Urteil des BVerfG vom 01.08.2001
BVerfG: gegen die guten sitten, werbung, gefährdung, meinungsfreiheit, anzeige, gute sitten, verfassungsbeschwerde, grundrecht, sittenwidrigkeit, generikum
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1188/92 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der r... GmbH
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Professor Dr. Karl Egbert Wenzel und Koll.,
Königstraße 1 A, 70173 Stuttgart -
gegen a) das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. Juni 1992 - I ZR 226/90 -,
b)
das Urteil des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 8. August 1990 - 6 U 249/89 -,
c)
das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 1. September 1989 - 7 O 15/89 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Hoffmann-Riem
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 1. August 2001 einstimmig beschlossen:
Die Urteile des Landgerichts Mannheim vom 1. September 1989 - 7 O 15/89 -, des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom
8. August 1990 - 6 U 249/89 - und des Bundesgerichtshofes vom 11. Juni 1992 - I ZR 226/90 - verletzen die
Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.
Das Urteil des Bundesgerichtshofes wird aufgehoben.
Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.
Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
1
Die  Verfassungsbeschwerde  betrifft  die  wettbewerbsrechtliche  Zulässigkeit  einer  anlehnenden  bezugnehmenden
Werbung.
I.
2
1. Die Parteien des Ausgangsverfahrens sind Wettbewerber in der Herstellung und im Vertrieb von Arzneimitteln. Zu
ihrem  Produktsortiment  gehört  jeweils  auch  ein  Mittel  mit  dem  Wirkstoff  Glibenclamid,  das  der  Bekämpfung  von
Altersdiabetes  dient.  Die  Klägerin  des  Ausgangsverfahrens,  die  B.  GmbH,  die  zu  den  forschenden
Arzneimittelunternehmen zählt, war zusammen mit der H. AG Inhaberin eines 1983 ausgelaufenen Patents für diesen
Wirkstoff. Sie vertrieb ihn unter dem Markennamen "Euglucon". Nach dem Ende des Patentschutzes brachten andere
Pharmahersteller,  unter  anderem  die  Beschwerdeführerin,  in  der  Fachsprache  als  "Generika"  bezeichnete  Präparate
mit demselben Wirkstoff auf den Markt. Die Beschwerdeführerin vertrieb ihr Präparat zu einem niedrigeren Preis als
das Original-Medikament unter der Bezeichnung "Glibenclamid-ratiopharm 3,5".
3
Die Beschwerdeführerin warb für ihr Präparat in der "Ärzte Zeitung" vom 28./29. Oktober 1988 mit einer ganzseitigen
Anzeige.  In  deren  Kopfzeile  wurde  durch  Balken  hervorgehoben  auf  den  Namen  des  Medikamentes  aufmerksam
gemacht. Darunter hieß es zweizeilig in gut 2 cm hoher Schrift "Therapeutische Äquivalenz bewiesen". Alsdann folgte
ebenfalls zweizeilig in einer Schrift, deren Höhe etwa ein Drittel der vorstehenden ausmachte, der Satz "Verlangen Sie
diesen Beweis - fordern Sie die multizentrische Doppelblindstudie an Typ II-Diabetikern an". Von diesem Text wies ein
Pfeil auf einen Gutschein hin, mit dem die Studie angefordert werden konnte.
4
Dem  war  eine  wissenschaftliche  Kontroverse  vorausgegangen.  Bis  kurz  vor  Ablauf  des  Patentschutzes  hatte  die
Klägerin  zusammen  mit  der  Firma  H.  "Euglucon"  vertrieben,  das  5  mg  des  Wirkstoffs  Glibenclamid  enthielt  und  in
seiner Bioverfügbarkeit der Gruppe der mittelschnell freisetzenden Glibenclamid-Arzneimittel angehörte. Die Klägerin
gestaltete alsdann im Jahre 1983 die Art der pharmazeutischen Aufbereitung (Galenik) ihres Euglucon-Präparates neu
und brachte es unter der Bezeichnung "Euglucon N" auf den deutschen Markt. Es enthielt nur noch 3,5 mg Wirkstoff
und  wies  eine  schnellere  Bioverfügbarkeit  auf.  In  letzterer  Hinsicht  entspricht  das  Präparat  der  Beschwerdeführerin
demgegenüber weitgehend dem ursprünglichen Euglucon.
5
In den Jahren 1985 und 1986 wurden Studien veröffentlicht, die sich mit der biologischen und der therapeutischen
Äquivalenz  der  beiden  Präparate  befassten.  Erstere  erwies  sich  als  nicht  gegeben;  letztere  blieb  streitig.  Die
Beschwerdeführerin gab daraufhin die Studie in Auftrag, welche den Anlass zu der umstrittenen Werbung gab. Diese
Studie, die wiederum das Präparat der Beschwerdeführerin mit "Euglucon N" verglich, gelangte zu dem Ergebnis, die
beiden Präparate seien therapeutisch äquivalent.
6
2. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens sah in der Anzeige eine wettbewerbswidrige anlehnende Werbung. Für die
Anlehnung habe kein hinreichender Anlass bestanden. Die Werbung sei auch inhaltlich unzutreffend, weil bei fehlender
Bioäquivalenz zwei Präparate nicht therapeutisch äquivalent sein könnten. Sie klagte gegen die Beschwerdeführerin
auf  Unterlass-  ung  jedweder  Werbung  für  das  betreffende  Präparat  mit  der  Aussage:  "Glibenclamid-ratiopharm  3,5,
Therapeutische Äquivalenz bewiesen". Das Landgericht gab der Klage statt. Das Oberlandesgericht wies die Berufung
der  Beschwerdeführerin  mit  der  Maßgabe  zurück,  dass  sich  das  Unterlassungsgebot  nur  auf  die  konkrete  Anzeige
beziehe.
7
Die Revision der Beschwerdeführerin blieb im Wesentlichen ohne Erfolg (vgl. BGH, NJW 1992, S. 2969).
8
3. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG, ferner gegen
Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 GG.
II.
9
Die  Voraussetzungen  einer  stattgebenden  Kammerentscheidung  sind  gegeben  (§  93  c  Abs.  1  BVerfGG).  Das
Bundesverfassungsgericht  hat  im  Urteil  vom  12.  Dezember  2000  (BVerfGE  102,  347  -  Benetton-Werbung)  eine
Grundsatzentscheidung  zur  Bedeutung  des  Grundrechts  auf  Meinungs-  und  Pressefreiheit  im  Wettbewerbsrecht
getroffen. Damit sind die für den vorliegenden Fall maßgeblichen Fragen im Wesentlichen geklärt. Nach den in dieser
Entscheidung niedergelegten Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
III.
10
Die  Verfassungsbeschwerde  ist  begründet.  Die  angegriffenen  Urteile  verletzen  die  Beschwerdeführerin  in  ihrem
Grundrecht auf freie Meinungsäußerung.
11
1. Die streitige Anzeige fällt in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Der Anwendbarkeit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1
GG  steht  nicht  entgegen,  dass  die  untersagte  Anzeige  der  Anpreisung  von  Waren  und  der  Kundenwerbung  dient.
Denn  der  Schutz  der  Meinungsfreiheit  erstreckt  sich  auch  auf  kommerzielle  Meinungsäußerungen  sowie  reine
Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat (vgl. BVerfGE 30, 336 <352>; 71, 162 <175>;
Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat (vgl. BVerfGE 30, 336 <352>; 71, 162 <175>;
102, 347 <359>).
12
Die  in  der  Anzeige  enthaltenen  Äußerungen  der  Beschwerdeführerin  sind  Meinungen  im  Rechtssinne.  Meinung  ist
durch das Element der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt (vgl. BVerfGE 61, 1 <9>; 85, 1 <14>;
90, 241 <247>). Indem die Beschwerdeführerin die therapeutische Äquivalenz des von ihr vertriebenen Medikaments
als  "bewiesen"  bezeichnet  und  in  diesem  Zusammenhang  auf  die  Doppelblindstudie  Bezug  nimmt,  macht  sie  sich
deren Ergebnis zu Eigen. Darin liegt eine Stellungnahme, die sich nicht in der bloßen Wiedergabe und Herausstellung
der  in  der  Studie  gewonnenen  Erkenntnisse  erschöpft.  Vielmehr  äußert  sich  die  Beschwerdeführerin,  die  als
Herstellerin  von  Medikamenten  auf  den  Gebieten  der  pharmazeutischen  und  der  medizinischen  Wissenschaft
Sachkunde für sich in Anspruch nimmt, billigend zu der Studie.
13
2.  Grundlage  für  den  Eingriff  in  die  Meinungsfreiheit  ist  §  1  UWG.  Untersagt  sind  im  geschäftlichen  Verkehr
Handlungen  zum  Zwecke  des  Wettbewerbs,  die  gegen  die  guten  Sitten  verstoßen.  §  1  UWG  ist  ein  allgemeines
Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 62, 230 <245>; 85, 248 <263>; 102, 347 <360>). Die Vorschrift
ist  hinreichend  bestimmt  (vgl. BVerfGE  102,  347  <360  f.>).  Auch  befindet  sich  ihr  Regelungsziel,  unzulässige
Praktiken  im  Wettbewerb  zu  verhindern  und  bei  Eintritt  eines  Schadens  dessen  Ausgleich  zu  ermöglichen,  mit  der
Wertordnung  des  Grundgesetzes  in  Einklang  (vgl. BVerfGE  32,  311  <316>;  102,  347  <360>).  Die  Legitimität  des
Rechtsgüterschutzes (vgl. BVerfGE 100, 313 <373>) steht außer Frage.
14
3. Die Ausgangsgerichte haben indes bei der Auslegung und Anwendung des § 1 UWG Bedeutung und Tragweite der
Meinungsfreiheit verkannt.
15
a)  Wenn  eine  zivilrechtliche  Entscheidung  die  Meinungsfreiheit  berührt,  fordert  Art.  5  Abs.  1  Satz  1  GG,  dass  die
Gerichte bei Auslegung und Anwendung der privatrechtlichen Regelungen der Bedeutung des Grundrechts Rechnung
tragen.  Die  allgemeinen  Gesetze  sind  so  auszulegen  und  in  ihrer  das  Grundrecht  beschränkenden  Wirkung  selbst
wieder so einzuschränken, dass der besondere Gehalt der Meinungsfreiheit dabei zur Geltung kommt (vgl. BVerfGE
7,  198  <206  ff.>;  61,  1  <10  f.>;  102,  347  <362>;  stRspr).  Im  Einzelnen  ist  dies  Sache  der  Zivilgerichte.  Das
Bundesverfassungsgericht kann nur eingreifen, wenn Fehler erkennbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, namentlich vom Umfang seines Schutzbereichs, beruhen und in
ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 102,
347 <362>).
16
b) Das an die Beschwerdeführerin gerichtete Gebot, die Werbung zu unterlassen, ist ein Eingriff in Art. 5 Abs. 1 Satz
1  GG.  Er  bedarf  der  Rechtfertigung.  Die  angegriffenen  Entscheidungen  zielen  darauf  ab,  vermeintlich
wettbewerbswidriges
Verhalten
zu
untersagen.
Anknüpfungspunkt
für
einen
wettbewerbsrechtlichen
Unterlassungsanspruch ist die Gefahr eines Wettbewerbsverstoßes. Ist ein solcher bereits begangen worden, kommt
das Unterlassungsgebot bei Wiederholungsgefahr in Betracht (vgl. Baumbach/Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 22. Aufl.,
München 2001, Einl UWG, Rn. 260). Folglich muss eine Fallprüfung, die der Bedeutung und Tragweite des berührten
Grundrechts Rechnung tragen soll, bei der Frage ansetzen, ob die in der Werbeaussage liegende Meinungsäußerung
nach Inhalt und Form eine hinreichende Gefährdung des von § 1 UWG geschützten Rechtsgutes mit sich bringt.
17
aa)  Die  Bestimmung  des  Schutzgutes  einer  Norm  ist  grundsätzlich  Aufgabe  der  Fachgerichte  (BVerfGE  18,  85
<92 f.>; 84, 372 <379>; 85, 248 <257 f.>; 102, 347 <362>).  In  den  angegriffenen  Urteilen  wird  die  Frage  nach  dem
Schutzgut  des  §  1  UWG  nicht  abgehandelt.  Der  Bundesgerichtshof  hat  jedoch  in  anderen  Entscheidungen  die
Lauterkeit des Leistungswettbewerbs als das von § 1 UWG erfasste Schutzgut umschrieben. Dieser soll im Interesse
der  Wettbewerber,  der  sonstigen  Marktbeteiligten,  allen  voran  der  Verbraucher,  und  der  Allgemeinheit  von
Wettbewerbshandlungen  freigehalten  werden,  die  dem  sittlich-rechtlichen  Empfinden  widersprechen  (vgl.  BGHZ  140,
134  <138>;  BGH,  NJW  2000,  S.  864;  BGHZ  144,  255).  Missbilligt  werden  hiernach  vor  allem  unlautere
Einflussnahmen auf die freie Entschließung des Kunden, Behinderungen der Mitbewerber mit nicht leistungsgerechten
Mitteln,  Nachahmung  und  Ausbeutung,  Schaffung  eines  Wettbewerbsvorsprungs  durch  Missachtung  gesetzlicher
Schranken und Einsatz vornehmlich machtbedingter Vorteile, mithin Verhaltensweisen, welche die Funktionsfähigkeit
des  Leistungswettbewerbs  im  wettbewerblichen  Handeln  einzelner  Unternehmen  oder  als  Institution  stören  (vgl.
Baumbach/Hefermehl, Einl UWG, Rn. 98 ff.).
18
Diese  Schutzgutbestimmung  durch  die  höchstrichterliche  Rechtsprechung  ist  verfassungsrechtlich  nicht  zu
beanstanden (vgl. BVerfGE 32, 311 <316>; 51, 193 <214 f.>; 102, 347 <360, 364>). Eine tragende Grundlage findet
sie  auch  in  der  aus  Art.  2  Abs.  1  GG  hergeleiteten  Privatautonomie  als  einem  Strukturelement  der  freiheitlichen
Gesellschaftsordnung  (vgl. BVerfGE  81,  242  <254>).  Die  Privatautonomie  als  Grundlage  des  Verhaltens  am  Markt
wirkt sich zugunsten aller Marktteilnehmer aus.
19
bb)  Eine  Beschränkung  der  Meinungsäußerung  setzt  nach  §  1  UWG  ein  gegen  die  guten  Sitten  verstoßendes
Handeln zu Zwecken des Wettbewerbs voraus. § 1 UWG schützt nicht gute Sitten als solche, sondern als Grundlage
der Funktionsfähigkeit des Leistungswettbewerbs. Daher reicht der Bezug auf Sozialnormen oder gute kaufmännische
Sitten  im  Wettbewerb  nicht,  soweit  deren  Verletzung  die  Funktionsfähigkeit  des  Leistungswettbewerbs  unberührt
lässt. Beeinträchtigungen der Meinungsfreiheit können auf der Grundlage des § 1 UWG daher nur bei Gefährdungen
dieses Schutzguts gerechtfertigt sein.
20
Die  eigenständige  Feststellung  einer  Gefährdung  des  Leistungswettbewerbs  ist  in  den  angegriffenen  Urteilen  nicht
enthalten. Stattdessen haben sich die Gerichte allein auf die Fallgruppe der anlehnenden bezugnehmenden Werbung
bezogen,  deren  charakteristisches  Merkmal  darin  besteht,  dass  der  Werbende  die  von  dem  Konkurrenten  erbrachte
Leistung im Wege der Gleichstellung zum eigenen Vorteil ausnutzt (vgl. Baumbach/Hefermehl, § 1, Rn. 547 ff.). Diese
Fallgruppe  ist  ebenso  wie  die  der  im  Benetton-Urteil  behandelten  Schockwerbung  (vgl. BVerfGE  102,  347)  von  der
Rechtsprechung  zu  §  1  UWG  entwickelt  worden.  Die  Bildung  solcher  im  Gesetz  nicht  ausdrücklich  enthaltener
Fallgruppen  fällt  in  die  Auslegungskompetenz  der  Fachgerichte.  Die  Orientierung  an  typischen  Situationen  der
Gefährdung  des  Schutzguts  ist  verfassungsrechtlich  unbedenklich,  wenn  die  betreffenden  Fallgruppen  einerseits
kollidierenden  grundrechtlichen  Positionen  in  abstrakter  Weise  Rechnung  tragen  sowie  andererseits  bei  der
Rechtsanwendung  im  konkreten  Fall  eine  die  betroffenen  Interessen  erfassende  Abwägung  ermöglichen.
Dementsprechend  ist  das  Bundesverfassungsgericht  im  Benetton-Urteil  nicht  von  den  Tatbestandselementen  der
betroffenen Fallgruppe ausgegangen, sondern hat das angegriffene Unterlassungsgebot eigenständig am Maßstab des
Art.  5  Abs.  1  Satz  1  GG  bewertet  (vgl. BVerfGE  102,  347  <364  ff.>).  So  ist  auch  in  einem  Fall  wie  dem  hier  zu
beurteilenden vorzugehen.
21
cc)  Wird  ein  möglicherweise  wettbewerbswidriges  Verhalten  im  Sinne  von  §  1  UWG  in  einer  Meinungsäußerung
gesehen,  ist  die  Meinungsfreiheit  schon  bei  der  Prüfung  des  Verstoßes  gegen  die  guten  Sitten  im  geschäftlichen
Verkehr und der sich daraus ergebenden Gefährdung des Leistungswettbewerbs zu berücksichtigen. Der unbestimmte
Rechtsbegriff  der  guten  Sitten  und  die  Gefährdung  des  Schutzguts  sind  mithin  nicht  allein  durch  Feststellung  der
Tatbestandselemente  der  einschlägigen  Fallgruppe  zu  bestimmen.  Wohl  aber  kann  von  ihnen  eine  aus  praktischer
Erfahrung gewonnene Indizwirkung für die Sittenwidrigkeit und die Gefährdung des Leistungswettbewerbs ausgehen.
Demnach  müssen  die  Fachgerichte,  soweit  sie  auf  bereits  entwickelte  Fallgruppen  zurückgreifen  oder  neue  bilden,
prüfen,  ob  die  Indizwirkung  auch  angesichts  der  sich  daran  anschließenden  Rechtsfolge,  der  Einschränkung  der
Meinungsfreiheit,  gerechtfertigt  ist.  Darüber  hinaus  muss  die  angegriffene  Äußerung  nach  den  Gegebenheiten  des
Einzelfalls so schwerwiegend sein, dass sie eine hinreichende Gefährdung des Leistungswettbewerbs bewirkt.
22
c)  Für  Überlegungen  zur  Verhältnismäßigkeit  der  zur  Durchsetzung  des  §  1  UWG  dienenden  beschränkenden
Maßnahme, das heißt hier zur Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit des Unterlassungsgebots, ist erst nach
Feststellung der Gefährdung des Schutzgutes Raum. Dafür bietet der vorliegende Fall nach dem von den Gerichten
ermittelten Sachstand keinen Anlass.
23
d)  Die  Bewertung  des  Verhaltens  der  Beschwerdeführerin  als  Verstoß  gegen  die  guten  Sitten  im  geschäftlichen
Verkehr  knüpft  an  die  Deutung  des  Inhalts  der  Werbeanzeige  an.  Diese  ist  verfassungsrechtlich  nicht  zu
beanstanden, wohl aber die daran anschließende Subsumtion unter § 1 UWG.
24
aa) Die Gerichte deuten die Aussage in der Werbeanzeige dahingehend, durch ihren Text werde konkludent auf das
von der Klägerin vertriebene Medikament Bezug genommen und zu erkennen gegeben, dass der Arzt einen Patienten
auf  das  Generikum  der  Beschwerdeführerin  umstellen  könne.  Die  Aussage  "Therapeutische  Äquivalenz  bewiesen"
stütze  sich  auf  die  Ergebnisse  der  Doppelblindstudie.  Diese  Ausdeutung  ist  von  Verfassungs  wegen  nicht  zu
beanstanden.
25
bb)  Die  auf  dieser  Ausdeutung  aufbauende  Lösung  des  Falles  genügt  indes  nicht  den  dargelegten
verfassungsrechtlichen Anforderungen.
26
Die Fachgerichte subsumieren den Sachverhalt unter die Merkmale der anlehnenden bezugnehmenden Werbung und
prüfen anschließend, ob der Vorwurf der Sittenwidrigkeit ausnahmsweise entfällt, weil die Äußerung die Grenzen des
Erforderlichen  und  der  wahrheitsgemäßen  sachlich  zutreffenden  Erörterung  einhält.  Dies  verneinen  sie  und  stellen
schwerpunktmäßig  auf  die  von  der  Beschwerdeführerin  gewählte  Form  der  Anzeige  ab,  die  mit  ihrer  übertriebenen,
schlagwortartigen Hervorhebung der verkürzend als "bewiesen" bezeichneten therapeutischen Äquivalenz die Grenzen
des zur Werbung Erforderlichen überschreite. Damit aber kommen die Gerichte zu einer Bewertung der Äußerung als
zum Zwecke des Wettbewerbs nicht erforderlich, ohne zuvor eine Beeinträchtigung des gesetzlichen Schutzguts unter
Berücksichtigung auch des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG festgestellt zu haben.
27
Es  unterbleibt  vor  allem  die  auf  den  konkreten  Fall  bezogene  Feststellung  der  Sittenwidrigkeit  des  Verhaltens  und
einer  darauf  aufbauenden  Gefährdung  des  Leistungswettbewerbs.  Diese  Prüfung  hätte  sowohl  das  Interesse  der
Klägerin  berücksichtigen  müssen,  vor  der  Ausbeutung  des  durch  Leistung  begründeten  guten  Rufes  ihres
Originalpräparats  geschützt  zu  werden,  als  auch  das  Informationsanliegen  der  Beschwerdeführerin,  auf  eine
therapeutisch richtige und wirtschaftlich angemessene Behandlungsweise durch ein Generikum hinzuweisen.
28
Auch  fehlen  Ausführungen  dazu,  inwiefern  die  Bezugnahme  auf  das  Ausgangsprodukt  unter  besonderer
Berücksichtigung  der  Funktion  von  Generika  im  Arzneimittelmarkt  die  Funktionsfähigkeit  dieses  Marktes  gefährdet.
Es  wird  nicht  geprüft,  welche  Bedeutung  die  Bereitstellung  von  preisgünstigen  Zweitanbieterpräparaten  und  die
Werbung  für  solche  Produkte  nach  Ablauf  der  Schutzfrist  des  Standardpräparats  für  die  Sicherung  der
Funktionsfähigkeit  des  Arzneimittelmarktes  haben.  Eine  nachteilige  Wirkung  wird  offenbar  unterstellt,  mögliche
positive Effekte werden aber nicht in Erwägung gezogen.
29
Die  Beschwerdeführerin  war,  worauf  der  Bundesgerichtshof  selbst  hinweist,  zweifelsfrei  berechtigt,  die  Ergebnisse
der Doppelblindstudie unter Verzicht auf werbende Anpreisung in einem sachlichen Kontext zu veröffentlichen. Bereits
das Oberlandesgericht  hat  mit  entsprechender  Begründung  den  ursprünglich  weiter  gehenden  Unterlassungsantrag
abgewiesen und das Unterlassungsgebot auf die Veröffentlichung der konkret vorliegenden Anzeige beschränkt. Die
Beschwerdeführerin  hätte  demnach  die  zur  Wirkungsweise  ihres  Präparates  gewonnenen  Erkenntnisse  als  solche
ohne  weiteres  mitteilen  und  hierdurch  beim  Leser  den  Eindruck  hervorrufen  dürfen,  dass  mit  der  Studie  die
therapeutische Äquivalenz des von ihr vertriebenen Präparates bewiesen wird. Dieses Verhalten wäre daher von Art. 5
Abs. 1 Satz 1 GG gedeckt gewesen.
30
Es  ist  von  den  Gerichten  nicht  dargelegt  worden,  dass  sich  die  beanstandete  Werbung  von  dem  als  erlaubt
bewerteten  Verhalten  derart  abhebt,  dass  die  Funktionsweise  des  Leistungswettbewerbs  unter  Berücksichtigung  der
Besonderheiten  des  Arzneimittelmarktes  gefährdet  wird.  Die  Anzeige  wendet  sich  an  ein  Fachpublikum,  das  auf
Grund  universitärer  Ausbildung  und  beruflicher  Praxis  mit  wissenschaftlichen  Aussagen,  auch  und  gerade  wenn  sie
kontrovers erörtert werden, vertraut ist und das wegen der bereits schwelenden Kontroverse um die Wirksamkeit von
Generika  im  Hinblick  auf  dieses  Thema  sensibilisiert  ist.  Es  ist  daher  höchst  zweifelhaft,  dass  die  Aussage  den
falschen  Eindruck  absoluter  Gewissheit  gegenüber  dem  angesprochenen  Adressatenkreis  hervorrufen  könnte.  Die
schlagwortartige Hervorhebung der Aussage "Therapeutische Äquivalenz bewiesen" hat vor diesem Hintergrund neben
der  Bezugnahme  auf  die  vom  Leser  anzufordernde  Studie  den  Charakter  eines  Blickfangs.  Es  ist  jedoch  nicht
nachvollziehbar, dass dies und die Größe der für die einzelnen Zeilen gewählten Schrift geeignet gewesen wären, von
der  Bezugnahme  auf  die  Studie  abzulenken,  da  die  sich  hierauf  beziehende  Aussage  zusammen  mit  dem  auf  den
Gutschein weisenden Pfeil selbst dem eiligen Leser deutlich das Angebot vor Augen führte, die Studie anzufordern.
Die Gerichte hätten das Gefährdungspotential auch mit Rücksicht darauf darlegen müssen, dass der angesprochene
Adressatenkreis  in  ärztlicher  Verantwortung,  und  nicht  zuletzt  unter  Haftungsrisiken,  kritisch  zu  prüfen  hat,  welche
Medikamente dem Patienten zu verabreichen sind. Gemessen an der erlaubten Möglichkeit eines nicht anpreisenden
Hinweises  auf  das  betreffende  Generikum  ist  nicht  nachvollziehbar,  worin  die  Gefährdung  von  schützenswerten
Interessen der Klägerin im Leistungswettbewerb besteht.
31
e)  Mangels  einer  hinreichenden  Auseinandersetzung  mit  dem  Gefährdungspotential  der  Äußerung  und  damit  der
Beeinträchtigung  des  Schutzguts  von  §  1  UWG  haben  die  Ausgangsgerichte  Bedeutung  und  Tragweite  des
Grundrechts  aus  Art.  5  Abs.  1  Satz  1  GG  für  die  Lösung  des  vorliegenden  Falles  grundlegend  verkannt.  Den
Erwägungen zu § 1 UWG ist insbesondere nicht zu entnehmen, dass die maßgeblichen Überlegungen zum Schutz der
Meinungsfreiheit  auch  nur  inzidenter  in  die  Entscheidungsgründe  eingeflossen  wären.  Daher  kann  eine  Feststellung,
derzufolge  die  Fachgerichte  bei  Beachtung  der  dargelegten  verfassungsrechtlichen  Erwägungen  im  gleichen  Sinne
entschieden hätten, nicht getroffen werden.
32
4.  Da  eine  Verletzung  des  Art.  5  Abs.  1  Satz  1  GG  festzustellen  ist,  braucht  auf  die  weiteren  von  der
Beschwerdeführerin gerügten Grundrechtsverstöße nicht näher eingegangen zu werden.
IV.
33
Nach dem Vorstehenden ist gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG festzustellen, dass die drei angegriffenen Urteile
die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verletzen. Darüber hinaus ist in Anwendung
des § 95 Abs. 2 BVerfGG jedoch nur die Entscheidung des Bundesgerichtshofes aufzuheben und die Sache an den
Bundesgerichtshof
zurückzuverweisen.
Ein
entsprechender
Ausspruch
über
die
beiden
anderen
Ausgangsentscheidungen kann unterbleiben.
34
Werden sämtliche im Rechtszug ergangenen Entscheidungen mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen und wird
in Bezug auf diese Entscheidungen der Verfassungsverstoß festgestellt, so besteht dennoch die Möglichkeit, nur das
Urteil der letzten Instanz aufzuheben und die Sache an sie zurückzuverweisen. Das ergibt sich aus der in § 95 Abs. 2
BVerfGG eingeräumten Befugnis, die Sache an ein zuständiges Gericht zurückzuverweisen, das nicht notwendig das
Gericht  der  ersten  Instanz  sein  muss.  Vielmehr  ist  dem  Bundesverfassungsgericht  ein  Spielraum  eingeräumt,  der
auch unter Berücksichtigung der Prozesswirtschaftlichkeit genutzt werden kann (vgl. BVerfG, 2. Kammer des Zweiten
Senats, NJW 1995, S. 2706; ähnlich bereits BVerfGE 24, 278 <298>; 84, 1 <5>).
35
Die Zurückverweisung an den Bundesgerichtshof wird den Erfordernissen des zu beurteilenden Falles gerecht. Der
Verweisung  an  eine  Tatsacheninstanz  bedarf  es  nicht,  da  insbesondere  der  Inhalt  der  Anzeige  unstreitig  ist  und
weitere  Anhaltspunkte  für  die  Notwendigkeit  einer  zusätzlichen  Sachverhaltsaufklärung  nicht  ersichtlich  sind.  Einer
anderweitigen Beurteilung dieser Frage durch den Bundesgerichtshof wird damit nicht vorgegriffen.
36
Gemäß  §  34  a  Abs.  2  BVerfGG  sind  der  Beschwerdeführerin  die  notwendigen  Auslagen  von  der  Bundesrepublik
Deutschland zu erstatten.
37
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hoffmann-Riem