Urteil des BVerfG vom 04.02.2000

untersuchungshaft, freiheit der person, verfassungsbeschwerde, fortdauer

- 1. Rechtsanwälte Gerhard M. Knöss und Kollege,
Schillerstraße 28, Frankfurt,
2. Rechtsanwälte Meinolf Reuther und Kollegin,
Heinrich-Lübke-Straße 27,
Arnsberg -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 453/99 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S...,
gegen den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17. Februar 1999 - 2 BJs 122/98-1 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die
Richter Sommer,
Broß
und die Richterin Osterloh
gemäß § 93c in Verbindung mit §§ 93b Satz 1, 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG in der
Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 4. Februar 2000
einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 17. Februar 1999 - 2 BJs 122/98-1 -
verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 2
des Grundgesetzes.
2. Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die im
Verfassungsbeschwerde-Verfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu
erstatten.
Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft (§§ 121,
122 StPO).
A.-I.
1. Der Beschwerdeführer befand sich seit dem 12. November 1997 wegen banden- und
gewerbsmäßigen Verleitens zur missbräuchlichen Asylantragstellung (§§ 84 Abs. 1, 84 a
Abs. 1 Asylverfahrensgesetz) in Untersuchungshaft. Mit Beschluss vom 26. April 1999 hob
das Landgericht Dortmund den Haftbefehl gemäß § 120 Abs. 1 StPO auf.
2. Am 29. April 1998 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Landgericht Dortmund.
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W ähr end der am 1. Oktober 1998 begonnenen Hauptverhandlung gegen den
Beschwerdeführer und zwei Mitangeklagte verwies das Landgericht die Sache mit Beschluss
vom 29. Oktober 1998 gemäß § 270 Abs. 1 Satz 1 StPO an das Oberlandesgericht
Düsseldorf mit der Begründung, die Mitangeklagten seien nunmehr auch der Mitgliedschaft,
der Beschwerdeführer der Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129a
StGB) hinreichend verdächtig. Mit Beschluss des Präsidiums des Oberlandesgerichts
Düsseldorf wurde das Verfahren von dem zunächst zuständigen 6. Strafsenat dem 7.
Strafsenat übertragen. Mit Beschluss vom 10. Februar 1999 legte dieser das Verfahren dem
Bundesgerichtshof zur Bestimmung des für die Hauptverhandlung zuständigen Gerichts vor.
Der Verweisungsbeschluss des Landgerichts sei unwirksam und könne eine Zuständigkeit
des Oberlandesgerichts nicht begründen. Die Angeklagten seien durch den Beschluss
offensichtlich fehlerhaft und willkürlich ihren gesetzlichen Richtern entzogen worden. Dadurch
entfalle seine Bindungswirkung, der Bundesgerichtshof habe daher das zuständige Gericht
nach § 14 StPO zu bestimmen. Mit Beschluss vom 17. März 1999 bestimmte der
Bundesgerichtshof das Landgericht Dortmund als sachlich zuständig.
3. Der Bundesgerichtshof ordnete im Verfahren der besonderen Haftprüfung gemäß
§§ 121 f. StPO mit dem angefochtenen Beschluss vom 17. Februar 1999 die Fortdauer der
Untersuchungshaft an.
Die Voraussetzungen der Fortdauer der Untersuchungshaft lägen vor. Die Sache sei seit
der letzten Haftprüfung mit der gebotenen Beschleunigung gefördert worden. Das folge aus
dem dargelegten Verfahrensgang, der besonderen Schwierigkeit und dem besonderen
Umfang des Verfahrens; die Verfahrensakten umfassten derzeit 13 Aktenbände, 57
Stehordner sowie drei Bände Ausländerakten. Wegen der näheren Einzelheiten zur Sach-
und Rechtslage werde auf den Inhalt des Beschlusses des 7. Strafsenats des
Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 10. Februar 1999 sowie des Schreibens der
Vorsitzenden dieses Strafsenats vom 25. Januar 1999 verwiesen. Der weitere Vollzug der
Untersuchungshaft stehe angesichts der den Angeklagten vorgeworfenen Straftaten noch
nicht außer Verhältnis zur Schwere der Schuld und zu der im Falle einer Verurteilung zu
erwartenden Strafe.
II.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung
verschiedener Grundrechte.
Sein Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sei dadurch verletzt, dass die
verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen seinem Freiheitsgrundrecht und dem
Strafverfolgungsinteresse nicht einmal ansatzweise vorgenommen worden sei. Auch sei auf
die angesprochene Problematik der Bindungswirkung und der Rechtmäßigkeit des
Verweisungsbeschlusses nicht eingegangen worden. Selbst wenn diesem Beschluss
letztlich Bindungswirkung zukommen oder durch Beschluss des Bundesgerichtshofs die
Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Düsseldorf begründet worden sein sollte, sei als Folge
dieses rechtswidrigen Verweisungsbeschlusses ein langfristiger Zuständigkeitsstreit und eine
Verfahrensverzögerung von zumindest sechs Monaten eingetreten. Soweit in dem
angefochtenen Beschluss ausgeführt werde, die Sache sei seit der letzten Haftprüfung mit
d e r gebotenen Beschleunigung gefördert worden, handele es sich hierbei um keine
Grundrechtsabwägung, sondern schlichtweg um die Wiederholung des Gesetzeswortlauts.
Der Beschwerdeführer rügt weiterhin mit näherer Begründung die Annahme des dringenden
Tatverdachts und die Verletzung seines Anspruchs auf den gesetzlichen Richter nach Art.
101 Abs. 1 Satz 2 GG.
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2. Nach der Aufhebung des Haftbefehls wurde der Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung mit Schriftsatz vom 27. Mai 1999 für erledigt erklärt.
III.
Das Bundesministerium der Justiz hat von einer Stellungnahme abgesehen.
B.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur
Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2
Buchstabe b BVerfGG). Sie gibt ihr statt. Die für die Entscheidung maßgeblichen Fragen sind
durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).
Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet.
C.
Die Verfassungsbeschwerde ist trotz der inzwischen erfolgten Aufhebung des Haftbefehls
und der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Untersuchungshaft zulässig. Der
Beschwerdeführer ist zwar durch die angefochtene Entscheidung nicht mehr gegenwärtig
beschwert. Es besteht aber im vorliegenden Fall noch ein Rechtsschutzbedürfnis jedenfalls
für die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes (vgl. BVerfGE
53, 152 <157>). Ein solches Feststellungsinteresse kann insbesondere bei schwer
wiegenden Grundrechtseingriffen fortbestehen. Dies ist wegen des Eingriffs in das
Freiheitsgrundrecht
des
Beschwerdeführers durch die unter Beachtung der
Unschuldsvermutung vollzogene Untersuchungshaft unter den hier gegebenen Umständen
zu bejahen (vgl. BVerfGE 9, 89 <93>; 53, 152 <157 f.>).
I.
1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht
ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt (vgl.
BVerfGE 46, 194 <195> m.w.N.). Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb in ständiger
Rechtsprechung betont, dass der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten
Beschuldigten den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und
zweckmäßigen Freiheitsbeschränkungen ständig als Korrektiv entgegenzuhalten ist (vgl.
BVerfGE 19, 342 <347>; 20, 45 <49 f.>) und sich sein Gewicht gegenüber dem
Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößern kann
(vgl. BVerfGE 36, 264 <270>) und regelmäßig vergrößern wird (vgl. BVerfGE 53, 152
<158 f.>). Die Vorschrift des § 121 Abs. 1 StPO lässt nur in begrenztem Umfang eine
Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus zu und ist eng auszulegen (vgl.
BVerfGE 20, 45 <50>; 36, 264 <270 f.>).
2. Die besonderen verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer
langen Dauer der Untersuchungshaft gebieten es auch, dass das zuständige Gericht sich bei
der zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft mit deren
Voraussetzungen auseinander setzt und seine Entscheidung im Einzelnen begründet, da es
im Rahmen der besonderen Haftprüfung eine nur ihm vorbehaltene eigene Sachprüfung
vornimmt und zugleich erst- und letztinstanzlich entscheidet (vgl. im Einzelnen Beschluss
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der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. August 1998 - 2
BvR 962/98 -, StV 1999, S. 40).
II.
Diesen sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ergebenden Anforderungen an eine nach § 121
Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung wird der angefochtene Beschluss des
Bundesgerichtshofs nicht gerecht.
1. Die grundgesetzlich gebotene Abwägung zwischen Freiheitsgrundrecht und
Strafverfolgungsinteresse wurde nicht vorgenommen, jedenfalls nicht dargestellt. Der
Kompetenzkonflikt zwischen Landgericht und Oberlandesgericht ist nicht erkennbar in die
Prüfung des wichtigen Grundes im Sinne von § 121 Abs. 1 StPO eingeflossen. Einer
ausdrücklichen Erörterung hätte es aber angesichts einer Verzögerung von ca. drei Monaten
nach Erlass des Verweisungsbeschlusses bedurft, zumal das Oberlandesgericht diesen
Beschluss als willkürlich bewertet hatte. Durch den nicht eingeschränkten Verweis "zur
Sach- und Rechtslage" auf den Beschluss des Oberlandesgerichts vom 10. Februar 1999
deutet der Bundesgerichtshof an, dessen Auffassung zu billigen. Ein Kompetenzkonflikt kann
aber ebenso wie der insofern vergleichbare Fall einer Anklage bei einem unzuständigen
Gericht (vgl. dazu: Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 7. September 1992 - 2 BvR 1305/92 -, StV 1992, S. 522)
der Annahme eines wichtigen Grundes verfassungsrechtlich entgegenstehen, wenn ein
grober Fehler angenommen wird und dadurch erhebliche vermeidbare Verzögerungen
entstehen. Ein grober Fehler liegt zumindest dann nahe, wenn ein Obergericht einen
Beschluss der Vorinstanz als willkürlich bewertet. Jedenfalls bedarf es dann einer
ausdrücklichen Erörterung im Beschluss über die Fortdauer der Haft.
2. Der Verweis "zur Sach- und Rechtslage" auf einen Beschluss des Oberlandesgerichts
Düsseldorf und auf ein Schreiben der Vorsitzenden dieses Strafsenats im Rahmen der
Erörterung des "wichtigen Grundes" - neben dem pauschalen Hinweis auf den dargelegten
Verfahrensgang, der im Übrigen nur den Zeitraum bis zum 8. Dezember 1998 betrifft - hält
verfassungsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Abgesehen davon, dass der Beschluss und
das Schreiben keine dahingehenden Ausführungen enthalten, erfordert das besondere
Haftprüfungsverfahren von dem mit besonderer Sachkunde ausgestatteten Gericht, eine
eigene Sachprüfung der besonderen Haftvoraussetzungen gemäß § 121 Abs. 1 StPO
vorzunehmen und dies auch darzustellen. Eine Bezugnahme auf andere, vor dem Zeitpunkt
des Beschlusses über die Fortdauer der Haft ergangene Beschlüsse ist dafür grundsätzlich
nicht ausreichend, da sich die dafür maßgeblichen Umstände insbesondere angesichts der
seit der letzten Entscheidung verstrichenen Zeit in ihrer Gewichtigkeit verschieben können
(vgl. Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7.
August 1998 - 2 BvR 962/98 -, StV 1999, S. 40; BVerfGE 53, 152 <158 f.>). Diese
Erörterungspflicht gewinnt in Anbetracht der weit über einem Jahr liegenden Dauer der
Untersuchungshaft beim nicht vorbestraften Beschwerdeführer besondere Bedeutung, zumal
auch zwischen Erhebung der Anklage und Beginn der (ersten) Hauptverhandlung ein eine
Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen nicht ohne weiteres ausschließender
Zeitraum von rund fünf Monaten lag.
3. Da die Verfassungsbeschwerde schon aus diesem Grund begründet ist, bedarf es keiner
Entscheidung, ob der Beschluss auch im Übrigen verfassungsrechtlich zu beanstanden sein
könnte.
III.
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Der angegriffene Beschluss verletzt den Beschwerdeführer daher in seinem Grundrecht
aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Da er durch ihn jedoch nicht mehr beschwert ist, bedurfte es
keiner Aufhebung des Beschlusses.
IV.
Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers
im Verfassungsbeschwerde-Verfahren beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Broß
Osterloh