Urteil des BVerfG vom 30.03.2016

Anordnung einer Abstinenzweisung gem. § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB gegenüber einem langjährigen Suchtkranken nicht zumutbar

- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Dagmar Schmidt,
Theresienstraße 19, 94032 Passau -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 496/12 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn P…,
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 30. Januar 2012 - 1 Ws
56, 71, 72/12 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Landshut vom 4. Januar 2012 - StVK 693/11
-
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Huber,
Müller,
Maidowski
am 30. März 2016 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 30. Januar 2012 - 1 Ws 56, 71,
72/12 - und der Beschluss des Landgerichts Landshut vom 4. Januar 2012 - StVK
693/11 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2
Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Oberlandesgerichts München wird aufgehoben und die Sache
zur erneuten Entscheidung an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu
erstatten.
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G r ü n d e :
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Zumutbarkeit einer mit der Anordnung der
Führungsaufsicht gegen den suchtkranken Beschwerdeführer verbundenen strafbewehrten
Abstinenzweisung.
I.
1. Der im Juli 1984 geborene Beschwerdeführer konsumierte bereits als Jugendlicher und
Heranwachsender diverse Drogen, unter anderem seit dem 17. Lebensjahr Heroin. Er
machte sich wegen Betäubungsmitteldelikten strafbar. Bis September 2004 erwarb er in
70 Fällen Betäubungsmittel und handelte in 15 Fällen damit, woraufhin er am 21. Juni 2005 zu
zehn Monaten Jugendstrafe verurteilt wurde. Ferner wurde der Beschwerdeführer am
7. Februar 2007 wegen Erwerbs und Veräußerung von Betäubungsmitteln zu 16 Monaten
Freiheitsstrafe verurteilt, weil er letztmalig im Januar 2006 an dieselben beiden Personen, von
denen er in noch größerem Umfang Drogen erworben hatte, Betäubungsmittel veräußert
hatte. Am 8. Oktober 2007 wurde der Beschwerdeführer wegen des unerlaubten Besitzes
von Betäubungsmitteln unter Einbeziehung der Verurteilung vom Februar 2007 zu einer
Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Es folgte eine Verurteilung wegen des Besitzes von
Betäubungsmitteln am 28. Mai 2008 zu drei Monaten Freiheitsstrafe.
2. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 8. Oktober 2007 wurde
zunächst zurückgestellt. Direkt nach der Hauptverhandlung trat der Beschwerdeführer eine
„stationäre Langzeitbehandlung“ an, wurde aber bereits nach zwei Tagen wieder entlassen,
weil er Heroin an Mitpatienten verteilt hatte. Im Dezember 2007 wurde die Zurückstellung der
Vollstreckung widerrufen. Zur Begründung des Widerrufs wurde unter anderem darauf
verwiesen, dass wenige Tage vor dem Widerrufsbescheid bei einer Personenkontrolle beim
Beschwerdeführer Fixerbesteck und ein Briefchen mit Heroin gefunden worden seien.
Angesichts der erfolglosen Therapieversuche dränge sich der Schluss auf, dass der
Beschwerdeführer nur verbal bekunde, zu einer Entziehung motiviert zu sein.
3. Im anschließenden Strafvollzug brachten die Urinkontrollen des Beschwerdeführers mit
Ausnahme eines Nachweises von Cannabiskonsum ein negatives Ergebnis. Von Juni bis
Oktober 2009 befand sich der Beschwerdeführer in stationärer Behandlung, nachdem die
weitere Vollstreckung zurückgestellt worden war. Die Einrichtung stellte ihm nach
„konstantem Behandlungsverlauf“ eine günstige Prognose. Im November 2009 wurde die
Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
4. Im Mai 2010 wurde ein erster erneuter Rückfall bekannt, an welchen sich wiederum eine
Entgiftung anschloss. Gleichwohl kam es wenige Wochen später wieder zu einem Rückfall.
In einem Gutachten aus dem September 2010 wurde ein gelegentlicher Konsum von Heroin
in den letzten vier Monaten festgestellt. Es folgte Ende September - lediglich drei Tage vor
dem Anhörungstermin zum zwischenzeitlich beantragten Widerruf der Bewährung - ein
weiterer Rückfall. Mit Beschluss des Amtsgerichts Passau vom 4. November 2010 wurde
die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen. Dieser Beschluss wurde durch Beschluss
des Landgerichts Passau vom 14. Dezember 2010 aufgehoben, da als milderes Mittel die
Verlängerung der Bewährungszeit verbunden mit der Weisung einer stationären Therapie
genüge. Im Rahmen dieser stationären Therapie wurde der Beschwerdeführer allerdings
bereits während der Entgiftung nach wenigen Wochen wieder rückfällig. Es erfolgte im März
2011 erneut der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung, wobei das Gericht davon
ausging, ein ernstliches Interesse des Beschwerdeführers an einer vollständigen
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Drogenentwöhnungstherapie bestehe nicht. Er trete Therapien und Entgiftungen allenfalls an,
um einen Bewährungswiderruf zu vermeiden. Im weiteren Vollzugsverlauf wurde der
Beschwerdeführer bei einer von zwei Kontrollen während der Haftzeit nach seinen
unwiderlegten Angaben positiv auf Opiate getestet.
5. Das Landgericht Landshut ordnete im angegriffenen Beschluss vom 4. Januar 2012
gemäß § 68f Abs. 1 StGB die Führungsaufsicht gegen den Beschwerdeführer an. Zugleich
wurde dem Beschwerdeführer die Weisung erteilt, jeden Umgang mit unerlaubten
Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes zu unterlassen. Dies sei
„unbedingt notwendig“, um die Begehung weiterer Taten durch ihn zu vermeiden. Sollte er
wieder Suchtmittel konsumieren, sei ein Abdriften in die Drogenkriminalität
„vorprogrammiert“. Die Abstinenzweisung sei auch verhältnismäßig. Es sei nicht allein das
Bedürfnis des Verurteilten maßgebend, seinem Suchtdruck nach der Haftentlassung wieder
nachzugeben. Im Vordergrund stehe vielmehr der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren
erheblichen Straftaten. Der Beschwerdeführer habe früher bereits mehrfach andere Personen
in seine Drogenkriminalität hineingezogen. Die Auffassung der Verteidigerin des
Beschwerdeführers, eine längerfristige drogenfreie Lebensführung sei ausgeschlossen, sei
„wenig hilfreich“. Es sei nicht aussichtslos, dass er - unter anderem durch entsprechende
Weisungen der Führungsaufsicht - sein „noch junges Leben“ in den Griff bekommen könne.
6.
Dagegen
legte
der
Beschwerdeführer
Beschwerde
ein.
Seine
Betäubungsmittelabhängigkeit sei eine seit zehn Jahren bestehende, nicht behandelbare
chronische Krankheit. Er habe in den letzten sieben Jahren zwölf Entgiftungen und vier
Langzeitentwöhnungstherapien erfolglos absolviert und keine Therapie sowie keinen
Gefängnisaufenthalt suchtmittelfrei überstanden. Die Weisung stelle daher keine Hilfe zu
einem drogenfreien Leben dar, sondern erweise sich als Instrument zur Kriminalisierung
krankheitsbedingt nicht abstellbaren Konsumverhaltens. Die jüngsten Verurteilungen seien
lediglich wegen Besitzes erfolgt, so dass die Allgemeinheit nicht geschützt werden müsse.
7. Das Oberlandesgericht München verwarf die sofortige Beschwerde mit der ebenfalls
angegriffenen Entscheidung vom 30. Januar 2012. Zwar seien bei einem nicht therapierten
süchtigen Täter erhöhte Anforderungen an die Zumutbarkeit eines Abstinenzgebots zu
stellen, doch führe die Abwägung mit den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit angesichts
des strafrechtlichen Werdegangs des Beschwerdeführers nicht zur Unverhältnismäßigkeit.
II.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer vor
allem eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 und 2 GG. Die angegriffenen Beschlüsse setzten
sich mit seiner nicht behandelten Suchtproblematik nicht genügend auseinander.
Selbstschädigendes Suchtverhalten werde kriminalisiert. Die Abstinenzweisung sei daher
unverhältnismäßig. Verurteilungen im Bereich des Handeltreibens lägen sechs bis 10 Jahre
zurück. Daher seien keine die Strafbewehrung der Abstinenzweisung gebietenden Interessen
der Allgemeinheit erkennbar. Außerdem liege eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
vor, da das Oberlandesgericht trotz divergierender Rechtsprechung eine Vorlage an den
Bundesgerichtshof unterlassen habe.
III.
1. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hatte
Gelegenheit zur Stellungnahme. Es führte insbesondere aus, dass bei einem
suchtmittelkranken Probanden erhöhte Anforderungen an die Zumutbarkeit zu stellen seien,
die dem Krankheitswert der Sucht hinreichend Rechnung trügen. Vorliegend hätten die
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Instanzgerichte die Suchtmittelkrankheit des Beschwerdeführers in die Abwägung mit
einbezogen und festgestellt, dass es nicht aussichtslos sei, dass er sein Leben in den Griff
bekomme. Immerhin habe er bereits einmal eine stationäre Therapie regulär beendet. Die
Rückfälle mit Heroin seien laut Gutachten lediglich „gelegentlich“ erfolgt. Einige Urinkontrollen
in der Justizvollzugsanstalt seien negativ gewesen. Da der Beschwerdeführer mit einer
ambulanten Therapie einverstanden sei, liege auch ein tragfähiger Wille zur Abstinenz vor.
Schließlich hätten die Gerichte im Rahmen der Abwägung zutreffend berücksichtigt, dass
das Suchtverhalten des Beschwerdeführers in der Vergangenheit nicht lediglich
selbstschädigend gewesen sei, sondern dass er andere Personen in die Drogenkriminalität
hineingezogen habe.
2. Der Generalbundesanwalt hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und vertrat insbesondere
die Ansicht, die Rechtsanwendung der Fachgerichte sei verfassungsrechtlich nicht zu
beanstanden, auch wenn der Beschwerdeführer unter einem hohen Rückfallrisiko leide. Dass
der Konsum von Betäubungsmitteln kriminalisiert werde, treffe ihn nicht übermäßig, da
Erwerb und Besitz ohnehin bereits strafbar seien. Ob bei einem nicht mehr beherrschbaren
Suchtdruck etwas anderes gelten müsste, könne dahinstehen, denn ein solcher Suchtdruck
sei nicht hinreichend belegt. Die Instanzgerichte seien erkennbar nicht davon ausgegangen,
dass die Weisung aussichtslos sei.
3. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
IV.
Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1
in Verbindung mit § 93a Abs. 2 BVerfGG sind erfüllt. Das Bundesverfassungsgericht hat die
für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen - insbesondere die Geltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei Anordnung
einer Abstinenzweisung (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom
21. April 1993 - 2 BvR 930/92 -, juris) - bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG;
vgl. BVerfGE 100, 313 <376>), und die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur
Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die
Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Zwar begegnet weder das Rechtsinstitut der Führungsaufsicht, noch die Möglichkeit einer
strafbewehrten Abstinenzweisung für deren Dauer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen
Bedenken (a). Allerdings ist es verfassungsrechtlich geboten, dass der mit einer
Abstinenzweisung verbundene Eingriff in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt (b). Dies ist vorliegend nicht der Fall (c).
a) aa) Die gemäß § 68f Abs. 1 StGB kraft Gesetzes eintretende Führungsaufsicht beruht
auf der Erwägung, dass gerade dem Verurteilten, der wegen einer negativen Prognose nicht
in den Genuss der Reststrafenaussetzung gemäß § 57 StGB und der mit ihr verbundenen
Bewährungshilfe kommen kann, solche Hilfe nicht dauerhaft versagt werden sollte.
Verfassungsrechtlich ist dagegen nichts zu erinnern (vgl. BVerfGE 55, 28 <30>).
bb) Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht bereits ausdrücklich festgestellt, dass eine
Weisung gemäß § 56c StGB, keine Betäubungsmittel zu konsumieren, für sich genommen
keinen Verstoß gegen Grundrechte beinhaltet (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats vom 21. April 1993 - 2 BvR 930/92 -, juris, Rn. 5 ff.). Eine unwürdige, die
Subjektqualität des Menschen in Frage stellende und damit den Schutzbereich der
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Menschenwürde im Sinne von Art. 1 Abs. 1 GG betreffende Behandlung ist damit nicht
verbunden. Auch schützt Art. 2 Abs. 1 GG zwar die allgemeine Handlungsfreiheit in einem
umfassenden Sinn. Sie wird jedoch nicht schrankenlos gewährt, sondern nur soweit ihre
Ausübung nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstößt. Allerdings muss eine auf
die verfassungsmäßige Ordnung gestützte Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (vgl. BVerfGE 44, 353 <373>; 63, 131
<144>; 65, 1 <44>; 90, 145 <172>).
Diese für § 56c StGB geltenden Erwägungen treffen in gleicher Weise auf
Abstinenzweisungen im Rahmen der Führungsaufsicht gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB zu.
b) aa) Demgemäß muss eine Weisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB zunächst geeignet
sein, den mit ihr angestrebten Zweck zu erreichen (vgl. BVerfGE 90, 145 <172>). Dabei
genügt bereits die Möglichkeit der Zweckerreichung (vgl. BVerfGE 113, 167 <234>; 115, 276
<308>; 116, 202 <224>; 117, 163 <188 f.>). Bei einer Abstinenzweisung muss also die
Möglichkeit bestehen, dass Straftaten unterbleiben, die im Falle weiteren
Suchtmittelkonsums zu erwarten wären. Ungeeignet wäre eine Abstinenzweisung hingegen,
wenn eine Verminderung des Risikos der Begehung weiterer Straftaten aufgrund dieser
Weisung ausgeschlossen werden kann.
bb) Daneben muss die Abstinenzweisung erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn
sein. Letzteres bedeutet, dass sie den Betroffenen nicht übermäßig belasten darf, sondern
diesem zumutbar sein muss (vgl. BVerfGE 13, 97 <113>; 90, 145 <173>; 104, 337 <349>;
110, 177 <195>; 113, 29 <54>; 115, 166 <192> stRspr).
Insoweit stellt § 68b Abs. 3 StGB, wonach bei Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht
keine an die Lebensführung der verurteilten Person unzumutbaren Anforderungen gestellt
werden
dürfen,
eine
einfachgesetzliche
Ausprägung
der
sich
aus
dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ergebenden verfassungsrechtlichen Anforderungen dar.
(1) Die Feststellung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne setzt eine Abwägung
zwischen den Gemeinwohlbelangen, zu deren Wahrnehmung es erforderlich ist, in die
Grundrechte einzugreifen und den Auswirkungen auf die Rechtsgüter des Betroffenen voraus
(vgl. BVerfGE 92, 277 <327>). Dabei kann vorliegend nicht außer Betracht bleiben, dass die
Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB strafbewehrt ist und ein Verstoß mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden kann (§ 145a StGB).
Insoweit unterscheidet sich die Abstinenzweisung im Rahmen der Führungsaufsicht von
einer Weisung im Rahmen der Bewährungsaussetzung gemäß § 56c StGB (vgl. dazu
Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 21. April 1993 - 2 BvR 930/92 -, juris).
Wird gegen diese verstoßen, droht nicht die Verhängung einer neuen Strafe nach
Vollverbüßung der festgesetzten Strafe, sondern lediglich die Fortsetzung der Vollstreckung
einer bereits angeordneten Strafe und dieses auch nur für den Fall „gröblicher“ oder
„beharrlicher“ Weisungsverstöße (§ 56f Abs. 1 Nr. 2 StGB). Demgemäß sind an eine
Abstinenzweisung
gemäß
§
68b
Abs.
1
Nr.
10
StGB
unter
Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten erhöhte Anforderungen zu stellen. Da im Fall der
Verletzung einer Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB die Möglichkeit der
Verhängung einer Strafe als der schärfsten dem Staat zur Verfügung stehenden Sanktion
(vgl. BVerfGE 90, 145 <177>) besteht, kann von dem Betroffenen die Hinnahme des damit
verbundenen ethischen Unwerturteils im allgemeinen nur erwartet werden, wenn er
überhaupt in der Lage ist, sich normgerecht zu verhalten und der Schutz überwiegender
Interessen anderer oder der Allgemeinheit eine strafrechtliche Sanktionierung gebietet.
(2) Demgegenüber kann nicht darauf verwiesen werden, dass es sich bei § 145a StGB um
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ein Antragsdelikt handelt (§ 145a Satz 2 StGB) und die antragsberechtigte
Führungsaufsichtsstelle
bei
Stellung
eines
Strafantrags
ihrerseits
an
den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden sei (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 13. September
2009 - 2 Ws 568/10 -, NStZ-RR 2011, S. 62 <63>; OLG Rostock, Beschluss vom 27. März
2012 - 1 Ws 90/12 -, NStZ-RR 2012, S. 222; OLG München, Beschluss vom 19. Juli 2012
- 1 Ws 509/12, 1 Ws 511/12 -, StV 2013, S. 168 <169>). Dies ändert nichts an der Tatsache,
dass der Betroffene mit der Anordnung einer Abstinenzweisung einem bisher nicht
bestehenden Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt wird, das bei der gebotenen Abwägung der
beteiligten Interessen erheblich ins Gewicht fällt, zumal das Vorgehen der zuständigen Stelle
im Falle eines Weisungsverstoßes durch den Betroffenen nicht vorhergesehen oder
beeinflusst werden kann (vgl. AG Freiburg, Urteil vom 2. Februar 2011 - 23 Ds 240 Js
34839/09 u.a. -, juris, Rn. 38). Demgemäß ergibt sich aus der Ausgestaltung des § 145a
StGB als Antragsdelikt keine Verminderung der Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit
einer Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB.
(3) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Hinweis, dass der Erwerb und der Besitz
von Betäubungsmitteln ohnehin strafbar seien. Einer darauf gestützten Relativierung der
Verhältnismäßigkeitsanforderungen an eine Abstinenzweisung steht sowohl entgegen, dass
eine Verurteilung nach § 145a StGB ein eigenes sittliches Unwerturteil über das Verhalten
des Weisungsunterworfenen enthält, als auch, dass die Abstinenzweisung über den
bestehenden Strafrahmen für Betäubungsmitteldelikte hinausgeht, da sie auch den
(ansonsten straflosen) bloßen Konsum von Betäubungsmitteln umfasst.
(4) Nach dem vorstehend Gesagten wird von der Verhältnismäßigkeit einer
Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB regelmäßig auszugehen sein, wenn
diese gegenüber einer ohne weiteres zum Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln fähigen
Person angeordnet wird und im Falle des erneuten Alkohol- oder Suchtmittelkonsums mit der
Begehung erheblicher, die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit betreffender Straftaten zu
rechnen ist. Wenn der Verzicht auf den Konsum von Suchtmitteln lediglich vom Willen und
der charakterlichen Festigkeit des Weisungsunterworfenen abhängt, ist es ohne weiteres
zumutbar, für die Dauer der Führungsaufsicht zur Vermeidung weiterer Straftaten einen
solchen Verzicht einzufordern.
(5) Anders verhält es sich demgegenüber im Fall eines nicht- oder erfolglos therapierten
langjährigen Suchtkranken (vgl. zu den unterschiedlichen Bewertungen der Rechtsprechung:
OLG Köln, Beschluss vom 13. September 2009 - 2 Ws 568/10 -, NStZ-RR 2011, S. 62 <63>;
OLG Rostock, Beschluss vom 27. März 2012 - 1 Ws 90/12 -, NStZ-RR 2012, S. 222; OLG
München, Beschluss vom 21. Juni 2011 - 1 Ws 488/11 u.a. -, juris, Rn. 22 sowie Beschluss
vom 19. Juli 2012 - 1 Ws 509/12, 1 Ws 511/12 -, StV 2013, S. 168 <169>; OLG Celle,
Beschluss vom 16. Oktober 2010 - 2 Ws 228/09 -, NStZ-RR 2010, S. 91 <92>; OLG
Dresden, Beschluss vom 13. Juli 2009 - 2 Ws 291/09 -, NJW 2009, S. 3315 <3316>).
Ungeachtet der Tatsache, dass § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB nicht zwischen erfolgreich
therapierten und nichttherapierten Suchtkranken unterscheidet, stellt sich die Frage der
Zumutbarkeit des Verzichts auf den Konsum von Suchtmitteln in beiden Fällen
unterschiedlich dar. Für den Suchtkranken beinhaltet die Abstinenzweisung eine deutlich
schwerere Belastung. Dennoch wird auch in diesen Fällen nicht ausnahmslos davon
ausgegangen werden können, dass die Weisung, auf den Konsum von Suchtmitteln zu
verzichten, unzumutbar ist. Vielmehr ist auch insoweit eine Abwägung unter
Berücksichtigung der besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles erforderlich.
Dabei sind insbesondere die Fragen, in welchem Umfang überhaupt die Aussicht besteht,
den mit einer Abstinenzweisung verfolgten Zweck zu erreichen, ob und inwieweit der
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Suchtkranke sich (wenn auch erfolglos) Therapieangeboten geöffnet hat und welche
Straftaten im Falle weiteren Suchtmittelkonsums zu erwarten sind, in die Abwägung
einzustellen. Jedenfalls in Fällen, in denen ein langjähriger, mehrfach erfolglos therapierter
Suchtabhängiger aufgrund seiner Suchtkrankheit nicht zu nachhaltiger Abstinenz in der Lage
ist und von ihm keine die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit erheblich
beeinträchtigenden Straftaten drohen, ist eine strafbewehrte Abstinenzweisung gemäß § 68b
Abs. 1 Nr. 10 StGB als unzumutbare Anforderung an die Lebensführung im Sinne von § 68b
Abs. 3 StGB und damit zugleich als Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der
Verhältnismäßigkeit anzusehen.
c) Gemessen an diesen Maßstäben tragen die angegriffenen Entscheidungen dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht hinreichend Rechnung.
aa) Es erscheint bereits zweifelhaft, ob im Fall des Beschwerdeführers die Anordnung einer
Abstinenzweisung überhaupt geeignet ist, eine Reduzierung des Drogenkonsums und des
damit verbundenen Risikos weiterer Straftaten zu erreichen:
Bei dem Beschwerdeführer handelt es sich um einen langjährigen Suchtkranken, der
bereits als Jugendlicher Drogen konsumiert und diesen Konsum ungeachtet mehrfacher
Verurteilungen wegen Betäubungsmitteldelikten durchgängig fortgesetzt hat. Er hat in den
letzten Jahren zahlreiche Entgiftungen und mehrere Langzeitentwöhnungstherapien erfolglos
absolviert. Bis auf eine Ausnahme mussten die Entwöhnungstherapien vorzeitig beendet
werden, weil festgestellt wurde, dass der Beschwerdeführer Drogen konsumiert hatte oder
sich im Besitz von Drogen befand. Eine erneute stationäre Therapie lehnt er ab. Selbst im
unmittelbaren
Vorfeld
von
Entscheidungen
über
den
Widerruf
gewährter
Vollstreckungszurückstellungen
und
Bewährungsaussetzungen
wurde
der
Beschwerdeführer wegen Drogenbesitzes auffällig. Nicht einmal in dieser Situation
vermochte er seinen Suchtdruck so zu beherrschen, dass er zumindest einige Tage
abstinent blieb.
Sämtliche festgesetzten Freiheitsstrafen und Therapieangebote haben nichts an der
Drogenabhängigkeit des Beschwerdeführers geändert. Vor diesem Hintergrund erschließt
sich nicht, inwieweit eine strafbewehrte Abstinenzweisung dazu beitragen soll, dass der
Beschwerdeführer „sein noch junges Leben in den Griff bekommt“. Die Geeignetheit der
Abstinenzweisung zur Verminderung des Risikos weiterer suchtmittelbedingter Straftaten
erscheint daher zumindest zweifelhaft.
bb) Jedenfalls überschreitet die Weisung im vorliegenden Fall die verfassungsrechtlich
vorgegebene Grenze der Zumutbarkeit.
Die Weisung, keine Suchtmittel zu konsumieren, stellt für den Beschwerdeführer
angesichts seiner Drogenabhängigkeit eine schwerwiegende Belastung dar. Es ist noch nicht
einmal erkennbar, ob er krankheitsbedingt überhaupt in der Lage ist, sich weisungsgemäß zu
verhalten. Dabei kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass das wahrscheinliche
Unvermögen, die Abstinenzweisung zu beachten, selbstverschuldet ist, da nicht feststeht, ob
das Scheitern der bisherigen Therapieversuche auf die Suchtabhängigkeit oder auf eine nicht
krankheitsbedingte Therapieunwilligkeit des Beschwerdeführers zurückzuführen ist. Bei der
Behauptung, es dränge sich der Schluss auf, dass der Beschwerdeführer nur verbal
bekunde, zu einer Entziehung motiviert zu sein, handelt es sich um eine bloße Vermutung.
Daher kann von dem Beschwerdeführer zwar möglicherweise erwartet werden, dass er
einen weiteren ernsthaften Therapieversuch unternimmt. Die Erwartung drogenabstinenten
Lebens ohne die vorherige erfolgreiche Absolvierung einer solchen Therapie erscheint
demgegenüber nicht gerechtfertigt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die
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Abstinenzweisung lediglich zu einer Pönalisierung suchtbedingt unvermeidbaren künftigen
Verhaltens führt und daher dem Beschwerdeführer nicht zumutbar ist.
Demgegenüber kann auch nicht geltend gemacht werden, dass die Abstinenzweisung
gleichwohl notwendig sei, da nur auf diesem Weg der gebotene Schutz der Allgemeinheit vor
der Begehung weiterer erheblicher Straftaten erreicht werden könne. Soweit das Landgericht
im angegriffenen Beschluss vom 4. Januar 2012 darauf verweist, dass der
Beschwerdeführer in der Vergangenheit auch andere Personen in die Drogenkriminalität
hineingezogen habe, trifft zu, dass der Beschwerdeführer bis September 2004 als
Heranwachsender in zahlreichen Fällen mit Betäubungsmitteln gehandelt und solche
erworben hatte. Auch veräußerte er im November 2005 noch einmal Drogen an ein Ehepaar,
von dem er zugleich aber in ungefähr demselben Zeitraum eine noch größere Menge zum
gleichen Grammpreis erwarb. Ein „Hineinziehen“ dieser Personen in die Drogenkriminalität
ist demgemäß nicht ersichtlich. In der Folgezeit wurde der Beschwerdeführer ausschließlich
noch wegen Besitzes von Betäubungsmitteln belangt. Verurteilungen wegen
Beschaffungskriminalität liegen nicht vor. Spezialpräventive Erwägungen können sich somit
allenfalls auf langjährig zurückliegende Taten stützen, für welche eine Jugendstrafe von zehn
Monaten verhängt wurde.
Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität
ohnehin bereits die Vorstufen drittschädigenden Verhaltens - etwa gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1
Nr. 1, 3 BtMG das Sichverschaffen oder der Besitz von Betäubungsmitteln - strafbar sind. Im
Fall fortgesetzten Drogenmissbrauchs wäre daher eine erneute Strafverfolgung des
Beschwerdeführers bereits frühzeitig möglich. Demgemäß stellt sich die Abstinenzweisung
als eine vom Beschwerdeführer suchtbedingt voraussichtlich nicht erfüllbare
Verhaltenserwartung dar, deren Nichtbeachtung vor allem zur Strafbarkeit
selbstschädigenden Verhaltens führt. Eine durch die strafrechtlichen Regelungen im Bereich
der
Betäubungsmittelkriminalität
nicht
erfasste
Sanktionierung
der
Vorstufen
drittschädigenden Verhaltens ist mit der Weisung nicht verbunden. Demgemäß beinhaltet die
Abstinenzweisung gemäß § 68b Abs. 1 Nr. 10 StGB vorliegend eine schwerwiegende
Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Beschwerdeführers, die angesichts
des allenfalls geringen zusätzlichen Beitrages zum Schutz der Allgemeinheit als unzumutbar
bewertet werden muss.
2. Der Beschluss des Oberlandesgerichts München ist aufzuheben. Die Sache wird an das
Oberlandesgericht München zurückverwiesen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Huber
Müller
Maidowski