Urteil des BVerfG vom 04.06.1998
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Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1575/94 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn Dr. H...
-
gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg
vom 19. Juli 1994 - 316 S 282/93 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungs-
gerichts durch den
Vizepräsidenten Papier,
die Richterin Haas
und den Richter Steiner
am 4. Juni 1998 einstimmig beschlossen:
Das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 19. Juli 1994 - 316 S 282/93 - verletzt den Beschwerdeführer in seinem
Grundrecht aus Artikel 14 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht
zurückverwiesen.
Die Freie und Hansestadt Hamburg hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
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1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen ein Berufungsurteil des Landgerichts, mit dem seine auf § 564 b Abs. 2
Nr. 3 BGB gestützte Räumungsklage abgewiesen wurde; er rügt die Verletzung des Art. 14 Abs. 1 GG. Er erwarb die
damals bereits vermietete Wohnung im Jahre 1978. Der Mietvertrag mit der Beklagten des Ausgangsverfahrens wurde
im Jahre 1989 geschlossen.
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2. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens und der Senator für Justiz der Freien und Hansestadt Hamburg erhielten
Gelegenheit zur Äußerung; von einer Stellungnahme zur Verfassungsbeschwerde wurde abgesehen.
II.
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Die  Annahme  der  Verfassungsbeschwerde  zur Entscheidung  ist  zur  Durchsetzung  des  Grundrechts  des
Beschwerdeführers aus Art.  14  Abs.  1  GG  angezeigt  (§  93  a Abs.  2  Buchstabe  b  BVerfGG).  Dieses  Grundrecht  ist
offensichtlich verletzt;  die  für  die  Beurteilung  maßgeblichen verfassungsrechtlichen  Fragen  hat  das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 BVerfGG).
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1. Die angegriffene Entscheidung verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 GG.
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a)  aa)  Das  grundgesetzlich  geschützte  Eigentum gewährt  seinem  Inhaber  das  Recht,  die  Sache  zur  Grundlage
eigenverantwortlicher  Lebensgestaltung  zu  machen  und  sie  zu  nutzen, wie  er  dies  nach  seinen  Plänen  für
zweckmäßig hält.  Das  gilt  nicht  nur  für  den  privaten  Bereich  des Einzelnen,  sondern  auch  für  seine  wirtschaftliche
Betätigung.  Zur  Substanz  des  Eigentums  gehört demgemäß  auch  die  Freiheit,  den  Eigentumsgegenstand  zu
veräußern  (vgl. BVerfGE  52,  1  <30  f.>;  78,  58 <73 f.>).  Das  haben  die  Gerichte  zu  berücksichtigen, wenn  sie  in
Anwendung des § 564 b Abs. 2 Ziffer 3 Satz 1 BGB über eine Verwertungskündigung zu befinden haben. Sie müssen
den  Entschluß  des  Eigentümers  zur Veräußerung  der  Sache  grundsätzlich  achten  und dürfen  nicht  eigene
Vorstellungen an die Stelle der vom Eigentümer getroffenen Dispositionen setzen.
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bb)  Art.  14  Abs.  1  GG  und  der  mit  diesem  Grundrecht eng  verzahnte  Anspruch  auf  Gewährung  effektiven
Rechtsschutzes verpflichten  die  Fachgerichte,  den  Rechtsschutz  nicht  zu  Lasten  des Vermieters  von  einer
unzumutbar strengen Handhabung der Verfahrensvoraussetzungen abhängig zu machen und den geltend gemachten
Anspruch  gerichtlich  nachzuprüfen  (vgl. BVerfGE  79, 80  <84>;  stRspr).  Daraus  folgt  mit  Blick  auf  das
Begründungserfordernis  gemäß  §  564  b  Abs.  3 BGB,  daß  von  einer  Sachentscheidung  zur  Rechtfertigung  der
Kündigung  nur  dann  abgesehen  werden  darf,  wenn  das Kündigungsschreiben  nicht  dem  berechtigten
Informationsbedürfnis des Mieters genügt (vgl. BVerfGE 79, 80 <85 f.>  m.w.N.).  Dabei  ist  das Informationsbedürfnis
des  Mieters  zu  unterscheiden  von  den weitergehenden  -  vom  Bestreiten  des  beklagten  Mieters abhängigen  -
Anforderungen  an  die  substantiierte  Darlegung  der tatbestandlichen  Kündigungsvoraussetzungen  im  Prozeß; erst
recht  ist  die  Feststellung  des  Gerichts,  ob  die  Kündigung gerechtfertigt  ist,  nicht  auf  der  Grundlage  des
Kündigungsschreibens,  sondern  einer  umfassenden  gerichtlichen Prüfung  der  Begründetheit  der  Räumungsklage  zu
treffen (vgl. BVerfGE 49, 244 <249 f.>; 53, 352 <360 ff.>).
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Diesen verfassungsrechtlichen Maßstab hat das Landgericht verfehlt und den Beschwerdeführer dadurch in seinem
Eigentumsgrundrecht verletzt.
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b)  aa)  Das  Landgericht  stützt  seine Entscheidung  zum  einen  auf  die  Feststellung,  der Beschwerdeführer  habe  die
Gründe  für  den Verkaufsentschluß  im  Kündigungsschreiben  nicht ausreichend  dargelegt.  Die  dieser  Auffassung
zugrundeliegenden entscheidungserheblichen Erwägungen halten einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand.
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Der  Beschwerdeführer  hatte  im Kündigungsschreiben  insoweit  ausgeführt,  er  sei  zur Veräußerung  der  Immobilie
gezwungen,  weil  diese unrentabel  sei,  und  weil  er  außerdem  mit  dem Verkaufserlös  die  aus  seiner  Überschuldung
herrührenden  Belastungen  zurückführen  wolle.  Die Verluste  aus  der  Wohnung  hatte  er  für  mehrere  Jahre
nachgewiesen.  Hinsichtlich  der  Überschuldung  hatte  er  die Schuldsalden  auf  mehreren  Konten  angegeben.  Das
Landgericht  hat diese  Angaben  in  Übereinstimmung  mit  entsprechenden  Tendenzen in  der  mietrechtlichen
Rechtsprechung  für  unzureichend gehalten,  weil  sie  offen  ließen,  ob  die  genannten  Gründe für  den  Entschluß  zur
Veräußerung  bereits  bei Abschluß  des  Mietvertrages  vorgelegen  hätten.  Die Kündigung  könne  nur  mit  Gründen
gerechtfertigt werden, die nach Abschluß des Mietvertrages entstanden seien. Deshalb hätte der Beschwerdeführer im
Kündigungsschreiben  auch  sein  Einkommen  offenlegen müssen,  um  nachvollziehbar  zu  machen,  wie  sich  seine
finanzielle  Lage  entwickelt  habe.  Diese  Auffassung  ist  unvereinbar mit  der  verfassungsrechtlich  geschützten
Dispositionsfreiheit des Eigentümers; sie stellt zudem unzumutbar hohe Hürden für die gerichtliche Durchsetzung des
Kündigungsrechts auf.
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(1) Aus Sicht des Eigentümers kann es viele Gründe geben, eine Wohnung zu erwerben und zu vermieten, obwohl
sie an sich (noch) unrentabel ist oder der Eigentümer sich in  schlechten  wirtschaftlichen  Verhältnissen  befindet. Ein
solcher  Entschluß  wird  keineswegs  nur  aus  kurzfristigen spekulativen  Absichten  heraus  getroffen,  ihm  können
vielmehr durchaus  langfristige  wirtschaftliche  Erwartungen  oder  eine bestimmte  Lebensplanung  zugrunde  liegen.  Es
ist  mit  der  Verfassung unvereinbar,  den  Eigentümer  in  einem  solchen  Fall  an  der einmal  getroffenen  Entscheidung
festzuhalten,  nur  weil  von vornherein  absehbar  war,  daß  sie  mit  einem  wirtschaftlichen Risiko  verbunden  ist.  Diese
Gefahr  bergen  unternehmerische Investitionen  stets  in  sich;  die  verfassungsrechtlich  garantierte Dispositionsfreiheit
des Eigentümers umfaßt deshalb gerade auch den Zugriff auf das gesamte Vermögen, um Situationen begegnen zu
können, die als wirtschaftlich nicht mehr tragbar angesehen werden (vgl. BVerfGE 79, 283 <290>). Die Fachgerichte
haben  einen  solchen  Entschluß  von Verfassungs  wegen  grundsätzlich  zu  respektieren  und  ihrer Rechtsfindung
zugrunde zu legen.
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Das schließt die gerichtliche Prüfung nicht aus, ob der geltend gemachte Verkaufswunsch willkürlich erscheint oder
die  Kündigung  mißbräuchlich  ist, weil  sie  etwa  einem  spekulativen  Verkauf  dient.  Darauf  stellt  das Landgericht
indessen  nicht  ab.  Vielmehr  hält  es  den Veräußerungswunsch  von  vornherein  für  unbeachtlich, wenn  die  dafür
genannten  Gründe  bereits  bei Abschluß  des  Mietvertrages  vorlagen.  Damit  mißachtet das  Gericht  die  Befugnis  des
Eigentümers,  sein  Leben  unter Gebrauch  seines  Eigentums  so  einzurichten,  wie  er  dies  für richtig  hält.  Abgesehen
davon gibt  es  hier  auch  keinerlei Anhaltspunkte  für  eine  mißbräuchliche Kündigung.  Der  Beschwerdeführer  hatte  die
ständig vermietete Wohnung vor Ausspruch der Kündigung bereits 14 Jahre inne; er hatte sie außerdem drei Jahre vor
Kündigung erneut vermietet.
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(2)  Der  vom  Landgericht  aufgestellte allgemeine  Grundsatz,  der  Eigentümer  müsse  im Kündigungsschreiben
darlegen,  daß  die  von  ihm  genannten Gründe  für  den  Verkauf  der  Wohnung  erst  nach Abschluß  des  Mietvertrages
eingetreten  sind,  ist  zugleich unvereinbar  mit  dem  grundrechtlich  verbürgten  Anspruch  auf wirkungsvollen
Rechtsschutz.  Er  ist  geeignet,  die  Durchsetzung  des Kündigungsrechts  unzumutbar  zu  erschweren,  ohne  daß  - wie
dargelegt  -  sachliche  Gründe  hierfür  ersichtlich sind.  Das  gilt  einmal  insoweit,  als  dem  Eigentümer  nach  diesem
Grundsatz gerichtlicher Rechtsschutz gänzlich versagt bleibt, soweit er sich "nur" auf wirtschaftliche Gründe berufen
kann, die  bereits  bei  Mietvertragsschluß  vorlagen,  auch  wenn  der Verkaufswunsch  gleichwohl  plausibel  gemacht
werden  könnte. Unabhängig  davon  ist  die  vom  Landgericht  aufgestellte,  rein formale  Darlegungsregel  dazu  angetan,
daß die Anforderungen an das Kündigungsschreiben überspannt werden und damit der Anspruch auf eine gerichtliche
Sachprüfung  verkürzt wird.  Das  zeigt  gerade  der  vorliegende  Fall.  Das  Landgericht verlangt  vom  Beschwerdeführer,
bereits im Kündigungsschreiben eine umfassende Bilanz aufzustellen, aus der sich im einzelnen ergibt, wie sich seine
finanzielle  Lage  seit Abschluß  des  Mietvertrages  entwickelt  hat.  Dies läßt  sich  nicht  mehr  mit  dem  Zweck  des
Begründungserfordernisses nach § 564 b Abs. 3 BGB rechtfertigen. Vielmehr war vorliegend aufgrund der Angaben im
Kündigungsschreiben  bereits  erkennbar,  daß  der Beschwerdeführer  erheblich  verschuldet  war  und  der Verkaufserlös
dazu dienen  sollte,  die  aus  der Überschuldung  entstehenden  Belastungen zurückzuführen.  Damit  war  zunächst  eine
ausreichende Grundlage  für  die  Entscheidung  gegeben,  der  Kündigung  zu widersprechen  oder  sie  hinzunehmen,
zumal hier nichts für eine mißbräuchliche Kündigung sprach und es dem Mieter ohnehin regelmäßig nicht möglich sein
dürfte, die  Vermögensverhältnisse  des  Vermieters  zu überprüfen.  Etwaiger  weiterer  Klärungsbedarf hätte  ohne
weiteres im Prozeß gedeckt werden können, wie das erstinstanzliche Verfahren zeigt.
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bb)  Die  Entscheidung  wird  überdies  von  der Erwägung  getragen,  der  Beschwerdeführer  habe  im
Kündigungsschreiben  nicht  ausreichend  dargelegt,  daß  die Wohnung nicht zu einem angemessenen Preis veräußert
werden  könne,  solange  sie  vermietet  sei.  Die  mit  der Kündigung  vorgelegte  Maklerauskunft  genüge  dem
Begründungserfordernis  auch  insoweit  nicht,  als  sie  sich  auf Erfahrungen  aus  Bemühungen  zum  Verkauf  anderer  -
vermieteter und  bezugsfreier  -  Eigentumswohnungen  in  derselben  Wohnanlage berufe.  Es  könne  nämlich  nur  dann
festgestellt werden,  daß  der  Beschwerdeführer  bei  Fortdauer  des Mietverhältnisses  tatsächlich  einen  erheblichen
Nachteil erleiden würde, wenn die Angaben in dem Maklerschreiben durch praktische Versuche zur Veräußerung der
streitgegenständlichen  Wohnung  belegt  worden  wären.  Davon könne  nur  dann  abgesehen  werden,  wenn  ein
erheblicher Nachteil in hohem Maße wahrscheinlich sei, was hier nicht ohne weiteres ersichtlich sei.
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Damit hat das Landgericht die Anforderungen, die an die  Begründung  eines  Kündigungsschreibens  zu  stellen sind,
vom  berechtigten  Informationsbedürfnis  des  Mieters gelöst.  Es  geht  der  Sache  nach  davon  aus,  bereits  das
Kündigungsschreiben  müsse  die  gerichtliche  Feststellung des  Vorliegens  der  Kündigungsvoraussetzungen  erlauben.
Auf diese Weise wird indes der verfassungsrechtliche Anspruch des Beschwerdeführers auf umfassende tatsächliche
u n d rechtliche  Prüfung  des  von  ihm  geltend  gemachten Kündigungsrechts  in  einem  gerichtlichen  Verfahren
abgeschnitten.
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Soweit  sich  das  Landgericht  von  dem  in  der mietrechtlichen  Rechtsprechung  verbreiteten  Grundsatz  hat  leiten
lassen,  der  Eigentümer  könne nur  durch  (vergebliche)  Bemühungen  zum  Verkauf  der  Wohnung  zu einem
angemessenen  Preis  darlegen,  daß  dies  wegen  der Vermietung  nicht  möglich  sei,  ist  mit  Blick  auf  das  weitere
Verfahren  anzumerken,  daß  diese  Auffassung  ebenfalls verfassungsrechtlich  zu  beanstanden  ist.  Es  gibt  keine
Vorschrift, aus der sich eine derart formalisierte, von den Umständen des konkreten Falles losgelöste Darlegungsregel
herleiten ließe.  Der  Eigentümer  hat  vielmehr  einen verfassungsrechtlichen  Anspruch  darauf,  daß  das  Gericht seinen
Vortrag  auf  seine  Entscheidungserheblichkeit  und  -  im Bestreitensfalle  -  auf  seine  Beweistauglichkeit  hin überprüft.
Schutzwürdige  Mieterinteressen  oder verfahrensrechtliche  Erfordernisse,  die  es  rechtfertigen könnten, jeden anderen
geeigneten  Nachweis  für  das Vorliegen  der  Kündigungsvoraussetzungen  von  vornherein auszuschließen,  sind  nicht
erkennbar.  Das  gilt  erst  recht, soweit  es  -  wie  hier  -  nur  um  die  inhaltlichen  Anforderungen  an  das
Kündigungsschreiben geht.  Außerdem  kann  die  vom Landgericht aufgestellte  Darlegungsregel  die  Durchsetzung  des
Kündigungsrechts im Einzelfall unzumutbar erschweren. Sie zwingt den Eigentümer nämlich auch dann, sich um den
Verkauf  der  vermieteten  Wohnung  zu  einem  angemessenen  Preis  zu bemühen,  wenn  er  substantiiert  (etwa  durch
Maklerauskunft  oder Privatgutachten)  darlegen  und  gegebenenfalls  beweisen  könnte, daß  diese  Bemühungen
aussichtslos sind.
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c) Die Entscheidung beruht auch auf der Verletzung des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG. Es kann nicht ausgeschlossen
werden, daß das Landgericht zu einer anderen Entscheidung gelangt, wenn es nach Maßgabe dieses Beschlusses in
die weitere Prüfung eintritt.
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2. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen folgt aus § 34 a Abs. 2 BVerfGG.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Haas
Steiner