanzgerichtlichen
Verfahren wiederholt.
III.
1.
Der
Generalbundesanwalt
hat
Stellung
genommen.
Die
Verfassungsbeschwerden seien jedenfalls unbegründet. Die möglichen Straftaten
seien in den Beschlüssen hinreichend konkretisiert worden. Die Durchsuchung sei
verhältnismäßig gewesen. Die freiwillige Herausgabe von Unterlagen sei nicht in
Betracht gekommen, da bei einem Rückgriff allein auf von den Beschuldigten
ausgesuchtes Material keine Gewähr bestanden hätte, den Sachverhalt erschöpfend
12
13
14
15
16
17
aufzuklären. Dass die aus der Anwaltstätigkeit der Beschwerdeführer zu 2) und 3)
folgenden besonderen Anforderungen beachtet worden seien, ergebe sich aus dem
Rubrum der Beschlüsse, wo beide als Rechtsanwälte bezeichnet seien.
2. Das Justizministerium Baden-Württemberg hat eine Stellungnahme der
Staatsanwaltschaft Stuttgart vorgelegt. Im Hinblick auf das vom Beschwerdeführer zu
2) ausgestellte abstrakte Schuldanerkenntnis über 160.000 € sei eine freiwillige
Vorlage von Unterlagen unzureichend gewesen; es habe auch die Gefahr bestanden,
dass die Durchsuchung „vorbereitet“ worden wäre.
3. Der wesentliche Inhalt der Ermittlungsakte des Strafverfahrens gegen die
Beschwerdeführer zu 2) und 3) lag vor.
IV.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs.
1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das
Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde
maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen - insbesondere hinsichtlich der
besonders strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung im Falle einer Durchsuchung bei
Berufsgeheimnisträgern - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl.
BVerfGE 113, 29 <47 ff.>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom
31. August 2010 - 2 BvR 223/10 -, BayVBl 2011, S. 315 f.), und die Annahme der
Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung der Grundrechte der Beschwerdeführer
aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 2 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist überwiegend offensichtlich begründet (§
93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Der Durchsuchungsbeschluss vom 18. Oktober 2011 und der diesen bestätigende
Beschluss des Landgerichts vom 1. Februar 2012 verletzen die Beschwerdeführer zu
2) und 3) in ihrem Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 GG.
a) Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 13 Abs. 1 GG
erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen
grundrechtlichen Schutz, in den mit einer Durchsuchung schwerwiegend eingegriffen
wird (vgl. BVerfGE 42, 212 <219 f.>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Dem Schutz
unterfallen auch beruflich genutzte Räume wie Rechtsanwaltskanzleien (vgl.
BVerfGE 32, 54 <69 ff.>; 42, 212 <219>; 96, 44 <51>).
Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des
18
19
21
22
20
Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz
der Verhältnismäßigkeit. Die Zwangsmaßnahme muss zur Ermittlung und zur
Verfolgung der vorgeworfenen Tat erforderlich sein. Auch muss der jeweilige Eingriff
in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Tat und der Stärke des
Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <197>).
Der besondere Schutz von Berufsgeheimnisträgern (§ 53 StPO) gebietet bei der
Anordnung der Durchsuchung einer Rechtsanwaltskanzlei zudem die besonders
sorgfältige Prüfung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGK 17, 550 <556>). Die Strafverfolgungsbehörden
haben dabei auch das Ausmaß der - mittelbaren - Beeinträchtigung der beruflichen
Tätigkeit der Betroffenen zu berücksichtigen. Richtet sich eine strafrechtliche
Ermittlungsmaßnahme gegen einen Berufsgeheimnisträger in der räumlichen Sphäre
seiner Berufsausübung, so bringt dies regelmäßig die Gefahr mit sich, dass unter dem
Schutz des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG stehende Daten von
Nichtbeschuldigten, etwa den Mandanten eines Rechtsanwalts, zur Kenntnis der
Ermittlungsbehörden gelangen, die die Betroffenen in der Sphäre des
Berufsgeheimnisträgers gerade sicher wähnen durften. Dadurch werden die
Grundrechte der Mandanten berührt. Der Schutz der Vertrauensbeziehung zwischen
Anwalt und Mandant liegt darüber hinaus auch im Interesse der Allgemeinheit an
einer wirksamen und geordneten Rechtspflege. Diese Belange verlangen eine
besondere Beachtung bei der Prüfung der Angemessenheit der Zwangsmaßnahme
(vgl. BVerfGE 113, 29 <47 ff.>).
Im Einzelfall können die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat, eine geringe
Beweisbedeutung der zu beschlagnahmenden Gegenstände sowie die Vagheit des
Auffindeverdachts der Durchsuchung entgegenstehen (vgl. BVerfGE 115, 166
<198>): Für die Geringfügigkeit der zu ermittelnden Straftat spricht, wenn sie nicht von
erheblicher Bedeutung ist. Straftaten, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe unter fünf
Jahren bedroht sind, können nicht mehr ohne Weiteres dem Bereich der Straftaten
von erheblicher Bedeutung zugerechnet werden (vgl. BVerfGE 124, 43 <64>).
b) Diesen Maßstäben werden die vorliegenden Entscheidungen nicht gerecht.
aa) Ob sich ein hinreichender Tatverdacht gegen die Beschwerdeführer zu 2) und 3)
aus den Ausführungen der Fachgerichte ergibt, kann offen bleiben.
Es entspricht der herrschenden und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden
Meinung in Rechtsprechung und Literatur, dass nicht nur die tatsächlichen, sondern
23
24
25
auch die fiktiv erzielbaren Einkünfte berücksichtigt werden, wenn der
Unterhaltsverpflichtete eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlässt,
obwohl er diese „bei gutem Willen“ ausüben könnte (vgl. BVerfGK 6, 25 <28>). Das
offenbar nicht auf reale Forderungen gestützte Schuldanerkenntnis des
Beschwerdeführers zu 2) und seine Weigerung, sich durch den Sachverständigen
untersuchen zu lassen, begründen einen gewissen Verdacht, er habe über seinen
Gesundheitszustand und seine Verdienstmöglichkeiten die Unwahrheit gesagt. Sollte
er - was möglich erscheint - den Plan verfolgt haben, nur scheinbar auf eine
Teilzeitstelle zu wechseln und tatsächlich voll weiterzuarbeiten, so dürfte ferner die
Beschwerdeführerin zu 3) als seine Ehefrau und Vertreterin der Arbeitgeberin davon
Kenntnis gehabt und ihn unterstützt haben.
Der sich hieraus möglicherweise ergebende Tatverdacht ist allerdings von geringer
Intensität. Denn bereits die Strafanzeige der ehemaligen Ehefrau enthielt hinsichtlich
der Scheidungsfolgenvereinbarung Widersprüchlichkeiten und zudem äußerst
fernliegende Behauptungen wie diejenige, der Arzt ihres ehemaligen Ehemannes
habe sich ihr gegenüber ohne Weiteres selbst belastet und zugegeben, ein
Gefälligkeitsattest erstellt zu haben. Es ist daher in Betracht zu ziehen, dass die
Anzeigeerstatterin ihren - wenige Tage nach dem Eigenantrag des
Beschwerdeführers zu 2) auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellten -
Strafantrag aus Ärger und Enttäuschung über den Verlauf des familiengerichtlichen
Verfahrens mit Unwahrheiten oder jedenfalls Übertreibungen angereichert haben
könnte.
Dass der Beschwerdeführer zu 2) sich dauerhaft in ärztlicher Behandlung befunden
hatte, jedenfalls 2006 an einem Burnout-Syndrom und 2008 an einer Gehirnblutung
litt, wird durch die vorliegenden Atteste dokumentiert und ist auch den Angaben des
vorläufigen Treuhänders zu entnehmen. Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls
nicht von vornherein auszuschließen, dass er tatsächlich krank war und sich - wie von
ihm angegeben - nur deshalb nicht vom Amtsarzt untersuchen lassen wollte, weil er
verhindern wollte, dass Details seiner gesundheitlichen Schwierigkeiten ins
Verfahren eingeführt werden. Auch die teils chaotische Handhabung seiner
finanziellen Situation lässt das Vorliegen eines Burnout-Syndroms nicht als
fernliegend erscheinen. Dem Beschwerdeführer zu 2) waren seine Angelegenheiten
ersichtlich jahrelang über den Kopf gewachsen.
bb) Unabhängig von der Frage, ob ein Tatverdacht von hinreichender Intensität
vorgelegen hat oder nicht, werden die angegriffenen Beschlüsse den Anforderungen
26
27
des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts gemäß Art. 13 Abs. 2 GG jedoch schon
deshalb nicht gerecht, weil sie sich nicht mit den besonderen Anforderungen an die
Verhältnismäßigkeit
von
Durchsuchungen
bei
Berufsgeheimnisträgern
auseinandersetzen. Im Durchsuchungsbeschluss vom 18. Oktober 2011 finden sich
überhaupt keine Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Durchsuchung und ihrer
Durchführung im Einzelnen. Der Beschluss des Landgerichts vom 1. Februar 2012
beschränkt sich auf den Hinweis, eine freiwillige Herausgabe der Akten könne
gegenüber der Durchsuchung nicht als gleich wirksames Mittel angesehen werden.
Die Problematik einer Durchsuchung bei Berufsgeheimnisträgern findet jedoch
gleichfalls keine Erwähnung. Erst recht lässt der Umstand, dass die
Beschwerdeführer im Rubrum der Beschlüsse als Rechtsanwälte beziehungsweise
Anwaltskanzlei bezeichnet sind, nicht auf eine intensive Prüfung der
Verhältnismäßigkeit der angeordneten Durchsuchung schließen.
Eine kritische Prüfung der Verhältnismäßigkeit hätte vorliegend jedoch besonders
nahegelegen. Denn zum einen sind, wie ausgeführt, bei der Durchsuchung einer
Rechtsanwaltskanzlei die Grundrechte der Mandanten sowie das Interesse der
Allgemeinheit an einem Vertrauensverhältnis zum Berufsgeheimnisträger in
besonderer Weise zu berücksichtigen. Zum anderen muss im vorliegenden Fall die
Bereitschaft der Beschwerdeführerin zu 3) gewürdigt werden, sämtliche relevanten
Unterlagen herauszugeben. Auch wenn eine freiwillige Herausgabe mangels
gleicher Eignung die Erforderlichkeit der Maßnahme grundsätzlich nicht entfallen
lässt (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. September
2008 - 2 BvR 1800/07 -, ZAP Fach 23, S. 797 f., juris), so kann ein solches Angebot in
der zur Angemessenheit anzustellenden Gesamtbetrachtung nicht völlig außer
Betracht bleiben. Schließlich ist von erheblicher Bedeutung, dass bei Erlass der
angegriffenen Beschlüsse die ausführliche Ausarbeitung des vorläufigen
Treuhänders bereits vorlag, aus der sich insbesondere ergibt, dass der
Beschwerdeführer zu 2) über Jahre hinweg zahlreiche Gläubiger nicht befriedigt hat,
um seinen von ihm als vorrangig angesehenen Unterhaltspflichten nachzukommen.
Allein dieser Gesichtspunkt hätte für sich genommen hinreichenden Anlass geboten,
die Verhältnismäßigkeit einer Durchsuchung von Kanzleiräumen mit ihren möglichen
Folgen für nicht betroffene Mandanten in Frage zu stellen.
Es kommt hinzu, dass der die Durchsuchung auslösende Tatverdacht weder sehr
intensiv war noch sich auf besonders schwere Delikte bezog. Die Verletzung der
Unterhaltspflicht wird gemäß § 170 StGB im Höchstmaß mit drei Jahren
28
29
30
Freiheitsstrafe bestraft. Für den versuchten Betrug gemäß §§ 263, 22, 23 StGB liegt
eine Strafmilderung auf ein Höchstmaß von drei Jahren und neun Monaten wegen
des Versuchs gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 StGB nahe. Auch ist in den
Beschlüssen nicht dargetan, welche Umstände im Rahmen der Strafzumessung zu
Lasten der Beschwerdeführer zu 2) und 3) zu berücksichtigen wären. Erst recht fehlt
es an Überlegungen dazu, welche für sie günstigen Gesichtspunkte sich aufdrängten.
Soweit ersichtlich, sind die Beschwerdeführer zu 2) und 3) nicht vorbestraft. Der
gesundheitlich in erheblichem Maße angeschlagene Beschwerdeführer zu 2) befand
sich angesichts der Privatinsolvenz in einer prekären finanziellen Situation. Er war
nach Einschätzung des vorläufigen Treuhänders bereits dreieinhalb Jahre vor der
Tathandlung zahlungsunfähig. Vor diesem Hintergrund liegt es sehr nahe, dass es
einer Täuschung gar nicht bedurft hätte, um die Unterhaltszahlungen an die Kinder zu
reduzieren, weil der Beschwerdeführer zu 2) zur Tatzeit längst Privatinsolvenz hätte
anmelden können. Ein Unterhaltsanspruch seiner Kinder gegenüber der
Insolvenzmasse hätte dann allenfalls noch in geringem Umfang bestanden; dies folgt
auch daraus, dass die gezahlten Unterhaltsbeträge nach Einschätzung des
Treuhänders möglicherweise insolvenzrechtlich angefochten werden können. Es
erschien daher zumindest möglich, dass im Falle einer Verurteilung letztlich nur eine
sehr geringe Strafe verhängt werden würde. Bezüglich der Beschwerdeführerin zu 3)
gilt dies erst recht, weil bei ihr eine weitere Milderung im Hinblick auf § 27 Abs. 2 Satz
2 StGB zu erwarten war.
2. Die Bestätigungen der Beschlagnahme vom 7. Februar 2012 beziehungsweise
18. April 2012 sowie die durch das Landgericht am 1. März 2012 beziehungsweise 2.
Mai 2012 erfolgten Zurückweisungen der dagegen gerichteten Beschwerden stellen
jedenfalls Verstöße gegen das Grundrecht der Beschwerdeführer 1) bis 3) aus Art. 2
Abs. 1 GG dar (vgl. BVerfGE 113, 29 <45>), auf das sich auch die
Beschwerdeführerin zu 1) berufen kann (Art. 19 Abs. 3 GG). Denn auch diese
Beschlüsse stellen Verhältnismäßigkeitserwägungen allenfalls im Zusammenhang
mit der Art und Weise der Durchsuchung an, ohne sich mit den Anforderungen an
Durchsuchungen bei Berufsgeheimnisträgern zu befassen.
3. Soweit sich die Verfassungsbeschwerden gegen die Art und Weise der
Durchsuchung
und
der
Beschlagnahme
richten,
nimmt
das
Bundesverfassungsgericht sie nicht zur Entscheidung an. Von einer Begründung wird
insoweit abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
4. Die Entscheidung über die Aufhebung und Zurückverweisung beruht auf § 95
32
31
Abs. 2 BVerfGG. Das Bundesverfassungsgericht muss nicht sämtliche angegriffenen
verfassungswidrigen Entscheidungen aufheben, sondern kann die Sache auch an ein
Gericht höherer Instanz zurückverweisen, zumal wenn dieses - wie hier - als
Beschwerdegericht gemäß § 308 Abs. 2 StPO zu eigenen Sachverhaltsfeststellungen
nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist (vgl. BVerfG, Beschluss der 3.
Kammer des Zweiten Senats vom 19. Juli 2011 - 2 BvR 2413/10 -, EuGRZ 2011, S.
521 <524>, juris).
5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigen sich mit der
Entscheidung über die Verfassungsbeschwerden.
Huber
Müller
Maidowski