Urteil des BVerfG vom 12.10.2010
BVerfG: verfassungsbeschwerde, erlass, abschiebung, mitgliedstaat, aeuv, hauptsache, ausschluss, lastenverteilung, rechtsverordnung, sicherheit
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 1902/10 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn H ...,
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Reinhard Marx,
Mainzer Landstraße 127a, 60327 Frankfurt am Main -
gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 20. August 2010 - 3 L
1116/10.KS.A -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Osterloh
und die Richter Mellinghoff,
Gerhardt
am 12. Oktober 2010 einstimmig beschlossen:
Dem Regierungspräsidium K. wird im Wege der einstweiligen Anordnung die Vollziehung der Abschiebung des
Antragstellers nach Griechenland vorläufig untersagt.
Das Land Hessen hat dem Antragsteller die notwendigen Auslagen für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung zu erstatten.
Gründe:
1
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG in einem Verfahren betreffend die
Überstellung eines afghanischen Asylantragstellers nach Griechenland in Anwendung der Verordnung (EG)
Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 (ABl Nr. L 50 S. 1) zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur
Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat
gestellten Asylantrags zuständig ist, hat Erfolg.
2
1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige
Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum
gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen
Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde
erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Bei offenem Ausgang des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine
einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile abwägen, die
entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde der Erfolg aber zu
versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>; stRspr).
3
2. Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die Verfassungsbeschwerde offensichtlich
unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre.
4
Die Verfassungsbeschwerde kann Anlass zur Untersuchung geben, ob und gegebenenfalls welche Vorgaben das
Grundgesetz in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG und Art. 16a Abs. 2 Sätze 1 und 3 GG für die fachgerichtliche Prüfung der
Grenzen des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfGE 94, 49 <99 f.>) bei der Anwendung von § 34a
Abs. 2 AsylVfG trifft, wenn Gegenstand des Eilrechtsschutzantrags eine beabsichtigte Abschiebung in einen nach der
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 zuständigen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union ist. Es könnte dabei auch
zu klären sein, ob und welche Vorgaben das Grundgesetz zur Gewährung vorläufigen Schutzes für den Zeitraum trifft,
den die Organe der Europäischen Union benötigen, Erkenntnisse über für Asylsuchende bedrohliche tatsächliche oder
rechtliche Defizite des Asylsystems eines Mitgliedstaats auszuwerten und erforderliche Maßnahmen durchzusetzen.
Bei der Würdigung von Art. 16a Abs. 2 und 5 GG sowie Art. 19 Abs. 4 GG könnten in diesem Zusammenhang auch
die Anforderungen des Rechts der Europäischen Union zur Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der
Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (vgl. Art. 2 4. Spiegelstrich EUV; vgl. zur Rechtslage seit Inkrafttreten des
Vertrags von Lissabon : Art. 67 AEUV und Art. 77 - 80 AEUV) eine Rolle spielen, da der
verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Einführung von Art. 16a GG die Grundlage für eine europäische
Gesamtregelung der Schutzgewährung für Flüchtlinge mit dem Ziel einer Lastenverteilung zwischen den an einem
solchen System beteiligten Staaten geschaffen hat (vgl. BVerfGE 94, 49 <85>).
5
Angesichts dieser offenen Fragen ist nicht zu erkennen, dass die Verfassungsbeschwerde offensichtlich
unbegründet wäre. Auch unter Berücksichtigung der zwischenzeitlich gerichtsbekannten, umfangreichen
Stellungnahmen verschiedener Organisationen zur Situation von Asylantragstellern in Griechenland können die
Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde nicht von vornherein offensichtlich verneint werden. Allerdings sind sie
angesichts des Umstands, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch den verfassungsändernden
Gesetzgeber selbst zu sicheren Drittstaaten bestimmt worden sind (vgl. BVerfGE 94, 49 <88 f.>), die Vergewisserung
hinsichtlich der Schutzgewährung damit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber selbst erfolgt ist (vgl.
BVerfGE 94, 49 <101>) und die Entscheidung nicht durch eine Rechtsverordnung nach § 26a Abs. 3 AsylVfG
rückgängig gemacht werden kann, auch nicht offensichtlich zu bejahen.
6
3. Bliebe dem Antragsteller der begehrte Erlass der einstweiligen Anordnung versagt, obsiegte er aber in der
Hauptsache, könnten möglicherweise bereits mit der Abschiebung oder in ihrer Folge eingetretene
Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden (vgl. BVerfG, Beschluss der
1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. September 2009 - 2 BvQ 56/09 -, NVwZ 2009, S. 1281). Die Nachteile, die
entstünden, wenn die einstweilige Anordnung erginge, dem Antragsteller der Erfolg in der Hauptsache aber versagt
bliebe, wiegen dagegen hier weniger schwer. Insbesondere widerspricht die Gewährung von einstweiligem
Rechtsschutz im Überstellungsverfahren nicht unionsrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland.
Eine unionsrechtliche Pflicht zum Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes bei Überstellungen nach der
Verordnung (EG) Nr. 343/2003 besteht nicht. Vielmehr sieht das Unionsrecht die Möglichkeit der Gewährung
vorläufigen fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Überstellungen an den zuständigen Mitgliedstaat nach Art. 19
Abs. 2 Satz 4 und Art. 20 Abs. 1 Buchstabe e Satz 4 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 selbst vor.
7
4. Die Entscheidung über die Erstattung von Auslagen folgt aus § 34a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Osterloh
Mellinghoff
Gerhardt