Urteil des BVerfG vom 04.04.2000
BVerfG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, verfassungsbeschwerde, kurierdienst, rechtliches gehör, deutsche bundespost, rechtsstaatsprinzip, zugang, briefkasten, zustellung, abgabe
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 199/00 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
1. des Herrn L...,
2. des Herrn G...
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwälte Armin Stapel und Koll.,
Marburger Straße 3, Berlin -
gegen
a)
den Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 22. Dezember 1999 - 13 Sa
2282/99 -,
b)
das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 1. Juli 1999 - 4 Ca 31696/98 -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den
Richter Kühling,
die Richterin Jaeger
und den Richter Hömig
am 4. April 2000 einstimmig beschlossen:
Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 22. Dezember 1999 - 13 Sa 2282/99 - verletzt die
Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Absatz 3 des Grundgesetzes). Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das
Landesarbeitsgericht Berlin zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.
Das Land Berlin hat den Beschwerdeführern die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 36.000 DM (in Worten: sechsunddreißigtausend
Deutsche Mark) festgesetzt.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich im Wesentlichen gegen eine gerichtliche Entscheidung, mit der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist versagt und die
Berufung als unzulässig verworfen worden ist.
I.
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1. Dem Kläger des Ausgangsverfahrens war eine Änderungskündigung ausgesprochen worden, gegen die er Klage
erhob. Das Arbeitsgericht stellte die Unwirksamkeit der Änderungskündigung fest.
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Die Beschwerdeführer legten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts am 29. Oktober 1999 Berufung ein, welche sie mit
am 30. November 1999 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründeten. Nachdem das
Landesarbeitsgericht auf die Fristversäumnis hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist (§ 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG)
hingewiesen hatte, baten sie um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Der Berufungsbegründungsschriftsatz vom
29. November 1999 sei am selben Tag gegen 17.15 Uhr in einen Briefumschlag des Kurierdienstes des
Anwaltsvereins gesteckt und einer Auszubildenden des Prozessbevollmächtigten zum Einwurf in den
Sammelbriefkasten des Kurierdienstes übergeben worden. Die Auszubildende habe dann die gesamte ihr übergebene
Gerichtspost vor 18.00 Uhr in den Briefkasten des Kurierdienstes eingeworfen. Dieser garantiere dafür, dass bis 22.00
Uhr in die bei zwei Berliner Amtsgerichten angebrachten Briefkästen eingeworfene Postsendungen an Berliner
Gerichte gleichen Tags bis 24.00 Uhr dort zugestellt würden. Irgendwelche Unregelmäßigkeiten, die darauf hindeuten
könnten, dass die rechtzeitige Abgabe beim Kurierdienst des Anwaltsvereins die Zustellung an den Adressaten
gleichen Tags nicht gewährleisten würde, seien bislang nicht bekannt geworden. Der Prozessbevollmächtigte habe
darauf vertrauen dürfen, dass durch rechtzeitige Abgabe des Schriftsatzes beim Kurierdienst der rechtzeitige Eingang
beim Landesarbeitsgericht gewährleistet werde.
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2. Das Landesarbeitsgericht wies den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück und verwarf die
Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist durch Beschluss als unzulässig. Die Frist sei schuldhaft
versäumt worden. Schon die eigene Darlegung zeige, dass der Prozessbevollmächtigte der Beschwerdeführer die
Beförderung des Berufungsbegründungsschriftsatzes nicht mit der gebotenen Sorgfalt behandelt habe. Um zu
gewährleisten, dass dieser Schriftsatz noch am 29. November 1999 beim Landesarbeitsgericht eingehen würde, hätte
er den direkten Einwurf des Schriftsatzes in den Nachtbriefkasten der Gerichte für Arbeitssachen veranlassen
müssen. Es sei nicht zu erkennen, warum gewährleistet sein soll, dass der Kurierdienst des Berliner Anwaltsvereins
bis 22.00 Uhr in die Briefkästen bei zwei Amtsgerichten eingeworfene Postsendungen an die Berliner Gerichte für
Arbeitssachen am gleichen Tag bis 24.00 Uhr zustellen würde. Dies möge für die Behandlung von fristwahrenden
Schriftsätzen für die ordentliche Gerichtsbarkeit wegen der Einrichtung von Postsammelstellen an den betreffenden
Amtsgerichten zutreffen, könne jedoch nicht zu der Annahme führen, dass ein derartiger Schriftsatz noch am selben
Tag bei den Gerichten für Arbeitssachen eingehe.
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3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführer gegen das Urteil des Arbeitsgerichts und
den Beschluss des Landesarbeitsgerichts. Die Verweigerung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das
Landesarbeitsgericht stelle einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip dar. Der
seit Oktober 1997 tätige Kurierdienst des Anwaltsvereins befördere monatlich etwa 25.000 bis 30.000 Briefumschläge
mit zumeist mehreren Schriftsätzen für alle Gerichtsbarkeiten. Dies sei wegen der großen Anzahl und räumlichen
Verteilung der Gerichte in Berlin für die dortige Anwaltschaft unverzichtbar. Unregelmäßigkeiten bei der Zustellung
noch am selben Tag seien in mehr als zwei Jahren Betrieb bislang nicht bekannt geworden. Das Vertrauen in den
Kurierdienst sei mindestens so berechtigt wie das Vertrauen in die Deutsche Post AG. Der Beschluss des
Landesarbeitsgerichts beruhe ferner auf einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG).
Das Landesarbeitsgericht habe überraschend eine Differenzierung in der Beurteilung zwischen Post an die ordentliche
Gerichtsbarkeit und an die Arbeitsgerichtsbarkeit vorgenommen. Möglicherweise sei es dem Landesarbeitsgericht
verborgen geblieben, dass die gemeinsamen Briefannahmestellen für die ordentliche Gerichtsbarkeit an den zwei
Amtsgerichten seit mehr als zwei Jahren aufgelöst und an ihre Stelle die Annahmestellen des Kurierdienstes - jedoch
für Gerichte aller Gerichtsbarkeiten - getreten seien. Dass das Landesarbeitsgericht seine Entscheidung auf eine
Einschränkung der Zuständigkeit der seit Jahren nicht mehr bestehenden gemeinsamen Briefannahmestellen stützen
werde, habe von den Beschwerdeführern nicht vorausgesehen werden können.
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4. Die Senatsverwaltung für Arbeit, Berufliche Bildung und Frauen des Landes Berlin hat sich nicht geäußert. Der
Kläger des Ausgangsverfahrens hat eine Stellungnahme zu der Verfassungsbeschwerde abgegeben, die er nicht für
begründet hält.
II.
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1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, soweit sie sich gegen den Beschluss des
Landesarbeitsgerichts richtet, weil dies zur Durchsetzung des Rechts der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 1 GG in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).
Auch die weiteren Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG
liegen insoweit vor.
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a) Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgebliche verfassungsrechtliche Frage ist durch das
Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
verbietet der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip) den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten
Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise zu erschweren (BVerfGE 41, 23
<25 f.>; 69, 381 <385>; 88, 118 <123 ff.>). Die Gerichte dürfen daher bei der Auslegung der die Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand regelnden Vorschriften die Anforderungen an das, was der Betroffene veranlasst haben muss, um
eine Wiedereinsetzung zu erlangen, nicht überspannen (BVerfGE 40, 88 <91>; 67, 208 <212 f.>). Dabei hat es das
Bundesverfassungsgericht insbesondere als nicht zulässig angesehen, dem Bürger Verzögerungen bei der
Briefbeförderung oder Zustellung durch die Deutsche Bundespost als Verschulden anzurechnen (BVerfGE 41, 23
<25 f.>; 53, 25 <28>; 62, 334 <336>). In der Verantwortung des Absenders liegt es daher nur, das zu befördernde
Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend und so rechtzeitig zur Post zu geben, dass es nach den
organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Post bei regelmäßigem Betriebsablauf den Empfänger
fristgerecht erreicht (BVerfGE 41, 23 <27>). Diese Grundsätze sind der Sache nach auch auf die Übermittlung eines
fristwahrenden Schriftsatzes durch den Kurierdienst eines Anwaltsvereins anzuwenden (BVerfG, 2. Kammer des
Ersten Senats, Beschluss vom 23. August 1999, 1 BvR 1138/97, NJW 1999, S. 3701 f.).
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b) Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Sie überspannt
die von den Beschwerdeführern einzuhaltenden Sorgfaltsanforderungen und die zu erfüllende Darlegungslast
hinsichtlich der Inanspruchnahme des Kurierdienstes und wälzt allgemein bestehende Beförderungsrisiken einseitig
auf den rechtsuchenden Bürger ab.
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Das Landesarbeitsgericht sieht eine Sorgfaltspflichtverletzung bereits darin, dass der Prozessbevollmächtigte der
Beschwerdeführer nicht veranlasst habe, den Berufungsbegründungsschriftsatz unmittelbar in den Nachtbriefkasten
der Gerichte für Arbeitssachen einzuwerfen. Es bedeutet aber eine Überspannung der Sorgfaltspflichten, dies vom
Prozessbevollmächtigten zu verlangen, wenn sich - im Nachhinein - herausstellt, dass eine im Übrigen geeignete und
zuverlässige Übersendungsmöglichkeit nicht funktioniert hat. Im Hinblick auf die in Berlin bestehende Möglichkeit der
Inanspruchnahme des Kurierdienstes des Anwaltsvereins bestand für den Prozessbevollmächtigen keine
Veranlassung, diesen Schriftsatz direkt zum Nachtbriefkasten zu bringen. Das Unterlassen dieser Möglichkeit kann
ihm daher nicht als Sorgfaltspflichtverstoß angelastet werden.
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Weiter führt das Landesarbeitsgericht in seinem Beschluss aus, es sei nicht zu erkennen, wieso ein Zugang von
Schriftsätzen durch den Kurierdienst des Anwaltsvereins bei Berliner Gerichten bei Einwurf in den Briefkasten bis
22.00 Uhr noch am selben Tag gewährleistet sein solle. Damit überspannt es die Anforderungen an die Darlegung der
Wiedereinsetzungsanforderungen in verfassungswidriger Weise. Es kann als gerichtsbekannt gelten, dass der
anwaltliche Kurierdienst in Berlin bereits seit über zwei Jahren zuverlässig arbeitet. Die Beschwerdeführer haben sich
in ihrem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darauf berufen, dass der Kurierdienst einen Zugang von
Schriftsätzen in der beschriebenen Weise garantiere und dass trotz der großen Zahl zwischenzeitlich auf diesem Weg
beförderter Sendungen bislang keinerlei Unregelmäßigkeiten bekannt geworden seien. Da ferner der Einwurf der Post
in den Briefkasten des Kurierdienstes sogar noch vor 18.00 Uhr dargelegt und glaubhaft gemacht wurde - was auch
das Landesarbeitsgericht insoweit zu keinen Beanstandungen veranlasste -, ist unklar, was die Beschwerdeführer
noch weiter hätten vortragen sollen.
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c) Bei der gegebenen Sachlage kann es dahinstehen, ob der Beschluss des Landesarbeitsgerichts zugleich einen
Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG darstellt.
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2. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Arbeitsgerichts richtet, ist sie nicht zur
Entscheidung
anzunehmen.
Insoweit
ist
die
Verfassungsbeschwerde
weder
von
grundsätzlicher
verfassungsrechtlicher Bedeutung noch hat sie hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Beschwerdeführer erwähnen das
arbeitsgerichtliche Urteil nur in den einleitenden Angaben ihrer Verfassungsbeschwerde und setzen sich im Übrigen in
keiner Weise damit auseinander. Damit werden die Substantiierungserfordernisse nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92
BVerfGG nicht erfüllt.
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3. Der Beschluss des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht Berlin
zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).
15
Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG, die
Festsetzung des Gegenstandswertes auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.
16
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Kühling
Jaeger
Hömig