Urteil des BVerfG vom 02.10.2003
BVerfG: öffentliche gewalt, rechtsschutz, ermittlungsverfahren, anmerkung, verfassungsbeschwerde, strafprozessordnung, tatverdacht, effektivität, kontrolle, willkürverbot
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 660/03 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau C ...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Lars Nozar,
Am Kieselhumes 36, 66123 Saarbrücken -
gegen den Beschluss des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 17. April 2003 - VAs 1/03
-
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 2. Oktober 2003 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat.
2
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts, den auf § 23 Abs. 1 EGGVG gestützten Antrag der Beschwerdeführerin
auf Einstellung des gegen sie eingeleiteten Ermittlungsverfahrens als unzulässig zu verwerfen, verletzt keine
Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte der Beschwerdeführerin.
3
Art. 19 Abs. 4 GG garantiert einen möglichst umfassenden, wirksamen Rechtsschutz gegenüber Verletzungen der
Rechtssphäre des Einzelnen durch die öffentliche Gewalt. Das kann aber nicht stets sofortigen Rechtsschutz
bedeuten, sondern Rechtsschutz in angemessener Zeit, der nach Möglichkeit unabänderliche Entscheidungen der
öffentlichen Gewalt ausschließt, also noch "zur rechten Zeit" erlangt werden kann. Das so verstandene Prinzip der
Rechtsschutzeffektivität erfährt zudem im Einzelfall seine Prägung durch das subjektive Recht, um dessen Wahrung
es geht. Der Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers ist umso stärker, je schwerer die ihm auferlegte
Belastung wiegt und je mehr die Maßnahmen der öffentlichen Gewalt Unabänderliches bewirken (vgl. den Beschluss
des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1983 - 2 BvR 1731/82 -, NStZ
1984, S. 228 f.; Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 30. April 1982 - 4 VAs 22/82 -, NStZ 1982,
S. 434 f. mit Anmerkung Rieß).
4
Diesen Maßstäben widerspricht es nicht, wenn das Verfahrensrecht in seiner Auslegung und Anwendung durch die
Fachgerichte grundsätzlich keinen Rechtsschutz gegen die Einleitung und Fortführung eines Ermittlungsverfahrens
durch die Staatsanwaltschaft gewährt. Denn das Ermittlungsverfahren ist ein vorbereitendes Verfahren; sein Ziel ist
die Entschließung der Staatsanwaltschaft, ob und inwieweit die öffentliche Klage geboten ist (§§ 160 Abs. 1, 170
StPO). Kommt es zur Anklage, wird der in Gestalt des Anklagesatzes konkretisierte Tatverdacht zur gerichtlichen
Prüfung gestellt. Rechtsschutz gegen das bloße Betreiben des Ermittlungsverfahrens schon vor seinem Abschluss
für grundsätzlich geboten zu halten, wäre systemwidrig und nicht Rechtsschutz "zur rechten Zeit". Ein Zuwarten ist
dem Beschuldigten deshalb in aller Regel bis zur Entschließung der Staatsanwaltschaft (§ 170 StPO) zuzumuten.
Sein Rechtsschutz ist im gerichtlichen Zwischen- und Hauptverfahren regelmäßig weitreichender und umfassender als
es eine Nachprüfung unselbstständiger, das Ermittlungsverfahren fördernder, Maßnahmen schon im
Ermittlungsstadium sein könnte (vgl. den Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Bundesverfassungsgerichts
vom 19. Dezember 1983 - 2 BvR 1731/82 -, NStZ 1984, S. 228 f.; Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom
30. April 1982 - 4 VAs 22/82 -, NStZ 1982, S. 434 f. mit Anmerkung Rieß; siehe auch Keller, GA 1983 S. 497, 503,
und Kissel, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 4. Aufl., § 23 EGGVG, Rn. 32; Meyer-Goßner,
Kommentar zur Strafprozessordnung, 46. Aufl., § 23 EGGVG, Rn. 9 f.). Unter dem Gesichtspunkt der Effektivität des
Rechtsschutzes ist es daher grundsätzlich nicht geboten, die Einleitung und Führung eines staatsanwaltschaftlichen
Ermittlungsverfahrens vor Abschluss der Ermittlungen gerichtlicher Kontrolle zu unterwerfen.
5
Etwas anderes gilt allerdings in Fällen, in denen schlüssig dargetan ist, dass das Ermittlungsverfahren aus
schlechthin unhaltbaren Erwägungen eingeleitet oder fortgeführt wird, also objektiv willkürliches Handeln der
Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Beschuldigten in Rede steht (vgl. den Beschluss des Vorprüfungsausschusses
des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Dezember 1983 - 2 BvR 1731/82 -, NStZ 1984, S. 228 f.; Beschluss des
Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 30. April 1982 - 4 VAs 22/82 -, NStZ 1982, S. 434 f. mit Anmerkung Rieß).
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Anhaltspunkte dafür, dass die Einleitung oder Fortführung des gegen die Beschwerdeführerin gerichteten
Ermittlungsverfahrens gegen das Willkürverbot verstoßen könnte, sind jedoch weder von ihr dargelegt worden noch
sonst ersichtlich.
7
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff