Urteil des BVerfG vom 30.06.2015

Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 433/15 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S …,
gegen
den Beschluss des Landgerichts Amberg
vom 9. Februar 2015 - 11 Qs 5/15 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Huber,
Müller,
Maidowski
am 30. Juni 2015 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Landgerichts Amberg vom 9. Februar 2015 - 11 Qs 5/15 - verletzt
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des
Grundgesetzes. Er wird aufgehoben, und die Sache wird an das Landgericht
zurückverwiesen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einst-weiligen Anordnung.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu
erstatten.
G r ü n d e :
I.
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Der Beschwerdeführer betreibt einen Blog. Gegen ihn werden verschiedene
Ermittlungsverfahren geführt, unter anderem wegen Beleidigung Dritter in seinen
Blogeinträgen und der Veröffentlichung von Teilen der Ermittlungsakten aus den
vorgenannten Ermittlungsverfahren.
1. Mit Beschluss vom 17. Dezember 2014 ordnete das Amtsgericht die Durchsuchung der
Wohnräume des Beschwerdeführers an. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, auf
den von ihm betriebenen Blogs wesentliche Auszüge aus den Ermittlungsakten der gegen ihn
geführten Ermittlungsverfahren veröffentlicht zu haben, deren Inhalte noch nicht in öffentlicher
Verhandlung erörtert wurden, und sich dadurch gemäß § 353d Nr. 3 StGB strafbar gemacht
zu haben.
2. Der Beschwerdeführer legte Beschwerde ein und trug vor, er habe lediglich kleine
Ausschnitte aus der Ermittlungsakte veröffentlicht, was keine Straftat, sondern die Ausübung
seiner durch Art. 5 GG und Art. 10 EMRK geschützten Meinungsfreiheit sei. Dass der
Beschluss sein Recht auf freie Meinungsäußerung verletze, ergebe sich auch aus der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, insbesondere aus den
Entscheidungen Pinto Coelho v. Portugal, Urteil vom 28. Juni 2011, Nr. 28439/08; Affaire
Ressiot et autres c. France, Urteil vom 28. Juni 2012, Nr. 15054/07 und 15066/07 sowie
Affaire Martin et autres c. France, Urteil vom 12. April 2012, Nr. 30002/08.
3. Mit angegriffenem Beschluss vom 9. Februar 2015 wies das Landgericht die als
Gegenvorstellung gegen den Beschluss des Landgerichts vom 18. September 2014
ausgelegte „Ergänzung der Beschwerde“ zurück und verwarf die Beschwerde gegen den
Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts vom 17. Dezember 2014 als unbegründet, ohne
dabei auf das Vorbringen des Beschwerdeführers zur Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte einzugehen.
4. Die Anhörungsrüge des Beschwerdeführers wies das Landgericht zurück.
5. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere einen
Verstoß gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör.
6. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hat zum Verfahren Stellung genommen.
II.
1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Landgerichts über
die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss vom 17. Dezember 2014 richtet,
nimmt die Kammer die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, da dies zur
Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt
ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die
Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen
bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG; vgl. BVerfGE 20, 162 <186 f.>; 96, 44
<51>; 115, 166 <197>). Die diesbezügliche Verfassungsbeschwerde ist zulässig und
offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
a) Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das entscheidende
Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung
zu ziehen (vgl. BVerfGE 11, 218 <220>; 72, 119 <121>; stRspr). Grundsätzlich ist davon
auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene Vorbringen der Beteiligten
auch zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat. Die Gerichte brauchen nicht
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jedes Vorbringen der Beteiligten in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich zu
bescheiden. Geht das Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei
zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den
Entscheidungsgründen jedoch nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des
Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich
oder aber offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 47, 182 <189>; 86, 133 <145 f.>).
b) Das Landgericht hat sich in den Gründen seines Beschlusses mit der Meinungsfreiheit
(Art. 5 Abs. 1 GG), insbesondere mit der vom Beschwerdeführer in seiner Beschwerde
angeführten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und
Art. 10 EMRK nicht weiter auseinandergesetzt, obwohl dies im Vorbringen des
Beschwerdeführers zentral war und auch materiell eine Auseinandersetzung mit Art. 10
EMRK nahe lag. Es ist daher - ohne dass daraus folgt, dass das Landgericht der
Beschwerde des Beschwerdeführers hätte stattgeben müssen - in der Sache von einer
Nichtberücksichtigung des Vorbringens durch das Landgericht auszugehen.
c) Hinsichtlich der weiteren gerügten Verfassungsverstöße ist die Verfassungsbeschwerde
unsubstantiiert.
d) Der Beschluss des Landgerichts Amberg ist im tenorierten Umfang aufzuheben; insoweit
ist die Sache an das Landgericht Amberg zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Zurückweisung der Gegenvorstellung
richtet, wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen (§ 93a, § 93b
Satz 1 BVerfGG), weil sie unzulässig ist. Die angegriffene Gegenvorstellung ist kein
tauglicher Gegenstand der Verfassungsbeschwerde.
3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
4. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erledigt sich mit der Entscheidung
über die Verfassungsbeschwerde.
Huber
Müller
Maidowski