Urteil des BVerfG vom 01.06.2006

BVerfG: verfassungsbeschwerde, tsg, öffentliche gewalt, niedersachsen, wiederherstellung, billigkeit, geschlechtsumwandlung, papier, minderung, rüge

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2201/02 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn T...,
- Bevollmächtigte:
Rechtsanwältin Maria Sabine Augstein,
Altes Forsthaus 12, 82327 Tutzing -
1. unmittelbar gegen
a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 31. Oktober 2002 - 5 W 181/02 -,
b) den Beschluss des Landgerichts Oldenburg vom 6. August 2002 - 17 T 784/02 -,
c) den Beschluss des Amtsgerichts Oldenburg (Oldb) vom 11. Juli 2002 - 4 III 50/2002 -,
2. mittelbar gegen
§ 7 Abs. 1 Nr. 3 und § 7 Abs. 3 TSG
hier: Antrag auf Auslagenerstattung und Festsetzung des Gegenstandswerts
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier,
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und den Richter Hoffmann-Riem
am 1. Juni 2006 einstimmig beschlossen:
1. Die Bundesrepublik Deutschland und das Land Niedersachsen haben dem Beschwerdeführer die durch die
Verfassungsbeschwerde entstandenen notwendigen Auslagen je zur Hälfte zu erstatten (§ 34 a Abs. 3
BVerfGG).
2. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit wird auf 50.000 € (in Worten: fünfzigtausend Euro)
festgesetzt (§ 61 Abs. 1 Satz 1 RVG in Verbindung mit § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO).
Gründe:
I.
1
Mit seiner Verfassungsbeschwerde wandte sich der Beschwerdeführer gegen den gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 des
Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen
vom 10. September 1980, BGBl I, S. 1654 (Transsexuellengesetz - TSG) durch Heirat eingetretenen Verlust des
zuvor gemäß § 1 Abs. 1 TSG geänderten Vornamens.
2
1. Der Beschwerdeführer gehört dem männlichen Geschlecht an. Sein Vorname wurde durch Beschluss des
Amtsgerichts Hamburg vom 9. Juli 1997 gemäß § 1 Abs. 1 TSG in einen weiblichen geändert. Eine
Geschlechtsumwandlung ließ der Beschwerdeführer nicht durchführen. Nachdem der Beschwerdeführer am 5. April
2002 mit einer Frau die Ehe geschlossen hatte, vermerkte der Standesbeamte am 19. September 2002 im
Geburtenbuch, dass der Beschwerdeführer gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG nunmehr wieder den männlichen Vornamen
führe.
3
Der Beschwerdeführer beantragte die Wiederherstellung des weiblichen Vornamens entsprechend § 7 Abs. 3 TSG.
Mit Beschluss vom 11. Juli 2002 wies das Amtsgericht Oldenburg den Antrag zurück. Die hiergegen gerichtete
Beschwerde wies das Landgericht Oldenburg mit Beschluss vom 6. August 2002 zurück. Das Oberlandesgericht
Oldenburg wies die weitere Beschwerde mit Beschluss vom 31. Oktober 2002 zurück. Einen Grundrechtsverstoß
konnten die Gerichte nicht erkennen. Mit seiner Verfassungsbeschwerde griff der Beschwerdeführer die gerichtlichen
Entscheidungen an und rügte unter anderem die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit
Art. 2 Abs. 1 GG.
4
Parallel dazu hatte der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 24. September 2002 beantragt, das Geburtenbuch
gemäß § 47 des Personenstandsgesetzes durch einen weiteren Randvermerk zu berichtigen, der die Unwirksamkeit
des Vermerks des Standesbeamten vom 19. September 2002 feststellt. Nachdem das Amtsgericht Itzehoe den
Antrag zurückgewiesen hatte, setzte das Landgericht Itzehoe auf die sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers
das Verfahren mit Beschluss vom 26. März 2003 aus und legte dem Bundesverfassungsgericht die Frage der
Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG zur Prüfung vor.
5
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts stellte mit Beschluss vom 6. Dezember 2005 - 1 BvL 3/03 - fest,
dass § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG nicht mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar ist, solange
homosexuell orientierten Transsexuellen ohne Geschlechtsumwandlung eine rechtlich gesicherte Partnerschaft nicht
ohne Verlust des nach § 1 des Transsexuellengesetzes geänderten Vornamens eröffnet ist, und erklärte die Norm bis
zum In-Kraft-Treten einer entsprechenden gesetzlichen Regelung für nicht anwendbar.
6
2. Mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2005 hat der Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde für erledigt erklärt
und beantragt, die Bundesrepublik Deutschland, hilfsweise das Land Niedersachsen, zur Erstattung der notwendigen
Auslagen zu verpflichten.
7
Zur Frage der Auslagenerstattung und der Höhe des Gegenstandswerts haben das Bundesministerium des Innern
namens der Bundesregierung und die Niedersächsische Staatskanzlei namens der Landesregierung Niedersachsen
Stellung genommen. Das Bundesministerium des Innern hält eine hälftige Kostenaufteilung zwischen Bund und Land
für sachgerecht, weil sowohl der Bund als auch das Land Niedersachsen durch die angegriffenen Entscheidungen
einen Verursacherbeitrag für die Grundrechtsverletzung geleistet hätten. Die Niedersächsische Staatskanzlei ist der
Erstattungspflicht entgegengetreten. Die niedersächsischen Gerichte hätten über die sich aus der Gesetzesbindung
ergebende Anwendung des § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG hinaus nicht verfassungswidrig gehandelt.
II.
8
1. Der Beschwerdeführer ist gemäß § 34 a Abs. 3 BVerfGG erstattungsberechtigt.
9
Über die Erstattung der Auslagen ist nach Billigkeitsgesichtspunkten zu entscheiden. Wesentliche Bedeutung kann
dabei dem Grund zukommen, der zur Erledigung geführt hat (vgl. BVerfGE 85, 109 <114 f.>; 87, 394 <397 f.>). Die
Auslagenerstattung entspricht der Billigkeit, wenn die Verfassungsbeschwerde offensichtlich Erfolg gehabt hätte und
sich nur deshalb erledigt hat, weil das Bundesverfassungsgericht die klärungsbedürftige Frage in einem Parallelfall
entschieden hat. Dem Beschwerdeführer ist die Erstattung seiner Auslagen in gleicher Weise zuzubilligen, als wenn
seiner Verfassungsbeschwerde stattgegeben worden wäre (vgl. BVerfGE 85, 109 <114 f.>).
10
Grund der Erledigung der Verfassungsbeschwerde war vorliegend die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
im Vorlageverfahren 1 BvL 3/03. Die mit der Verfassungsbeschwerde erhobene Rüge der Verfassungsverletzung ist
im Wesentlichen zutreffend gewesen.
11
Der Beschwerdeführer hat in dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegenden Ausgangsverfahren im Kern auf
eine Wiederherstellung seines geänderten Vornamens hinzuwirken versucht; mit der Senatsentscheidung ist dieses
Bedürfnis entfallen. Insoweit bedarf es der ursprünglich begehrten Wiederherstellung des Vornamens in
entsprechender Anwendung des § 7 Abs. 3 TSG nicht mehr, weil bereits die Aberkennung nach der Eheschließung
nicht erfolgen durfte.
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2. Die Auslagen sind dem Beschwerdeführer je zur Hälfte von der Bundesrepublik Deutschland und dem Land
Niedersachsen zu erstatten. Die niedersächsischen Fachgerichte haben keinen Grundrechtsverstoß erkannt und
damit die Verfassungsbeschwerde veranlasst. Dem Bund ist die Verfassungswidrigkeit des § 7 Abs. 1 Nr. 3 TSG
zuzurechnen (vgl. BVerfGE 101, 106 <132>; 101, 397 f., 104, 357 <358>; 105, 135 <136>).
13
3. Die Entscheidung über die Höhe des Gegenstandswerts beruht auf § 61 Abs. 1 Satz 1 RVG in Verbindung mit
§ 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).
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Entgegen der Ansicht der Niedersächsischen Staatskanzlei hat die Minderung der objektiven Bedeutung der
Verfassungsbeschwerde auf Grund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 keine
Minderung der Höhe des Gegenstandswerts zur Folge. Klärt die öffentliche Gewalt von sich aus die für die
Verfassungsbeschwerde entscheidungserhebliche Frage, so entspricht es dem Gedanken der Billigkeit, die Höhe des
Gegenstandswerts auf Grund der ursprünglichen Bedeutung zu bemessen. Dies gilt insbesondere, wenn die objektive
Bedeutung einer Verfassungsbeschwerde nur deshalb entfällt, weil die entscheidungserhebliche verfassungsrechtliche
Frage in einem nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde anhängig gewordenen Vorlageverfahren geklärt wird.
15
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Hohmann-Dennhardt
Hoffmann-Riem