Urteil des BVerfG vom 26.11.2009
BVerfG: rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, rechtsschutz, bestätigung, mehrheit, anfechtbarkeit, gewalt, stimmrecht, kontrolle, willkürverbot
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 339/09 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. des Herrn Dr. T...,
2. des Herrn W...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Deubner & Kirchberg,
Mozartstraße 13, 76133 Karlsruhe -
I. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 23. Oktober 2008 - IX ZB 235/06 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Hamburg vom 1. Dezember 2006 - 326 T 93/06 -,
c) den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 15. August 2006 - 67g IN 476/05 -,
d) die Beschlüsse des Amtsgerichts Hamburg vom 13. Juli 2006 - 67 g 476/05 -,
e) den Beschluss des Amtsgerichts Hamburg vom 10. Juli 2006 - 67g IN 476/05 -,
II. mittelbar gegen
die § 6 Abs. 1, § 253 Insolvenzordnung
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Eichberger,
Masing
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 26. November 2009 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft eine Stimmrechtsentscheidung im Insolvenzverfahren.
2
Der von einer Abwicklungsanordnung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht betroffene
Beschwerdeführer zu 1) stellte, vertreten durch den Beschwerdeführer zu 2), wegen drohender Zahlungsunfähigkeit
beim Insolvenzgericht einen Insolvenzeigenantrag und reichte den Entwurf eines Insolvenzplans ein. Im Termin zur
Erörterung und Abstimmung über den Insolvenzplan trat ein Rechtsanwalt auf, dem mehrere Insolvenzgläubiger
gebundene Stimmrechtsvollmachten erteilt hatten und der aus der Sozietät des Beschwerdeführers zu 2) stammte. Zu
Beginn des Termins stellte die den Termin leitende Rechtspflegerin des Insolvenzgerichts fest, dass die
Stimmrechtsvollmachten wegen eines Verstoßes gegen das Verbot, widerstreitende Interessen zu vertreten (§ 43a
Abs. 4 BRAO), gemäß §§ 134, 139 BGB unwirksam seien. Einen Antrag auf Stimmrechtsfestsetzung für diese
Gläubiger lehnte die Rechtspflegerin deshalb ab und setzte zudem das bestrittene Stimmrecht eines anderen
Gläubigers fest. Im Anschluss stimmten die nach der Auffassung der Rechtspflegerin allein stimmberechtigten
Gläubiger über den Insolvenzplan ab, für den es in zwei der drei Gruppen nicht die erforderliche Mehrheit gab. Mit
Rücksicht auf das Ergebnis der Abstimmung versagte die Rechtspflegerin die Bestätigung des Insolvenzplans. Einen
Antrag auf richterliche Festsetzung der Stimmrechte nach § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG lehnte der zuständige
Insolvenzrichter ab. Die auf eine fehlerhafte Stimmrechtsfestsetzung gestützte Beschwerde gegen die Versagung der
Bestätigung wurde zurückgewiesen. Die Rechtsbeschwerde verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 23.
Oktober 2008 - IX ZB 235/06 - (u.a. veröffentlicht in NZI 2009, S. 106) mit der Begründung, die Feststellung der
Abstimmungsberechtigung gehöre als Vorfrage zur gerichtlichen Stimmrechtsentscheidung, über die das
Insolvenzgericht abschließend zu entscheiden habe.
II.
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Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung des aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG
abgeleiteten Anspruchs auf Justizgewährung und effektiven Rechtsschutz. Im Übrigen rügen die Beschwerdeführer
eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 103 Abs. 1 GG, aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot
und aus Art. 14 Abs. 1 GG.
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Der Bundesgerichtshof habe den aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Anspruch
auf Justizgewährung und effektiven Rechtsschutz verletzt, indem er die Anfechtbarkeit der Stimmrechtsentscheidung
verneint habe. Es müsse klaglos hingenommen werden, dass ein einzelner Gläubiger einen Insolvenzplan zu Fall
bringen könne. Dies widerspreche auch den Rechten der Mehrheit der Gläubiger aus Art. 14 Abs. 1 GG.
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Das Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG sowie das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG seien
verletzt, weil die Stimmrechtsentscheidungen des Insolvenzgerichts nicht hinreichend begründet und in der Sache
unzutreffend seien. Die willkürliche Stimmrechtsfestsetzung verkürze zudem die Rechte der Gläubiger aus Art. 14
Abs. 1 GG
III.
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Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des
§ 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist die Annahme zur Durchsetzung der als verletzt gerügten Rechte
angezeigt. Vielmehr hat die Verfassungsbeschwerde keine Aussicht auf Erfolg.
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1. Es kann dahin stehen, ob die Beschwerdeführer die von ihnen gerügte Verletzung des aus Art. 2 Abs. 1 GG in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Anspruchs auf Justizgewährung und effektiven Rechtsschutz in einer
den Substantiierungsanforderungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG genügenden Weise dargetan haben.
Jedenfalls hat die Verfassungsbeschwerde in der Sache keine Aussicht auf Erfolg, soweit die Beschwerdeführer
beanstanden, dass ihnen durch die Auslegung und Anwendung der §§ 253, 6 InsO durch den Bundesgerichtshof ein
Rechtsmittel gegen die Stimmrechtsentscheidungen des Insolvenzgerichts versagt sei. Dass eine durch den
Rechtspfleger getroffene Stimmrechtsentscheidung gemäß § 77 Abs. 2 Satz 2 InsO mit Rücksicht auf §§ 6, 253 InsO
nur einer einmaligen richterlichen Kontrolle nach § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG unterzogen werden und diese richterliche
Entscheidung nicht mehr angefochten werden kann, verletzt weder den aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Anspruch auf Justizgewährung und effektiven Rechtsschutz noch Art. 14 Abs. 1 GG.
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a) Das Grundgesetz garantiert im Rahmen des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs ebenso wie nach Art. 19
Abs. 4 GG nur das Offenstehen des Rechtswegs, also die Öffnung des Zugangs zum Gericht. Insofern reicht es
grundsätzlich aus, dass die Rechtsordnung eine einmalige Möglichkeit zur Einholung einer gerichtlichen Entscheidung
eröffnet (vgl. BVerfGE 54, 277 <291>; 107, 395 <402>; 112, 185 <207>). Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, unter
Abwägung und Ausgleich der verschiedenen betroffenen Interessen zu entscheiden, ob es bei einer Instanz bleiben
soll oder ob mehrere Instanzen bereitgestellt werden und unter welchen Voraussetzungen sie angerufen werden
können (vgl. BVerfGE 54, 277 <291 f.>; 107, 395 <402>). Ein Instanzenzug ist von Verfassungs wegen nicht
garantiert (vgl. BVerfGE 54, 277 <291>; 107, 395 <402>). Das Rechtsstaatsprinzip fordert für gerichtliche Verfahren
einen wirkungsvollen Rechtsschutz des einzelnen Rechtsuchenden, andererseits aber auch die Herstellung von
Rechtssicherheit, die voraussetzt, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl.
BVerfGE 60, 253 <269>; 88, 118 <124>). Es ist Sache des Gesetzgebers, bei der Ausgestaltung des Verfahrens die
einander widerstreitenden Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen und zu entscheiden, welchem von ihnen jeweils
der Vorzug zu geben ist. In sachlicher Hinsicht muss der Gesetzgeber die betroffenen Belange angemessen
gewichten und in Bezug auf die Auswirkung der Regelung auf den einzelnen Rechtsuchenden den Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit beachten (BVerfGE 88, 118 <124 f.>; 116, 1 <18 f.>). Auch der Richter muss die Tragweite des
Grundrechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz berücksichtigen (vgl. BVerfGE 77, 275 <284>; 88, 118 <125>).
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b) Mit diesen Grundsätzen steht die von den Beschwerdeführern beanstandete Rechtslage der nur begrenzten
Anfechtbarkeit der Stimmrechtsentscheidung durch den Rechtspfleger in der Auslegung, die sie durch die
angegriffene Entscheidung des Bundesgerichtshofs erhalten hat, in Einklang. Auch soweit eigentumsrechtlich
geschützte Rechtspositionen der Gläubiger betroffen sind, verleiht die den Eigentümern aus Artikel 14 Abs. 1 GG
zufließende Rechtsschutzgewährleistung (vgl. BVerfGE 49, 220 <225>; 49, 252 <257>) keine weitergehenden
Rechtsschutzansprüche.
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aa) Es ist eine zunächst den Fachgerichten vorbehaltene Auslegung des einfachen Verfahrensrechts, wenn der
Bundesgerichtsgerichtshof die Entscheidung des Insolvenzrichters nach § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG über die
Stimmrechtsneufestsetzung in Auslegung der §§ 253, 6 InsO sowie des § 77 InsO für mit Rechtmitteln nicht weiter
angreifbar deutet und die vorgelagerte Entscheidung über die Feststellung der Stimmberechtigung in den Ausschluss
von weiteren Rechtsmitteln mit einbezieht. Diese Auslegung der Insolvenzordnung ist Sache der dafür zuständigen
Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich entzogen (vgl. BVerfGE 18,
85 <92>; 113, 88 <103>). Welcher Auslegung nach einfachem Recht der Vorzug gebührt, hat das
Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden (vgl. BVerfGE 42, 64 <74>). Nur bei einer grundsätzlich unrichtigen
Anschauung der einschlägigen Grundrechtsverbürgungen kann das Bundesverfassungsgericht auf eine
Verfassungsbeschwerde hin eingreifen (vgl. BVerfGE 18, 85 <93>).
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bb) Der Insolvenzrichter übt bei der Entscheidung nach § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG rechtsprechende Gewalt im Sinne
des Art. 92 GG aus. Dies ist der Fall, wenn der Gesetzgeber für einen Sachbereich eine Ausgestaltung wählt, die bei
funktioneller Betrachtung nur der rechtsprechenden Gewalt zukommen kann. Es handelt sich um materielle
Rechtsprechung, wenn der Gesetzgeber ein gerichtsförmiges Verfahren hoheitlicher Streitbeilegung vorsieht und den
dort zu treffenden Entscheidungen eine Rechtswirkung verleiht, die nur unabhängige Gerichte herbeiführen können
(vgl. BVerfGE 103, 111 <137>). Kennzeichen rechtsprechender Tätigkeit ist daher typischerweise die letztverbindliche
Klärung der Rechtslage in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren (vgl. BVerfGE 103, 111 <138>).
Im Verfahren der Stimmrechtsneufestsetzung nach § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG entscheidet der Insolvenzrichter in
diesem Sinne abschließend über das vor dem Rechtspfleger umstrittene Stimmrecht eines Gläubigers und legt den
diesbezüglichen Streit der betroffenen Verfahrensbeteiligten bei.
12
cc) Die Beschränkung der Kontrolle der Stimmrechtsentscheidung des Rechtspflegers einschließlich seiner
vorangehenden Beurteilung der Gültigkeit der Gläubigervollmachten auf die Entscheidung des Insolvenzrichters nach
§ 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG ist mit den dargelegten Anforderungen eines verfassungsgemäßen Rechtsschutzes
vereinbar. Die dementsprechende Auslegung der §§ 253, 6 InsO in Verbindung mit § 77 InsO durch den
Bundesgerichtshof ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden: Vorrangiger Zweck des Insolvenzverfahrens ist
unter Berücksichtigung der Lage des Schuldners die bestmögliche Befriedigung der Forderungen der Gläubiger, die
auch im Rahmen der Zwangsvollstreckung als private vermögenswerte Rechte von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt sind
(vgl. BVerfGE 116, 1 <13>). Gerade der Schutz der Rechte der Gläubiger verlangt einen zügigen und reibungslosen
Ablauf des Insolvenzverfahrens als Teil des Zwangsvollstreckungsrechts (vgl. BVerfG 116, 1 <13 f., 22>). Nur dann
kann das grundsätzlich eilbedürftige Insolvenzverfahren im Sinne des verfassungsrechtlichen Rechtschutzgebots
effizient sein. Eine rückwirkende Beseitigung von Beschlüssen der Gläubigerversammlung im Wege einer Anfechtung
der Stimmrechtsfestsetzung würde dagegen die Verfahrensabwicklung verkomplizieren und verlangsamen. Zudem
bestünde die Gefahr eines Missbrauchs zum Zwecke der Verfahrensverzögerung. Im Unterschied zur früheren
Rechtslage - vgl. § 95 Abs. 3 KO - ist die Stimmrechtsfestsetzung auch nicht gänzlich unanfechtbar. Die Möglichkeit
der nachträglichen Korrektur einer Stimmrechtsentscheidung des Rechtspflegers nach § 77 Abs. 2 Satz 2 InsO durch
den Richter hat der Gesetzgeber in dem zeitgleich mit der Insolvenzordnung zum 1. Januar 1999 eingeführten § 18
Abs. 3 Satz 2 RPflG gerade wegen der zuvor geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken vorgesehen (vgl.
BTDrucks 12/3803, S. 65 f.). Dass der Gesetzgeber sich in besonderer Weise von dem das Insolvenzverfahren
beherrschenden Beschleunigungsgebot hat leiten lassen, wird durch seine in der Gesetzesbegründung angefügte
Erwägung deutlich, wonach die Entscheidung des Insolvenzrichters nach § 18 Abs. 3 Satz 2 RPflG häufig noch in
dem selben Termin erreicht werden könne, weil der Antrag nur bis zum Ende des Termins gestellt werden dürfe. Dies
ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zudem ermöglicht § 77 Abs. 2 Satz 3 InsO eine nachträgliche
Änderung der Stimmrechtsentscheidung durch das Insolvenzgericht.
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2. Soweit die Beschwerdeführer im Übrigen hinsichtlich der Stimmrechtsentscheidungen des Insolvenzgerichts eine
Verletzung ihrer Rechte aus Art. 103 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG rügen, ist eine Verletzung
spezifischen Verfassungsrechts nicht ersichtlich. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3
BVerfGG abgesehen.
14
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Eichberger
Masing