Urteil des BVerfG vom 09.12.2014

Gebot des effektiven Rechtsschutzes verlangt Ausschöpfung sämtlicher erfolgversprechender Erkenntnisquellen im Rehabilitierungsverfahren

BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 429/11 -
IM NAMEN DES VOLKES
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau S…,
gegen
den Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden
vom 10. Januar 2011 - 1 Reha Ws 134/10 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Voßkuhle,
den Richter Landau
und die Richterin Hermanns
am 9. Dezember 2014 einstimmig beschlossen:
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 10. Januar 2011
- 1 Reha Ws 134/10 - verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus
Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes.
Er wird aufgehoben, soweit das Oberlandesgericht die Beschwerde gegen die
Ablehnung der Rehabilitierung wegen der Unterbringung der
Beschwerdeführerin in dem Jugendwerkhof Bad Köstritz im Zeitraum vom 9.
September 1985 bis 15. Februar 1987 als unbegründet verworfen hat. Im
Umfang der Aufhebung wird die Sache an das Oberlandesgericht
zurückverwiesen.
2. Das Land Sachsen hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen
zu erstatten.
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G r ü n d e :
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Antrags auf
Rehabilitierung wegen der Unterbringung in einem Jugendwerkhof in der ehemaligen
Deutschen Demokratischen Republik.
1. Die am 9. Februar 1970 geborene Beschwerdeführerin verbrachte ihre Kindheit
und Jugend überwiegend in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der ehemaligen
DDR. In ihrem Antrag auf Rehabilitierung, der sich zunächst auf alle Heimaufenthalte
im Zeitraum von 1974 bis 1988 bezog, machte sie unter anderem geltend, vom
Kinderheim Munzig aus sei sie am 9. September 1985 in den Jugendwerkhof Bad
Köstritz überstellt worden. Sie sei an diesem Tag aus dem Unterricht abgeführt
worden, ohne dass ihre Erzieher informiert gewesen seien. Sie vermute, dass der
Heimleiter für die Verbringung in den Jugendwerkhof verantwortlich sei, weil sie ihn
kurz zuvor „bei der Nachtwache einer Erzieherin bei einem Techtelmechtel“ gesehen
habe.
In den Archivbeständen des Landkreises Bautzen konnten zwei die
Beschwerdeführerin betreffende Beschlüsse des Jugendhilfeausschusses des Rates
des Kreises Bautzen über die Anordnung der Heimerziehung vom 23. März 1983 und
vom 8. Juli 1987 aufgefunden werden. Anfragen bei dem Landkreis Görlitz und
weitere Recherchen im Archiv Kamenz blieben ergebnislos.
Aus dem Beschluss vom 23. März 1983 ergibt sich, dass für die Beschwerdeführerin
am 13. Juni 1974 die Heimerziehung angeordnet worden war, weil ihre Mutter nicht
mehr in der Lage gewesen sei, sie zu versorgen. Nach der Entlassung aus dem Heim
im Jahr 1980 habe die Beschwerdeführerin seit Ende Dezember 1982 trotz
wiederholter Hausbesuche durch die Klassenlehrerin die Schule nicht mehr besucht.
Die Mutter sei nicht in der Lage, erzieherisch auf die Beschwerdeführerin einzuwirken
und bitte um die Unterbringung ihrer Tochter in einem Heim der Jugendhilfe. In der
Folge wurde die Beschwerdeführerin nach ihrem Vorbringen im Kinderheim Munzig
untergebracht. Aus dem Beschluss des Jugendhilfeausschusses vom 8. Juli 1987
geht hervor, dass die Beschwerdeführerin im Februar 1987 aus dem Jugendwerkhof
Bad Köstritz entlassen wurde.
2. Das Landgericht wies den Antrag auf Rehabilitierung zurück. Zur Begründung
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führte es aus, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Einweisung der
Beschwerdeführerin der politischen Verfolgung gedient habe. Die Heimeinweisung
sei auch nicht mit wesentlichen Grundsätzen der freiheitlichen rechtsstaatlichen
Ordnung unvereinbar. Anhaltspunkte dafür, dass sachfremde Erwägungen
entscheidend gewesen sein könnten, ergäben sich aus den Unterlagen nicht. Soweit
nicht bezüglich des gesamten Zeitraums der Heimeinweisung Unterlagen vorlägen,
sei die erforderliche Prüfung der Rechtmäßigkeit des Vollzugs nicht möglich. Der
Nachweis allein, dass die Beschwerdeführerin sich in einem Heim befunden habe,
reiche für eine Entscheidung ohnehin nicht aus. Maßgeblich sei der
Heimeinweisungsgrund, der aber für den gesamten Zeitraum nicht mehr ermittelt
werden könne. Allerdings sei davon auszugehen, dass auch der Aufenthalt in den
nicht belegbaren Zeiträumen aufgrund der insgesamt vorliegenden Erkenntnisse über
das Elternhaus der Beschwerdeführerin als rechtsstaatlich nicht bedenklich
angesehen werden müsse. Das könne aber dahinstehen.
3. Dagegen wendete sich die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Heimaufenthalte
in den Jahren von 1983 bis 1988 mit der Beschwerde und machte unter anderem
geltend, sie sei im Alter von 15 Jahren zu Unrecht in dem Jugendwerkhof Bad Köstritz
untergebracht worden. Unterlagen zu der Verlegung in den Jugendwerkhof fehlten in
den Akten. Der Jugendwerkhof sei ein Spezialheim für die Unterbringung
schwererziehbarer Jugendlicher ab 14 Jahre gewesen, deren Umerziehung im
Rahmen der Erziehungshilfe und anderer Möglichkeiten nicht mehr habe
gewährleistet werden können. In der öffentlichen Wahrnehmung habe der
Jugendwerkhof den Stellenwert einer Strafanstalt gehabt. Die Beschwerdeführerin sei
durch ihre Unterbringung dort zu Unrecht kriminalisiert worden. Die
Beschwerdeführerin habe keine Kenntnis der Gründe für die Einweisung. Es sei ihr
kein Fehlverhalten genannt und nicht erklärt worden, weshalb sie in den
Jugendwerkhof verbracht worden sei. Sie sei aus dem Schulunterricht von zwei
Männern abgeholt worden, habe ihre Sachen einpacken müssen und sei mit
unbekanntem Ziel weggebracht worden.
4. Mit dem angegriffenen Beschluss vom 10. Januar 2011 verwarf das
Oberlandesgericht Dresden die Beschwerde als unbegründet. Es sei nicht
feststellbar, dass die Einweisungen aus sachfremden Motiven erfolgt seien. Dass der
Übergang in den Jugendwerkhof Bad Köstritz am 9. September 1985 aus anderen als
aus Altersgründen - die Beschwerdeführerin habe das 15. Lebensjahr abgeschlossen
gehabt und sei nicht mehr schulpflichtig gewesen - erfolgt sei, sei nicht mit Tatsachen
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unterlegt.
5. Mit der Gehörsrüge machte die Beschwerdeführerin geltend, das
Oberlandesgericht habe ihre Ausführungen zu der Einweisung in den Jugendwerkhof
Bad Köstritz übergangen. Ihre Vermutung, dass der Leiter des Kinderheims Munzig
diese aus sachfremden Gründen veranlasst habe, sei für das Verfahren von zentraler
Bedeutung gewesen. Das Oberlandesgericht habe nicht erkennen lassen, dass es
sich mit diesem Vorbringen auseinandergesetzt habe. Sie sei entgegen der Annahme
des Oberlandesgerichts noch schulpflichtig gewesen. Außerdem hätten ihr Alter und
der vermeintliche Wegfall der Schulpflicht ihre Unterbringung im Jugendwerkhof nach
dem Recht der DDR nicht rechtfertigen können. Voraussetzung für eine Verlegung in
einen Jugendwerkhof sei ein Beschluss des Jugendhilfeausschusses gewesen, dem
die Feststellung einer Schwererziehbarkeit habe zugrunde liegen müssen. Sie sei
aber weder schwererziehbar gewesen noch straffällig geworden. Sie könne den
Willkürakt des Heimleiters nicht mit Tatsachen unterlegen, sondern nur Indizien
benennen. Solche seien, dass sie den verheirateten Heimleiter beim Liebesspiel mit
einer jungen Erzieherin beobachtet habe. Kurze Zeit später sei sie von zwei Männern
aus dem Unterricht geholt und entgegen der üblichen Praxis von dem Heimleiter
persönlich in seinem Privatwagen in den Jugendwerkhof verbracht worden. Keiner
habe von der Maßnahme zuvor gewusst, weder ihr Gruppenerzieher und
Schießtrainer im Heim noch ihre Mutter oder sie selbst. Weder ihre Lehrer noch ihre
Erzieher hätten ein Fehlverhalten ihrerseits bestätigt.
6. Das Oberlandesgericht wies die Gehörsrüge der Beschwerdeführerin zurück. Zur
Begründung führte es aus, der Anspruch auf rechtliches Gehör sei nicht verletzt. Im
Kern enthielten die Ausführungen der Beschwerdeführerin den Vorwurf, der Senat
habe hinsichtlich der Einweisung in den Jugendwerkhof Bad Köstritz fehlerhaft
entschieden. Damit könne sie nicht gehört werden. Eine Rehabilitierung sei nur dann
möglich, wenn die Gründe der Einweisung politischer Natur gewesen oder von
anderen sachfremden Erwägungen geleitet worden seien. Letzteres werde zwar
vorgetragen, sei aber nicht bewiesen. Zweifel hinsichtlich des Vorliegens der für eine
Rehabilitierung erforderlichen Anspruchsvoraussetzungen gingen zu Lasten der
Beschwerdeführerin.
7. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den
Beschluss des Oberlandesgerichts vom 10. Januar 2011, soweit ihre Beschwerde
gegen die Ablehnung des Antrags auf Rehabilitierung wegen der Unterbringung im
Jugendwerkhof Bad Köstritz im Zeitraum vom 9. September 1985 bis 15. Februar
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1987 zurückgewiesen worden ist. Sie rügt die Verletzung von Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art.
3 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
8. Das Sächsische Staatsministerium der Justiz und für Europa hat von einer
Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgesehen. Die Akten des
Ausgangsverfahrens waren beigezogen.
II.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b
BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte der
Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt
ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§
93c BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen
Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden.
Soweit das Oberlandesgericht annimmt, es sei nicht feststellbar, dass die am 9.
September 1985 erfolgte Einweisung der Beschwerdeführerin in den Jugendwerkhof
Bad Köstritz aus sachfremden Gründen im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes
über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger
Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet in der Fassung der Bekanntmachung
vom 17. Dezember 1999 (BGBl I S. 2264; Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz -
StrRehaG;
geändert
durch
das
Vierte
Gesetz
zur
Verbesserung
rehabilitierungsrechtlicher Vorschriften für Opfer der politischen Verfolgung in der
ehemaligen DDR vom 2. Dezember 2010, BGBl I S. 1744) erfolgt sei, verstößt der
Beschluss gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes.
1. Das Rechtsstaatsprinzip enthält das Gebot, wirksamen Rechtsschutz zu
gewähren, der grundsätzlich zu einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen
Prüfung des Verfahrensgegenstandes führen muss. Art. 2 Abs. 1 GG verleiht dem
Einzelnen ein Recht auf effektiven Rechtsschutz. Dieses Recht ist verletzt, wenn die
Gerichte die prozessrechtlichen Möglichkeiten etwa zur Sachverhaltsfeststellung so
eng auslegen, dass ihnen eine sachliche Prüfung der ihnen vorgelegten Fragen nicht
möglich ist und das vom Gesetzgeber verfolgte Verfahrensziel deshalb nicht erreicht
werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 3. Mai
1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 19).
§ 10 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG verpflichtet die Gerichte zur Aufklärung des
Sachverhalts von Amts wegen. Dies erschien dem Gesetzgeber nicht nur wegen der
Nähe zum Strafverfahren notwendig, sondern auch im Hinblick auf die besondere
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Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber den Antragstellern und wegen der
Schwierigkeit erforderlich, die häufig in ferner Vergangenheit liegenden Sachverhalte
zu ermitteln. Das Gericht muss deshalb die für seine Entscheidung erheblichen
Tatsachen selbst prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats
vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 20). Es muss Hinweisen auf eine
mögliche politische Verfolgung oder sonstige sachfremde Gründe unter Ausnutzung
aller ihm im Freibeweisverfahren zur Verfügung stehenden Mittel nachgehen. Da es
hierzu von Amts wegen verpflichtet ist, sind an die Darlegung durch den Antragsteller
keine allzu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer
des Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 20; Herzler, in:
Herzler/Ladner/Peifer/Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl. 1997, § 10
StrRehaG Rn. 5, Rn. 8 a.E.). Das Gericht hat von sich aus - im Rahmen
pflichtgemäßen Ermessens - die zur Aufklärung des Sachverhalts notwendigen
Maßnahmen zu treffen. Es hat - unterstützt von der Staatsanwaltschaft und durch die
in § 10 Abs. 2 StrRehaG normierte Mitwirkungspflicht des Antragstellers - sämtliche
Erkenntnisquellen zu verwenden, die erfahrungsgemäß dazu führen können, die
Angaben eines Betroffenen zu bestätigen (vgl. BVerfGK 4, 119 <129> zu einer
Rehabilitierung wegen einer Einweisung in die Psychiatrie; BVerfG, Beschluss der 1.
Kammer des Zweiten Senats vom 24. September 2014 - 2 BvR 2782/10 -, juris, Rn.
53).
Kommt es dieser Verpflichtung nicht nach, so verweigert es dem Betroffenen die von
Rechtsstaats wegen geforderte Überprüfung erheblicher Tatsachen und verfehlt damit
schlechterdings das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel, zur Rehabilitierung politisch
(Straf-)Verfolgter die fortdauernde Wirksamkeit von Urteilen der Gerichte (oder
Entscheidungen der Behörden) der ehemaligen DDR zu durchbrechen. Ein
solchermaßen ineffektives Rehabilitierungsverfahren steht in Widerspruch zum
Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats vom 3. Mai 1995 - 2 BvR 1023/94 -, juris, Rn. 20).
(Erst) wenn das Gericht alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft hat, entscheidet
es in freier Beweiswürdigung (vgl. Herzler, in: Herzler/Ladner/Peifer/
Schwarze/Wende, Rehabilitierung, 2. Aufl. 1997, § 10 StrRehaG Rn. 7). § 10 Abs. 2
StrRehaG fordert insoweit nicht den vollen Beweis, sondern lässt die
Glaubhaftmachung genügen. Damit wird für das Rehabilitierungsverfahren
ausdrücklich klargestellt, dass der Richter sich für seine Überzeugungsbildung mit
einem geringeren Maß an Wahrscheinlichkeit begnügen kann. Es genügt eine
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überwiegende Wahrscheinlichkeit (vgl. Herzler, a.a.O., § 10 StrRehaG Rn. 10). Die
Nichterweislichkeit anspruchsbegründender Tatsachen geht allerdings zu Lasten des
Antragstellers. Die Rehabilitierungsgerichte sind von Verfassungs wegen nicht
gehalten, im Zweifel für den Antragsteller zu entscheiden. Der Grundsatz in dubio pro
reo gilt nicht (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 16.
Februar 2000 - 2 BvR 1601/94 -, juris, Rn. 2; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Zweiten Senats vom 24. September 2014 - 2 BvR 2782/10 -, juris, Rn. 55).
2. Nach diesem Maßstab hat das Oberlandesgericht seine Aufgabe zur Gewährung
effektiven
Rechtsschutzes
verfehlt,
indem
es
der
ihm
obliegenden
Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend nachgekommen ist (vgl. BVerfGK 4, 119
<130>).
Die Vorschriften des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes finden auf eine
außerhalb eines Strafverfahrens ergangene gerichtliche oder behördliche
Entscheidung, mit der eine Freiheitsentziehung angeordnet worden ist,
entsprechende Anwendung. Das gilt insbesondere für eine Anordnung einer
Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, die der politischen
Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat, § 2 Abs. 1 StrRehaG. Für
die Entscheidung über den Rehabilitierungsantrag der Beschwerdeführerin war daher
erheblich, aus welchen Gründen es am 9. September 1985 zu ihrer Einweisung in
den Jugendwerkhof Bad Köstritz gekommen ist.
a) Die Beschwerdeführerin hatte im Verfahren die Vermutung geäußert, dass sie in
den Jugendwerkhof verbracht worden sei, weil sie kurz zuvor den Direktor des
Kinderheims Munzig in einer verfänglichen Situation mit einer Erzieherin beobachtet
habe. Gründe für die Einweisung in den Jugendwerkhof oder ein Fehlverhalten seien
ihr nicht genannt worden. Auch ihre Erzieher hätten von der Einweisung keine
Kenntnis gehabt.
Dieses Vorbringen der Beschwerdeführerin wertet das Oberlandesgericht zwar - wie
sich aus seinem die Anhörungsrüge zurückweisenden Beschluss ergibt - als Vortrag
einer von sachfremden Zwecken geleiteten Einweisung im Sinne von § 2 Abs. 1
StrRehaG in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG. Der Vortrag ließ zudem
nicht von vornherein ausgeschlossen erscheinen, dass - wie die Beschwerdeführerin
in der Anhörungsrüge und in der Verfassungsbeschwerde weiter ausgeführt hat - für
die Einweisung in den Jugendwerkhof sämtliche der dafür nach dem Recht der
ehemaligen DDR geltenden Voraussetzungen fehlten und diese deshalb mit
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wesentlichen Grundsätzen einer freiheitlichen rechtsstaatlichen Ordnung unvereinbar
war (vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 12. August 1996 - 1 Ws (Reha) 158/95 -,
VIZ 1997, 317 <319>).
b) Das Oberlandesgericht hat aber den Vortrag als nicht bewiesen angesehen und
Versuche, den Sachverhalt von sich aus weiter aufzuklären, von vornherein nicht in
Betracht gezogen. Damit ist es seiner Aufgabe zur Amtsermittlung nicht hinreichend
nachgekommen.
aa) Seine Annahme, die Beschwerdeführerin könne, nachdem sie am 9. Februar
1985 15 Jahre alt geworden sei, im September 1985 allein aus Altersgründen in den
Jugendwerkhof verlegt worden sein, ist mit den Regelungen der ehemaligen DDR
über die Heimerziehung nicht vereinbar.
(1) Das Heimsystem der DDR differenzierte stark zwischen „normal erziehbaren“
und „schwererziehbaren“ Kindern, wobei letztere einer repressiven Umerziehung
ausgesetzt waren (Wapler, Rechtsfragen der Heimerziehung in der DDR, in:
Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR - Expertisen - hrsgg. von dem
Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, März 2012, S. 37;
S. 72 ff.).
Gemäß § 1 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22. April
1965 (DDR-GBl II S. 368) waren Spezialheime Einrichtungen der Jugendhilfe zur
Umerziehung von Minderjährigen. In Spezialheime wurden schwererziehbare und
straffällige Jugendliche sowie schwererziehbare Kinder aufgenommen (§ 1 Abs. 2
Satz 1 der Anordnung). Sie gliederten sich in Aufnahmeheime, Spezialkinderheime
für Kinder bis 14 Jahre und Jugendwerkhöfe für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren
(§ 2 Abs. 1 der Anordnung; vgl. Wapler, a.a.O., S. 35; Laudien/Sachse,
Erziehungsvorstellungen in der Heimerziehung der DDR, in: Aufarbeitung der
Heimerziehung in der DDR - Expertisen - hrsgg. von dem Beauftragten der
Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, März 2012, S. 180 ff.; Krausz,
Jugendwerkhöfe in der DDR, 2010, S. 37 ff.; Jörns, Der Jugendwerkhof im
Jugendhilfesystem der DDR, 1995, S. 57 ff.; S. 65 ff.; Sengbusch, Das System der
Jugendwerkhöfe in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung
von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band III.3, 1995,
S. 1812 ff.).
Demgegenüber waren nicht als schwererziehbar eingestufte Kinder in den
sogenannten Normalheimen unterzubringen, wobei es Vorschulheime für Drei- bis
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Sechsjährige, Kinderheime für sechs- bis 16jährige und Jugendwohnheime für 16-
bis 18jährige Kinder und Jugendliche gab, die von den Räten der Kreise verwaltet
wurden (vgl. Wapler, a.a.O., S. 35).
Zuständig für die Anordnung der Heimerziehung war gemäß § 23 Abs. 1 Buchstabe
f der Verordnung über die Aufgaben und die Arbeitsweise der Organe der Jugendhilfe
vom 3. März 1966 (Jugendhilfeverordnung - JHVO, DDR-GBl II S. 215) der bei dem
Rat des Kreises gebildete Jugendhilfeausschuss, der sich aus drei bis fünf in der
Erziehungsarbeit erfahrenen Bürgern zusammensetzten sollte, § 16 JHVO. Das von
dem Jugendhilfeausschuss zu beachtende Verfahren richtete sich nach §§ 36 ff.
JHVO. War die Heimerziehung angeordnet, konnte das Kind oder der Jugendliche in
ein Heim eingewiesen werden. Für die Einweisung waren die Organe der
Jugendhilfe (bestehend aus dem Jugendhilfeausschuss und dem Referat Jugendhilfe
des Rates des Kreises, vgl. § 4 Abs. 1 JHVO) zuständig, wobei die Auswahl des
Heims grundsätzlich dem Referat Jugendhilfe des Rates des Kreises (vgl. § 15
JHVO) oblag (vgl. Wapler, a.a.O., S. 70 f.).
(2) Dass die Beschwerdeführerin schon vor der Verbringung in den Jugendwerkhof
in einem Spezialkinderheim untergebracht, also durch ein Organ der Jugendhilfe als
schwererziehbar eingestuft worden war, hat das Oberlandesgericht nicht festgestellt.
Befand sich die Beschwerdeführerin - wie sie auch geltend macht - zuvor in einem
Normalkinderheim, kam eine Verlegung in den Jugendwerkhof (allein) aus
Altersgründen nach dem Recht der ehemaligen DDR nicht in Betracht. Eine solche
hätte zudem nach dem Ausgeführten bereits im Alter von 14 Jahren erfolgen müssen.
Selbst wenn dennoch für die Verlegung - wie das Oberlandesgericht annimmt - allein
Altersgründe maßgeblich waren, ist nicht nachvollziehbar, weshalb es dazu nicht
spätestens zum Schuljahresende kam, sondern die Beschwerdeführerin (erst) am 9.
September 1985 aus dem Unterricht heraus in den Jugendwerkhof verbracht wurde.
bb) Vor diesem Hintergrund hätte der Vortrag der Beschwerdeführerin das
Oberlandesgericht
veranlassen
müssen,
auf
weitere
Angaben
der
Beschwerdeführerin zu den näheren Umständen ihrer Unterbringung im
Jugendwerkhof hinzuwirken. Hätte das Oberlandesgericht auf die Notwendigkeit der
Ergänzung des entsprechenden Tatsachenvortrags hingewiesen, hätte die
Beschwerdeführerin auch Anlass gehabt, wie im Anhörungsrügeverfahren und
nunmehr im Verfassungsbeschwerdeverfahren nachzutragen, welche erhebliche
Bedeutung ihre Beobachtung für den verheirateten Leiter des Heims gehabt habe,
sowie, dass sie eine „ganz normale 15jährige Schülerin“ gewesen sei, weder ihre
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Erzieher noch ihre Lehrer ein Fehlverhalten ihrerseits bestätigt hätten, weder ihre
Klassenleiterin noch ihre Mutter über ihre bevorstehende Einweisung in den
Jugendwerkhof informiert gewesen seien und ihr Gruppenerzieher und Schießtrainer
ihr an dem Tag, als sie überraschend aus dem Unterricht zum Einpacken ihrer
Sachen in das Kinderheim und sodann in den Jugendwerkhof verbracht worden sei,
„unter Tränen“ versichert habe, „dass er nichts von der Sache wusste“.
cc) Auf der Grundlage dieses Vortrags hätte die Möglichkeit und Notwendigkeit
weiterer Ermittlungen bestanden, von denen das Oberlandesgericht ohne
Begründung abgesehen hat.
(1) Es hätte zunächst durch eine Rückfrage bei dem Archiv des Landkreises
Bautzen festgestellt werden können, ob die Art der Archivierung der aufgefundenen
Beschlüsse, etwa in einer Sammelakte nach Vernichtung der (übrigen)
Aktenbestandteile wegen Ablaufs der Aufbewahrungsfrist, Rückschlüsse darauf
zulässt, dass es einen Beschluss des Jugendhilfeausschusses über die Einweisung
in den Jugendwerkhof Bad Köstritz nie gegeben hat.
(2) Es hätte weiter nahegelegen, der Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 2
StrRehaG aufzugeben, eine Sachverhaltsdarstellung ihrer Mutter einzureichen und
den Heimleiter, ihre damalige Klassenleiterin und ihren Gruppenerzieher im
Kinderheim Munzig namentlich zu benennen. Gegebenenfalls hätte sodann der -
jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos erscheinende - Versuch unternommen
werden können, die genannten Personen zu ermitteln und sie als Zeugen zu
vernehmen. Ferner können auch die Schulzeugnisse der Beschwerdeführerin aus
dem Schuljahr 1984/85 möglicherweise Aufschluss darüber geben, ob schulische
Schwierigkeiten oder sonstige Verhaltensauffälligkeiten der Beschwerdeführerin
Auslöser für die Verlegung in den Jugendwerkhof gewesen sein können.
(3) Einen weiteren Ermittlungsanhalt stellte die Möglichkeit dar, dass bei den
Unterlagen des ehemaligen Jugendwerkhofs Bad Köstritz, die sich im Thüringischen
Staatsarchiv Rudolstadt und im Kreisarchiv des Landratsamts Greiz befinden, die
Beschwerdeführerin betreffende Akten ermittelt werden könnten (vgl. Übersicht über
den Verbleib von Unterlagen ehemaliger Jugendwerkhöfe in der DDR, Stand 30. Juni
2014, Bundesarchiv, abrufbar unter www.bundesarchiv.de). Die Beschwerdeführerin
hatte bereits erstinstanzlich vorgetragen, dass auch bei dem Jugendwerkhof Akten
über sie geführt wurden, die Angaben zu den Einweisungsgründen enthalten haben
sollen. Entsprechende Anfragen sind bisher unterblieben.
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(4) Schließlich ist dem Beschluss des Jugendhilfeausschusses vom 23. März 1983
zu entnehmen, dass die Angestellte beim Rat der Gemeinde Nostitz Frau K… damit
beauftragt war, die Durchsetzung des weiteren Erziehungsprogramms im Dezember
1983, Juli 1984 und Januar 1985 zu kontrollieren und im Januar 1985 zu prüfen, ob
eine Entlassung der Beschwerdeführerin möglich sei. Es hätte nahegelegen, durch
eine - nicht von vornherein aussichtslos erscheinende - Anfrage bei dem Landkreis
Bautzen oder der Stadt Weißenberg, in die die damalige Gemeinde Nostitz
zwischenzeitlich eingemeindet worden ist, zu klären, ob diese Zeugin ermittelt
werden kann. Gleiches gilt für die in dem Beschluss als zuständige Jugendfürsorgerin
genannte Frau B….
III.
1. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Dresden vom 10. Januar 2011 ist wegen
des Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG aufzuheben (§
93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG), soweit das Oberlandesgericht die
Beschwerde gegen die Ablehnung der Rehabilitierung wegen der Unterbringung der
Beschwerdeführerin in dem Jugendwerkhof Bad Köstritz im Zeitraum vom 9.
September 1985 bis 15. Februar 1987 als unbegründet verworfen hat. Die Sache ist
im Umfang der Aufhebung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2
BVerfGG). Es kann daher dahinstehen, ob die Entscheidung des Oberlandesgerichts
die Beschwerdeführerin auch in ihren Grundrechten aus Art. 1, Art. 3 Abs. 1 GG und
Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen der
Beschwerdeführerin beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Voßkuhle
Landau
Hermanns