Urteil des BVerfG vom 21.01.2003

recht auf akteneinsicht, verfassungsbeschwerde, unterrichtung, vollzugsplanung

- Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Olaf Heischel,
Hauptstraße 19, 10827 Berlin -
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 406/02 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn L...
gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 21. Februar 2002 - Ws
160/02 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 7. Januar 2002 - StVK
154/01 -,
c) den Bescheid der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 17. September 2001 - I c
1 - 448/1992 -
und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Rechtsanwalts
Dr. Heischel, Berlin
hat die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Jentsch,
Broß
und die Richterin Lübbe-Wolff
gemäß § 93c in Verbindung mit § 93a Absatz 2 Buchstabe b BVerfGG in der Fassung der
Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 21. Januar 2003 einstimmig
beschlossen:
Dem Beschwerdeführer wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung unter Beiordnung des
Rechtsanwalts Dr. Heischel, Berlin, bewilligt.
Der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 7. Januar 2002 - StVK 154/01 - und der
Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 21. Februar 2002 - Ws 160/02 - verletzen
den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel
1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die genannten Entscheidungen werden aufgehoben. Die
Sache wird an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen.
Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
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Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde betrifft das Begehren eines Strafgefangenen, ihm oder seinem
anwaltlichen Bevollmächtigten eine Abschrift des ihn betreffenden Vollzugsplans
auszuhändigen, und, damit zusammenhängend, die Voraussetzungen der Akteneinsicht
gemäß § 185 StVollzG.
I.
1. Der Beschwerdeführer ist Strafgefangener in der Justizvollzugsanstalt Straubing und
verbüßt dort seit August 1992 eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes. Durch seinen
Bevollmächtigten beantragte er mit Schreiben vom 21. Juni 2001 die Aushändigung des ihn
betreffenden Vollzugsplans nebst Fortschreibungen, die Übersendung und Aushändigung
einer Kopie des Protokolls zur letzten Fortschreibung des Vollzugsplans mit Angaben zur
Überprüfung des formalen und inhaltlichen Ablaufs gemäß § 159 StVollzG. Durch Bescheid
vom 17. September 2001 lehnte die Justizvollzugsanstalt diesen Antrag ab. Zur Begründung
führte sie aus, der ausführliche Vollstreckungsplan sei dem Beschwerdeführer erst am 12.
Juni 2001 mündlich eröffnet worden; dabei habe er sich handschriftliche Notizen machen
können. Die darüber hinausgehende Aushändigung einer Abschrift des Vollzugsplans sei vor
diesem Hintergrund nicht erforderlich.
2. Gegen die Ablehnung seines Antrags stellte der Beschwerdeführer am 24. September
2001 Antrag auf gerichtliche Entscheidung bei der Auswärtigen Strafvollstreckungskammer
des Landgerichts Regensburg mit Sitz in Straubing. Die Strafvollstreckungskammer lehnte
den Antrag mit Beschluss vom 7. Januar 2002 als unbegründet ab. Die Gewährung von
Akteneinsicht und somit auch die Gewährung von Ablichtungen aus den Akten liege im
pflichtgemäßen Ermessen der Vollzugsbehörde. Nach dem Wortlaut des § 185 Satz 1
StVollzG könne der Betroffene Akteneinsicht nur beanspruchen, soweit eine Auskunft für die
Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht und er hierfür auf die
Einsichtnahme angewiesen ist. Die pauschale Behauptung, in dem Vollzugsplan fehlten
einige der gesetzlich vorgeschriebenen Mindestfestsetzungen, reiche als Darlegung eines
entsprechenden Interesses nicht aus. Eine schriftliche Unterrichtung über den Inhalt des
Vollzugsplans sei nicht erforderlich. Vielmehr sei gerade eine mündliche Unterrichtung in
besonderer Weise geeignet, dem Gefangenen Klarheit über sein weiteres Schicksal im
Vollzug zu verschaffen. Dem Beschwerdeführer stehe es frei, eine ausführliche mündliche
Eröffnung des Vollzugsplans bei der Justizvollzugsanstalt zu beantragen, sofern die
Unterrichtung vom 12. Juni 2001 nicht ausreichend gewesen sein sollte.
3. Mit Beschluss vom 21. Februar 2002 verwarf das Oberlandesgericht Nürnberg die
hiergegen vom Beschwerdeführer eingelegte Rechtsbeschwerde als unzulässig. Die
Strafvollstreckungskammer sei zutreffend davon ausgegangen, § 185 Satz 1 StVollzG
gewähre dem Strafgefangenen ein Recht auf Akteneinsicht nur für den Fall, dass eine
Auskunft aus der Akte für die Wahrnehmung seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht
und er hierfür auf die Akteneinsicht angewiesen ist. Dies habe der Beschwerdeführer nicht
ausreichend dargetan.
4. Mit der Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer den Bescheid der
Justizvollzugsanstalt Straubing sowie die dazu ergangenen gerichtlichen Entscheidungen an.
Er sieht sich durch sie in seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 i.V.m. Art. 103 Abs. 1
sowie Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verletzt. Durch die Ablehnung seines Antrags auf
Aushändigung der begehrten Aktenauszüge sei sein Recht auf aktive Beteiligung an seiner
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Resozialisierung ebenso verletzt wie sein Recht, durch Kenntnisnahme von den ihn
betreffenden Verwaltungsvorgängen die Wahrung seiner die Vollzugsplanung betreffenden
inhaltlichen Rechte zu überprüfen.
5. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme. Es
führte aus, dass jedem Strafgefangenen das Recht eingeräumt sei, sich jederzeit um ein
Gespräch mit den zuständigen Bediensteten zu bemühen, mit welchen eingehend Fragen der
Vollzugsplanung erörtert und diskutiert werden könnten. Dem Gefangenen könnten hierbei
die Inhalte des Vollzugsplans erläutert werden, um Missverständnisse von vornherein
auszuschließen. Jeder Gefangene könne dabei konkrete Fragen stellen, sich Notizen
machen und Absichtserklärungen abgeben, mit denen er auf den Vollzugsplan und dessen
Fortschreibung Einfluss nehmen könne. Darüber hinaus dürfe nicht übersehen werden, dass
der Vollzugsplan gerade bei Gefangenen, die lange Strafen zu verbüßen haben, einer
ständigen Entwicklung unterliege. Im Falle einer Aushändigung bestünde die Gefahr, dass
der Gefangene sich auf eine ihm schriftlich vorliegende, tatsächlich jedoch überholte
Vollzugsplanung berufe. Vermeintlich enttäuschte Erwartungen des Gefangenen könnten
zudem dazu führen, dass der Gefangene zu einer weiteren Mitarbeit am Vollzugsziel nicht
mehr bereit sei. Dieser Folge könne durch eine generelle mündliche Erläuterung
entgegengewirkt werden.
II.
1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur
Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des
Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende
Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der
Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze der Rechtsstellung des Gefangenen im
Vollzug hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (s. im Einzelnen unter 2.). Nach
diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet im Sinne des
§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffenen Beschlüsse des Landgerichts und des
Oberlandesgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG.
2. Die Annahme des Landgerichts und des Oberlandesgerichts, der Beschwerdeführer
könne grundsätzlich auf eine ausschließlich mündliche Unterrichtung über den Inhalt des
Vollzugsplans verwiesen werden, ist verfassungsrechtlich nicht tragfähig.
a) Aus dem durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG grundrechtlich geschützten
Resozialisierungsinteresse des Strafgefangenen, das auch darauf gerichtet ist,
Rahmenbedingungen herzustellen, die seiner Bewährung und Wiedereingliederung förderlich
sind (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187 <238 f.>; 64, 261 <272 f.>;
stRspr), folgt ein Anspruch des Strafgefangenen, über den Vollzugsplan so unterrichtet zu
werden, dass ihm die Mitwirkung an seiner Behandlung möglich ist (vgl. § 4 Abs. 1 StVollzG)
und er seine die Vollzugsplanung betreffenden Rechte wahrnehmen kann. Der Vollzugsplan
ist vom Strafvollzugsgesetz als zentrales Element des dem Resozialisierungsziel
verpflichteten Vollzugs konzipiert. Als eine Art "Gesamt-Fahrplan" (Callies/Müller-Dietz,
StVollzG, 9. Aufl. 2002, § 7, Rn. 2) bildet er das "Kernstück" eines behandlungsorientierten
Vollzugs (Mey in: Schwind/Böhm , StVollzG, 3. Aufl. 1999, § 7, Rn. 3), dem der
Gefangene von Verfassungs wegen nicht als passives Objekt unterworfen sein, sondern an
dem er sich aktiv beteiligen können soll. Wegen dieser zentralen Bedeutung muss der
Vollzugsplan auch gerichtlich daraufhin kontrollierbar sein, ob die Rechtsvorschriften für das
Aufstellungsverfahren beachtet wurden und das inhaltliche Gestaltungsermessen der
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Behörde rechtsfehlerfrei ausgeübt worden ist (Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats
des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 1993 - 2 BvR 594/92 -, StV 1994, S. 93).
Dem grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse des Strafgefangenen und der
Bedeutung des Vollzugsplans in diesem Zusammenhang würde es nicht gerecht, wenn dem
Gefangenen ein von ihm gewünschter Einblick in den für ihn erstellten Vollzugsplan
grundsätzlich unter Verweis auf das Ausreichen mündlicher Auskünfte verweigert werden
könnte. Da der Betroffene ohne Zugang zur schriftlichen Fassung des Vollzugsplans nicht in
der Lage ist, die Vollständigkeit und Richtigkeit der ihm erteilten Auskunft zu überprüfen,
würde das Beharren auf einer ausschließlich mündlichen Auskunftserteilung dem zentralen
Anliegen des Vollzugsplans zuwiderlaufen, dem Gefangenen - im Rahmen des Möglichen -
eine gewisse Planungssicherheit und damit eine Grundlage für eigenes zukunftsorientiertes
Verhalten zu vermitteln.
Zwar trifft es zu, dass der Vollzugsplan gerade beim Vollzug längerer Strafen der
Weiterentwicklung, insbesondere in Abhängigkeit von der Entwicklung des Gefangenen
selbst, unterliegt. Daher ist nicht auszuschließen, dass sich ein Strafgefangener auf eine ihm
zur Kenntnis gegebene Vollzugsplanung zu einem Zeitpunkt beruft, zu dem diese bereits
überholt ist. Diese Möglichkeit besteht jedoch unabhängig davon, ob er vom Inhalt des
Vollzugsplans in mündlicher oder in schriftlicher Form informiert wurde. Die geltend
gemachte Gefahr, dass der Gefangene aus der Kenntnis vom Inhalt seines Vollzugsplans
Rechtsansprüche ableitet, die der Plan tatsächlich nicht vermittelt, ist daher nicht in
spezifischer Weise mit der Form der Unterrichtung verknüpft und kann schon deshalb eine
grundsätzliche Beschränkung auf mündliche Informationen über den Inhalt des Vollzugsplans
nicht rechtfertigen. Wenn die Beschränkung auf mündliche Auskünfte als ein Mittel betrachtet
und eingesetzt wird, dem Gefangenen das Gebrauchmachen von Kenntnissen über den
Inhalt des Vollzugsplans zu erschweren, so zeigt sich gerade darin, dass diese
Beschränkung der verfassungsrechtlichen Rechtsstellung des Gefangenen als Träger
subjektiver Rechte nicht gerecht wird, liegt es doch gerade im Wesen dieser Rechte, dass
s i e aktiv geltend gemacht werden können. Das Anliegen der Vermeidung von
Missverständnissen und unsachgerechten Enttäuschungsreaktionen auf Seiten des
Gefangenen mag mündliche Erläuterungen als sinnvoll erscheinen lassen, kann aber keine
Beschränkung auf diese Form der Informationsübermittlung rechtfertigen.
b) Dabei braucht über die Frage, ob mit dem grundrechtlich fundierten Interesse des
Strafgefangenen, vom Inhalt des Vollzugsplans und dessen Fortschreibungen anhand des
schriftlichen Textes Kenntnis zu nehmen und damit auf für ihn verlässlicher Grundlage prüfen
zu können, ob seine den Vollzugsplan betreffenden Rechte gewahrt sind, ein
Rechtsanspruch gerade auf Aushändigung einer Abschrift korrespondiert, nicht abschließend
befunden zu werden (im Ergebnis ablehnend: OLG Karlsruhe ZfStrVO 1980, S. 184; OLG
Hamm NStZ 1985, S. 47; bejahend: OLG Celle NStZ 1982, S. 136 sowie Schöch in:
Kaiser/Schöch , Strafvollzug, 5. Aufl. 2002, § 7, Rn. 17 und Feest/Joester in: Feest
, AK-StVollzG, 4. Aufl. 2000, § 7, Rn. 6). Jedenfalls begegnet die tragende Erwägung,
mit der sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht einen solchen Anspruch
verneint haben, durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Beide Gerichte gehen
übereinstimmend davon aus, dass die Frage, ob ein Rechtsanspruch auf Aushändigung einer
Kopie des Vollzugsplans besteht, nach den gesetzlichen Vorschriften über die Gewährung
von Akteneinsicht zu beantworten ist (zur Einordnung der Aushändigung einer Abschrift oder
Ablichtung aus den Akten als Unterfall des Akteneinsichtsrechts vgl. auch Meyer-Goßner in:
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO, 46. Aufl. 2003, § 147, Rn. 6, m.w.N.). Das Landgericht wie
auch das Oberlandesgericht verneinen für den vorliegenden Fall einen Anspruch auf
Aushändigung
einer Abschrift des Vollzugsplans, weil nach ihrer Auffassung die
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Voraussetzungen eines Akteneinsichtsrechts nach § 185 StVollzG nicht erfüllt sind.
§ 185 StVollzG räumt dem Gefangenen einen Anspruch auf Akteneinsicht nach Maßgabe
des § 19 BDSG unter der Voraussetzung ein, dass eine mündliche Auskunft für die Wahrung
seiner rechtlichen Interessen nicht ausreicht. Ob ein rechtliches Interesse im Sinne dieser
Bestimmung regelmäßig schon im Hinblick auf das Recht des Gefangenen auf
informationelle Selbstbestimmung zu bejahen ist (Weichert in: Feest , AK-StVollzG,
§ 185, Rn. 9; ders., ZStrVO 2000, S. 88 <89>; a. A.: Schmid in: Schwind/Böhm ,
StVollzG, § 185, Rn. 9 ff., jew. m.w.N.), kann hier offenbleiben. Bei grundrechtskonformer
Auslegung ist aus den oben dargelegten Gründen die Erforderlichkeit der Akteneinsicht zur
Wahrung der rechtlichen Interessen des Gefangenen jedenfalls dann gegeben, wenn der
Gefangene Einsicht in seinen Vollzugsplan begehrt.
3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf der nicht hinreichenden Berücksichtigung
der Grundrechte des Beschwerdeführers im Rahmen der Auslegung des § 185 StVollzG.
Angesichts des Zusammenhangs zwischen dem vom Beschwerdeführer geltend gemachten
Anspruch auf Aushändigung einer Abschrift des Vollzugsplans und der Reichweite des
Akteneinsichtsrechts nach § 185 StVollzG, den beide Gerichte verfassungsrechtlich
beanstandungsfrei angenommen haben, ist davon auszugehen, dass die Fachgerichte eine
f ü r den Beschwerdeführer günstigere Entscheidung getroffen hätten, wenn sie -
verfassungsrechtlich zutreffend - von einem Recht des Gefangenen auf Einsichtnahme in
seinen Vollzugsplan ausgegangen wären.
4. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2
BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Jentsch
Broß
Lübbe-Wolff