Urteil des BVerfG vom 28.01.2005

BVerfG: wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, verfassungsbeschwerde, berufliche tätigkeit, vollziehung, behörde, unterlassen, stadt, aussetzung, zustand, berufsfreiheit

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 136/05 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der Frau H...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Dr. Peter-D. Schulte und Koll.,
Niederwall 53, 33602 Bielefeld -
gegen
a)
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom
10. Dezember 2004 - 4 B 2370/04 -,
b)
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Minden vom 30. September 2004 - 2 L 696/04
-,
c)
die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ordnungsverfügung der Stadt Bielefeld
vom 18. August 2004 - 500.314 -
hier: Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richter Hömig,
Hoffmann-Riem,
Gaier
gemäß § 32 Abs. 1 in Verbindung mit § 93 d Abs. 2 BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August
1993 (BGBl I S. 1473) am 28. Januar 2005 einstimmig beschlossen:
Die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung der Stadt Bielefeld vom 18. August 2004 - 500.314 - wird bis zur
Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, vorläufig ausgesetzt.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen für das Verfahren über die
einstweilige Anordnung zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Die Beschwerdeführerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Aussetzung der sofortigen Vollziehung
einer Ordnungsverfügung, mit der ihr aufgegeben wurde, eine vorangegangene Ordnungsverfügung zu beachten und
die Fortführung eines Heimbetriebs zu unterlassen.
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1. Die Beschwerdeführerin mietete ein Hausanwesen und beherbergt dort mehrere Personen aufgrund von
Untermietverträgen. Für ihre Mieter erbringt sie Pflegeleistungen durch einen von ihr betriebenen Pflegedienst.
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Die Ausgangsbehörde vertritt die Auffassung, die Beschwerdeführerin betreibe damit ein Heim im Sinne des § 1 des
Heimgesetzes, obwohl es ihr an der erforderlichen Zuverlässigkeit fehle. Sie forderte die Beschwerdeführerin durch
Ordnungsverfügung auf, eine vorangegangene Ordnungsverfügung zu beachten und die Fortführung des Heimbetriebs
zu unterlassen. Der Beschwerdeführerin wurde aufgegeben, ab Zustellung des Bescheids keine weiteren Bewohner
aufzunehmen; zudem müsse sie - bis auf eine persönliche Bekannte - für alle derzeit bei ihr wohnenden und von ihr
gepflegten Personen eine anderweitige Unterkunft außerhalb ihrer Wohnung suchen. Die sofortige Vollziehung dieser
Ordnungsverfügung wurde mit der Begründung angeordnet, nach dem Ziel des Heimgesetzes habe der Schutz der
Würde und der Interessen der Bewohner des Heimes Vorrang vor den persönlichen Interessen der
Beschwerdeführerin.
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Die Beschwerdeführerin legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein. Ihr Antrag auf Wiederherstellung der
aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs nach § 80 Abs. 5 der Verwaltungsgerichtsordnung blieb vor dem
Verwaltungsgericht ohne Erfolg. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beschwerdeführerin wies das
Oberverwaltungsgericht zurück.
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2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Anordnung des Sofortvollzugs
und die hierzu ergangenen gerichtlichen Entscheidungen. Sie rügt die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1
und Art. 19 Abs. 4 sowie aus Art. 2 Abs. 1 GG.
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3. Zugleich mit der Verfassungsbeschwerde hat die Beschwerdeführerin Antrag auf Erlass einer einstweiligen
Anordnung gemäß § 32 BVerfGG gestellt, mit dem sie die Aussetzung der sofortigen Vollziehung der
Ordnungsverfügung erstrebt.
II.
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Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.
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1. Nach den §§ 32, 93 d Abs. 2 BVerfGG kann die Kammer im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung
vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen
Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts
vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweist sich
von
vornherein
als
unzulässig
oder
offensichtlich
unbegründet.
Bei
offenem
Ausgang
des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht die Folgen, die eintreten würden, wenn eine
einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen
abwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde
aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 88, 25 <35>; 89, 109 <110 f.>).
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2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
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a) Mit der Anordnung, die Fortführung des Heimbetriebs zu unterlassen, und der Anordnung der sofortigen
Vollziehung wird in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin eingegriffen. Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts sind solche Eingriffe nur zum Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter und unter strikter
Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit statthaft (vgl. BVerfGE 44, 105 <117>). Überwiegende
öffentliche Belange können es ausnahmsweise rechtfertigen, den Rechtsschutzanspruch des Grundrechtsträgers
einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die
Wege zu leiten. Wegen der gesteigerten Eingriffsintensität beim Sofortvollzug sind hierfür jedoch nur solche Gründe
ausreichend, die in angemessenem Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen und ein Zuwarten bis zur
Rechtskraft des Hauptverfahrens ausschließen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 24.
Oktober 2003, NJW 2003, S. 3618 f.). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, hängt von einer Gesamtwürdigung
der Umstände des Einzelfalls und insbesondere davon ab, ob eine weitere Berufstätigkeit konkrete Gefahren für
wichtige Gemeinschaftsgüter befürchten lässt.
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b) Ob die angegriffenen Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren diesen Maßstäben Rechnung
tragen, ist zweifelhaft und bedarf gegebenenfalls der Überprüfung im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Dabei wird zu
prüfen sein, ob die Behörde und die Gerichte eine Gefahrenlage für wichtige Gemeinschaftsgüter, die den
Sofortvollzug zu rechtfertigen vermag, mit konkreten Tatsachen nachvollziehbar belegt haben und ob die
schwerwiegenden Folgen, die für die Beschwerdeführerin mit der Anordnung des Sofortvollzuges verbunden sind, in
angemessener Weise gegen die konkret zu befürchtenden Folgen im Fall des Eintritts der aufschiebenden Wirkung
abgewogen wurden.
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3. Die mithin gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Erginge die einstweilige
Anordnung nicht, erwiese sich die Verfassungsbeschwerde später aber als begründet, entstünden der
Beschwerdeführerin durch den Vollzug der Ordnungsverfügung schon jetzt schwere und kaum wieder gutzumachende
wirtschaftliche Nachteile. Die Beschwerdeführerin wäre gehalten, ihre berufliche Tätigkeit einzustellen mit der Folge,
dass sie zumindest ihre derzeitigen Kunden verlieren und ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage gefährden würde.
Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, könnte die
Beschwerdeführerin hingegen weiterhin ihrer Tätigkeit nachgehen. Dass hierdurch eine Gefahrenlage begründet wird,
konnte weder von der Behörde noch von den Gerichten festgestellt werden. Es sind keine konkreten Anhaltspunkte
dafür ersichtlich, dass die Beschwerdeführerin die bei ihr wohnenden und von ihr gepflegten Personen oder deren
Vermögen gefährdet. Die Gründe, aus denen nach Auffassung der Behörde die Unzuverlässigkeit der
Beschwerdeführerin in erster Linie folgen soll - Straftaten des Betrugs und der Urkundenfälschung -, liegen in der
Vergangenheit. Dass es danach, insbesondere während der Zeit der Untervermietungen und der Leistung der
Pflegedienste, zu weiterem strafrechtlich relevanten Verhalten der Beschwerdeführerin kam, ist nicht ersichtlich.
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4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 3 BVerfGG.
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5. Wegen der besonderen Dringlichkeit ergeht diese Entscheidung unter Verzicht auf die Anhörung des
Antragsgegners des Ausgangsverfahrens (§ 32 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG).
Hömig
Hoffmann-Riem
Gaier