Urteil des BVerfG vom 07.01.2003

ablauf der frist, klagefrist, verfassungsbeschwerde, rechtsmittelfrist

- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Andreas Niederer und Koll.,
Warthäuser Straße 2, 70327 Stuttgart -
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BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 447/02 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des äthiopischen Staatsangehörigen Y...
gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 18. Februar 2002 - A 17 K
11725/01 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Sommer,
Di Fabio
und die Richterin Lübbe-Wolff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom
11. August 1993 ( BGBl I S. 1473 ) am 7. Januar 2003 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage des Fristbeginns für einen Antrag auf
Wiedereinsetzung in eine versäumte Klagefrist.
Die Bevollmächtigten des Beschwerdeführers gaben im Rahmen eines Asylverfahrens eine
Klageschrift innerhalb der üblichen Postlaufzeiten vor Ablauf der Frist zur Erhebung einer
Klage zur Post; die Klage ging erst nach Ablauf dieser Frist bei dem Verwaltungsgericht ein.
D as Gericht übersandte den Rechtsanwälten eine Eingangsbestätigung, die außer dem
Datum der Klageschrift und dem Zugangsdatum keinen weiteren Hinweis auf die
Versäumung der Klagefrist enthielt, ansonsten auf die Anzahl der Abschriften bei der
künftigen Vorlage von Schriftsätzen und die Übersendung von Verwaltungsakten nach deren
Eingang hinwies. Nachdem Monate später das Gericht die verspätete Klageerhebung
schriftlich den Bevollmächtigten mitgeteilt hatte, beantragten diese die Wiedereinsetzung in
die versäumte Klagefrist.
Das Verwaltungsgericht wies die Klage unter Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung
als offensichtlich unzulässig ab. Der Antrag sei nicht binnen zwei Wochen nach Wegfall des
Hindernisses, d.h. dem Zeitpunkt, in dem die Fristversäumung bekannt war oder hätte
bekannt sein müssen, gestellt worden. Die Versäumung der Klagefrist habe hier spätestens
zu
dem
Zeitpunkt
bekannt
sein
müssen,
als
dem Rechtsanwalt
das
Eingangsbestätigungsschreiben mit dem Datum des Klageeingangs zugegangen sei.
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II.
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die
Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Ihr kommt keine grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der von
dem Beschwerdeführer als verletzt bezeichneten Verfassungsrechte angezeigt. Denn die
Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22
<25 f.> ).
1. Im Hinblick auf die Gewährleistungen des Art. 19 Abs. 4 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG
dürfen bei der Auslegung und Anwendung der für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
(hier nach § 60 VwGO) maßgeblichen Vorschriften die Anforderungen an das, was der
Betroffene veranlasst haben muss, um eine Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannt
werden (vgl. BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>; 69, 381 <385> ; stRspr). Insbesondere
dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche
Post AG nicht als Verschulden zugerechnet werden. Er darf vielmehr darauf vertrauen, dass
die nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post für den Normalfall
festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden, vorausgesetzt, das zu befördernde
Schriftstück wurde rechtzeitig und ordnungsgemäß zur Post gegeben (vgl. BVerfGE 53, 25
<28 f.>; 62, 334 <336 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 15. Mai 1995 - 1 BvR 2440/94 -, NJW 1995, S. 2546).
Versagen diese Vorkehrungen, darf das dem Betroffenen, der darauf keinen Einfluss hat, im
Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht als Verschulden zur Last gelegt
werden.
Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht, ohne es ausdrücklich
auszuführen, eine unverschuldete Versäumung der Klagefrist zu Grunde gelegt.
2. Die Behandlung der Versäumung der Klagefrist als unverschuldet bedeutet nicht, dass
deshalb der Betroffene jeglicher Sorgfaltspflicht in der (weiteren) Wahrnehmung seiner
Rechte enthoben ist (vgl. BVerfGE 42, 120 <126> ). Die Wiedereinsetzung greift in die
Rechtskraft ein, weshalb das Verfahren zur Überwindung der Ungewissheit über die
Rechtsbeständigkeit auf Beschleunigung angelegt ist. Dies äußert sich darin, dass der Antrag
binnen zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses unter Darlegung von Gründen zu stellen
ist (vgl. § 60 Abs. 2 VwGO). Davon ausgehend ist es mit den genannten Verfassungsrechten
zu vereinbaren, wenn von einem Betroffenen, der Anlass hat und in der Lage ist, von sich
aus zum Wegfall des Hindernisses beizutragen, verlangt wird, zumutbare Anstrengungen in
dieser Richtung zu unternehmen (vgl. BVerfGE 42, 120 <126> ).
3. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die bevollmächtigten Rechtsanwälte, deren
Verhalten sich der Beschwerdeführer zurechnen lassen muss (§ 173 VwGO i.V.m. § 85
Abs. 2 ZPO), hätten auf Grund des Gerichtsschreibens mit der Angabe über das Datum des
Klageeingangs die Fristversäumung erkennen müssen, unterliegt danach keiner
verfassungsrechtlichen Beanstandung. Die Rechtsanwälte waren bei Eingang dieses
Schreibens gehalten, das dort mitgeteilte Eingangsdatum bei Gericht mit dem in den Akten
vermerkten Zustellungsdatum des Behördenbescheids abzugleichen (Beschluss der 3.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. November 1994
- 2 BvR 852/93 -, NJW 1995, S. 711, 712). Dieser Abgleich dient der Kontrolle, ob die
Rechtsmittelfrist gewahrt wurde und gegebenenfalls Wiedereinsetzung in die Rechtsmittelfrist
beantragt werden muss. Dies gilt unabhängig davon, ob mit der Einlegung des Rechtsmittels
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anders als
bei
der
verwaltungsgerichtlichen
Klageerhebung
- eine
Rechtsmittelbegründungsfrist in Lauf gesetzt wird oder nicht (vgl. Beschluss der 3. Kammer
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des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 25. November 1994 - 2 BvR
852/93 -, a.a.O.). Es ist nicht ersichtlich oder dargetan, dass den Rechtsanwälten damit in
unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise der Zugang zu dem
Gericht erschwert worden wäre. Das Eingangsbestätigungsschreiben, das das für die
Rechtsanwälte selbst nicht feststellbare Datum der Rechtshängigkeit der Klage wiedergibt,
steht in unmittelbarem zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit der Klageerhebung.
Darin musste ein Anhalt gesehen werden, sich mit der Rechtsmittelfrist zu befassen.
Verstärkend kommt vorliegend hinzu, dass das Schreiben auf den Eingang der Klage vom
24. Juli 2001 am 31. Juli 2001 hinweist, damit also bereits auf den ersten Blick einen
Zeitraum bezeichnet, der nicht unerheblich über die übliche Postlauffrist von drei Tagen
hinausgeht.
Die verfassungsrechtliche Betrachtung gebietet es nicht, die Feststellung des Hindernisses
für die fristgemäße Klageerhebung auf der Grundlage des Eingangsbestätigungsschreibens
als für die Rechtsanwälte unzumutbar anzusehen, weil sie sich auf den fristgerechten
Klageeingang bei Gericht auf dem Postweg hätten verlassen dürfen. Verzögerungen bei
grundsätzlich regulärem Postlauf hindern lediglich die Annahme einer verschuldeten
Versäumnis der Rechtsmittelfrist. Hier geht es um die Anschlussfrage, welche
Anforderungen im Zusammenhang mit einem Wiedereinsetzungsantrag zu stellen sind. Die
Annahme der unverschuldeten Versäumung der Rechtsmittelfrist schlägt nicht auf das
Wiedereinsetzungsverfahren selbst durch, indem es die Sorgfaltsanforderungen für die
weitere Rechtswahrnehmung herabsetzt. Dafür gibt es weder eine sachliche Notwendigkeit
noch eine sachliche Rechtfertigung. Dem Zweck der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand,
eine Abwägung der Erfordernisse der Rechtssicherheit mit der Forderung nach materieller
Gerechtigkeit zu treffen, wird die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf angemessene
Weise gerecht.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Sommer
Di Fabio
Lübbe-Wolff