Urteil des BVerfG vom 27.10.2009
BVerfG: aufschiebende wirkung, vollziehung, wiederherstellung der aufschiebenden wirkung, berufliche tätigkeit, eingriff in grundrechte, berufsfreiheit, genehmigung, widerruf, verfassungsbeschwerde
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 1876/09 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn R...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Daniel Hagmann
in Sozietät Rechtsanwälte Hagmann, Oerder, Beneke,
Aachener Straße 77, 41061 Mönchengladbach -
gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 2009 - L 11
B 8/09 KA ER -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Kirchhof
am 27. Oktober 2009 einstimmig beschlossen:
1.  Die im Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 1. Juli 2009 - L 11 B 8/09 KA ER -
enthaltene Maßgabe, dass die vom Beschwerdeführer vertragsärztlich durchzuführenden
Substitutionsbehandlungen auf 50 Fälle begrenzt werden, verletzt den Beschwerdeführer in seinen
Grundrechten aus Artikel 19 Absatz 4 und Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Der Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen wird insoweit und hinsichtlich der
Kostenentscheidung aufgehoben. Die Sache wird an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen
zurückverwiesen.
2.  Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen für das
Verfassungsbeschwerdeverfahren zu erstatten.
Gründe:
I.
1
Mit  der  Verfassungsbeschwerde  wendet  sich  der  Beschwerdeführer  gegen  einen  Beschluss  des
Landessozialgerichts,  soweit  mit  diesem  die  aufschiebende  Wirkung  seiner  Klage  gegen  den  Widerruf  einer
vertragsarztrechtlichen  Genehmigung  zur  Substitutionsbehandlung  nur  unter  einer  einschränkenden  „Maßgabe“
angeordnet wurde.
2
1.  a)  Der  Beschwerdeführer  ist  als  praktischer  Arzt  zur  vertragsärztlichen  Versorgung  zugelassen.  Im  Juli  2003
wurde  ihm  von  der  zuständigen  Kassenärztlichen  Vereinigung,  der  Antragsgegnerin  des  Ausgangsverfahrens  (im
Folgenden: Antragsgegnerin), eine unbefristete Genehmigung zur substitutionsgestützten Behandlung von bis zu 100
Opiatabhängigen erteilt. Neben den gesetzlich versicherten Patienten wurden von dem Beschwerdeführer bis zu 300
weitere drogenabhängige Patienten aufgrund privater Verträge substitutionsgestützt behandelt.
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Bei  einer  Inspektion  der  Praxis  des  Beschwerdeführers  im  März  2008  stellte  das  Gesundheitsamt  Mängel  in  der
Dokumentation der Zugänge, Abgänge und Bestände der Betäubungsmittel fest und machte diesbezüglich im Oktober
2008 Auflagen zur Fortführung der Praxis.
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b)  Gestützt  auf  den  Bericht  des  Gesundheitsamts  widerrief  die  Antragsgegnerin  mit  Bescheid  vom  17.  Dezember
2008  die  dem  Beschwerdeführer  erteilte  Genehmigung  zur  Substitution  bei  bis  zu  100  Opiatabhängigen  und  ordnete
die  sofortige  Vollziehung  der  Maßnahme  an.  Die  nach  erfolglosem  Widerspruch  hiergegen  erhobene  Klage  ist  beim
Sozialgericht anhängig.
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c)  Nachdem  das  Sozialgericht  den  Antrag  des  Beschwerdeführers  auf  Wiederherstellung  der  aufschiebenden
Wirkung  der  Klage  gegen  den  Widerruf  der  Substitutionsgenehmigung  abgewiesen  hatte,  ordnete  das
Landessozialgericht die aufschiebende Wirkung mit der Maßgabe an, dass die vom Beschwerdeführer vertragsärztlich
durchzuführenden  Substitutionsbehandlungen  auf  50  Fälle  begrenzt  wurden.  Es  ergebe  sich  nach  kursorischer
Prüfung,  dass  die  Erfolgsaussichten  der  Hauptsache  als  offen  zu  bewerten  seien,  mithin  der  Sofortvollzug  nicht
aufrechterhalten  werden  könne.  Zunächst  habe  die  Antragsgegnerin  den  Beschwerdeführer  vor  Erlass  des
Widerrufsbescheids nicht angehört. Ob der Verfahrensverstoß im Widerspruchsverfahren geheilt worden sei, möge im
Hauptsacheverfahren  geprüft  werden.  Der  Bescheid  sei  auch  aus  anderen  Gründen  rechtlich  fragwürdig.  So  sei  im
Hauptsacheverfahren  zu  klären,  auf  welche  Rechtsgrundlage  der  Widerruf  gestützt  werden  könne,  ob  die  jeweiligen
Tatbestandsvoraussetzungen nachweisbar vorlägen und ob gegebenenfalls Ermessen pflichtgemäß ausgeübt worden
sei. Ferner erweise sich die Anordnung der sofortigen Vollziehung im Bescheid vom 17. Dezember 2008 deshalb als
fehlerhaft, weil die Voraussetzungen des § 86a Abs. 2 Nr. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht dargetan seien.
Das  besondere  Interesse  an  der  sofortigen  Vollziehung  sei  nicht  den  Anforderungen  entsprechend  schriftlich
begründet  worden.  An  die  Begründung  seien  hohe  Anforderungen  zu  stellen,  insbesondere  weil  die  Anordnung  des
Sofortvollzugs  ihrerseits  einen  Eingriff  in  die  Berufsfreiheit  des  Betroffenen  darstelle.  Die  Begründung  müsse
erkennen lassen, aus welchen Gründen das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung im konkreten Fall das
Interesse  des  Betroffenen  überwiege.  Dem  werde  die  Begründung  nicht  gerecht.  Dem  Senat  sei  es  verwehrt,  eine
unzureichende  Begründung  der  Antragsgegnerin  nachzubessern.  Schließlich  habe  die  Antragsgegnerin  den
Sachverhalt  unzureichend  aufgeklärt,  denn  sie  habe  sich  allein  auf  den  Bericht  des  Gesundheitsamts  gestützt.  Sie
habe aber nicht geprüft, ob der Beschwerdeführer die darin enthaltenen Feststellungen angegriffen oder gar widerlegt
beziehungsweise  die  ihm  gemachten  Auflagen  erfüllt  habe.  Ob  die  Annahmen  der  Antragsgegnerin  haltbar  seien,
müsse im Hauptsacheverfahren geklärt werden.
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Nach  alledem  gehe  der  Senat  davon  aus,  dass  die  Erfolgsaussichten  des  Hauptsacheverfahrens  offen  und  die
Voraussetzungen  für  den  Sofortvollzug  auch  aus  formellen  Gründen  derzeit  nicht  dargetan  seien.  Ob  eine  erneute
Anordnung der sofortigen Vollziehung in Betracht komme, sei nicht Gegenstand des Verfahrens. Der Senat sehe es
allerdings  als  geboten  an,  die  Zahl  der  vom  Beschwerdeführer  im  Rahmen  der  vertragsärztlichen  Versorgung
durchzuführenden Substitutionsbehandlungen vorerst auf 50 zu begrenzen. Zur Begründung dieser Einschränkung hat
das Gericht auf § 10 Abs. 4 Satz 2 der Richtlinie über die substitutionsgestützte Behandlung Opiatabhängiger (in der
Fassung  der  Bekanntmachung  des  Bundesausschusses  der  Ärzte  und  Krankenkassen  vom  28.  Oktober  2002  -
Deutsches Ärzteblatt 2003, S. 87 -, nunmehr Anlage I Nr. 2 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses zu
Untersuchungs-  und  Behandlungsmethoden  der  vertragsärztlichen  Versorgung;  im  Folgenden:  Substitutionsrichtlinie)
verwiesen.
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2.  Mit  seiner  Verfassungsbeschwerde  wendet  sich  der  Beschwerdeführer  gegen  die  im  Beschluss  des
Landessozialgerichts  enthaltene  Maßgabe  der  Begrenzung  der  vertragsärztlichen  Substitutionsbehandlungen  auf  50
Fälle und rügt eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1, von Art. 3 Abs. 1 in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 3 und von Art. 14 GG.
8
3. Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens wurde
Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens waren beigezogen.
II.
9
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung
der  Grundrechte  des  Beschwerdeführers  aus  Art.  19  Abs.  4  und  Art.  12  Abs.  1  GG  angezeigt  ist  (§  93a  Abs.  2
Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende
Kammerentscheidung  liegen  vor.  Die  für  die  Beurteilung  der  Verfassungsbeschwerde  maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. zu Art. 12 Abs. 1 GG:
BVerfGE 44, 105 <117 ff.>; vgl. zu Art. 19 Abs. 4 GG: BVerfGE 35, 263 <274 f.>; 35, 382 <401 f.>; 93, 1 <13>). Die
Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.
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1. Die Entscheidung des Landessozialgerichts, die aufschiebende Wirkung der Klage des Beschwerdeführers gegen
den Widerruf seiner Genehmigung zur Substitution von bis zu 100 Patienten nur mit der Maßgabe anzuordnen, dass
die von ihm vertragsärztlich durchzuführenden Substitutionsbehandlungen auf 50 Fälle begrenzt werden, verletzt den
Beschwerdeführer  in  seinen  Grundrechten  aus  Art.  19  Abs.  4  und  Art.  12  Abs.  1  GG.  Die  mit  der
Verfassungsbeschwerde  angegriffene  beschränkende  Maßgabe  beruht  auf  einer  Verkennung  des  Anspruchs  des
Beschwerdeführers  auf  die  Gewährung  effektiven  Rechtsschutzes  gegen  eine  hoheitliche  Maßnahme,  die  in  seine
Berufsfreiheit eingreift.
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a) Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen,
sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Grundrechtsträger hat einen substantiellen Anspruch auf eine
tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 35, 382 <401 f.>; 93, 1 <13>; stRspr). Der
Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG kommt daher nicht nur die Aufgabe zu, jeden Akt der Exekutive, der in
Rechte  des  Grundrechtsträgers  eingreift,  vollständig  der  richterlichen  Prüfung  zu  unterstellen,  sondern  auch
irreparable  Entscheidungen,  wie  sie  durch  die  sofortige  Vollziehung  einer  hoheitlichen  Maßnahme  eintreten  können,
soweit  als  möglich  auszuschließen  (vgl. BVerfGE  35,  263  <274>).  Allerdings  können  überwiegende  öffentliche
Belange  es  rechtfertigen,  den  Rechtsschutzanspruch  des  Grundrechtsträgers  einstweilen  zurückzustellen,  um
unaufschiebbare  Maßnahmen  im  Interesse  des  allgemeinen  Wohls  rechtzeitig  in  die  Wege  zu  leiten.  Dabei  ist  der
Rechtsschutzanspruch  umso  stärker  und  darf  umso  weniger  zurückstehen,  je  schwerwiegender  die  auferlegte
Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (vgl. BVerfGE 35, 382 <402>).
Es  kommt  hinzu,  dass  Art.  12  Abs.  1  GG  einen  Eingriff  in  die  Berufsfreiheit  schon  vor  Rechtskraft  des
Hauptverfahrens  als  Präventivmaßnahme  nur  unter  strengen  Voraussetzungen  zur  Abwehr  konkreter  Gefahren  für
wichtige  Gemeinschaftsgüter  und  unter  strikter  Beachtung  des  Grundsatzes  der  Verhältnismäßigkeit  zulässt  (vgl.
BVerfGE 44, 105 <117 ff.>).
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b)  Diesen  verfassungsrechtlichen  Vorgaben  wird  der  Beschluss  des  Landessozialgerichts  nicht  in  jeder  Hinsicht
gerecht.
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aa)  Wie  auch  das  Landessozialgericht  zutreffend  erkannt  hat,  greift  die  Anordnung  der  sofortigen  Vollziehung  des
Widerrufs  der  Substitutionsgenehmigung  durch  die  Antragsgegnerin  in  die  Berufsfreiheit  des  Beschwerdeführers  ein.
Die  Abweichung  von  der  im  Gesetz  grundsätzlich  vorgesehenen  aufschiebenden  Wirkung  des  Rechtsbehelfs  gegen
die  Grundverfügung  (§  86a  Abs.  1  SGG)  stellt  einen  selbständigen  Eingriff  in  den  Rechtskreis  des  Betroffenen  dar
(vgl. BVerfGE 35, 263 <275>; BVerfGK 2, 89 <93>). Durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs
(§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG) wird die berufliche Betätigung des Beschwerdeführers schon vor einer Entscheidung in der
Hauptsache beeinträchtigt. Zwar handelt es sich - anders als etwa beim Sofortvollzug des Widerrufs einer Approbation
- nicht um einen Eingriff in die Berufswahl, weil der Beschwerdeführer weiterhin als Arzt tätig sein kann. Der Eingriff
schränkt  die  Berufsfreiheit  auch  nicht  in  einem  Maße  ein,  der  -  wie  die  sofortige  Vollziehung  der  Entziehung  der
Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung (vgl. BVerfGE 69, 233 <244>) - in seiner Wirkung der Beschränkung der
Berufswahl nahe kommt. Der Status als Vertragsarzt bleibt vielmehr von dem Widerruf der Substitutionsgenehmigung
unberührt. Es handelt sich aber um einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit. Der Beschwerdeführer, der auf der
Grundlage  der  nun  widerrufenen  Genehmigung  eine  ausschließlich  auf  die  Durchführung  von
Substitutionsbehandlungen  spezialisierte  Praxis  betreibt,  wird  durch  die  sofortige  Vollziehung  des  Widerrufs  in  der
Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit erheblich beeinträchtigt. Er verliert seinen Patientenstamm und ist gezwungen,
seine Praxis auf die Behandlung anderer Patientengruppen auszurichten.
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bb)  Greift  eine  Behörde  durch  die  Anordnung  der  sofortigen  Vollziehung  in  dieser  Weise  in  die  Berufsfreiheit  eines
Betroffenen ein, so muss dieser nach Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit haben, eine gerichtliche Entscheidung über
die  Rechtmäßigkeit  dieser  Anordnung  herbeizuführen  (vgl. BVerfGE 35, 263 <275>).  Dem  dient  das  Verfahren  nach
§  86b  Abs.  1  Satz  1  Nr.  2  SGG.  Im  Rahmen  dieses  Verfahrens  hat  das  Gericht  zu  prüfen,  ob  die  Anordnung  der
sofortigen  Vollziehung  nach  §  86a  Abs.  2  Nr.  5  SGG  den  formellen  Anforderungen  entspricht  und  ob  in  materieller
Hinsicht  überwiegende  öffentliche  Belange  es  rechtfertigen,  den  Rechtsschutzanspruch  des  Betroffenen  gegen  die
Grundverfügung  -  ganz  oder  teilweise  -  einstweilen  zurückzustellen,  um  unaufschiebbare  Maßnahmen  im  Interesse
des  allgemeinen  Wohls  rechtzeitig  in  die  Wege  zu  leiten  (vgl. BVerfGE 35, 382 <402>; 44, 105 <120 f.>).  Ob  diese
Voraussetzungen  gegeben  sind,  hängt  von  einer  Gesamtwürdigung  der  Umstände  des  Einzelfalls  und  hier
insbesondere  davon  ab,  ob  eine  weitere  Berufstätigkeit  des  Beschwerdeführers  aufgrund  der
Substitutionsgenehmigung  während  des  laufenden  Hauptsacheverfahrens  konkrete  Gefahren  für  wichtige
Gemeinschaftsgüter befürchten lässt (vgl. BVerfGE 44, 105 <118>; BVerfGK 2, 89 <94>).
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Stellt  das  Gericht  im  Verfahren  nach  §  86b  Abs.  1  Satz  1  Nr.  2  SGG  fest,  dass  die  genannten  Voraussetzungen
nicht  vorliegen,  so  genügt  es  dem  Anspruch  des  Betroffenen  auf  effektiven  Rechtsschutz  nicht,  wenn  es  die
aufschiebende Wirkung des Widerspruchs oder der Klage nicht vollumfänglich anordnet. Soweit § 86b Abs. 1 Satz 1
Nr.  2  SGG  die  Möglichkeit  einer  nur  teilweisen  Anordnung  der  aufschiebenden  Wirkung  vorsieht,  kommt  das  im
Hinblick  auf  Art.  19  Abs.  4  GG  nur  in  Betracht,  wenn  der  Sofortvollzug  hinsichtlich  des  verbleibenden  Teils  formell
rechtmäßig  angeordnet  und  materiell  jedenfalls  in  diesem  Umfang  nach  den  dargestellten  Grundsätzen  durch
überwiegende  öffentliche  Belange  gerechtfertigt  ist.  Stellt  das  Gericht  kein  Überwiegen  öffentlicher  Belange  für  die
teilweise  Aufrechterhaltung  der  angeordneten  sofortigen  Vollziehung  fest  und  ordnet  es  die  aufschiebende  Wirkung
dennoch  nur  eingeschränkt  an,  so  hält  es  einen  präventiven  Eingriff  in  Grundrechte  des  Betroffenen  ohne
Rechtfertigung teilweise aufrecht und verwehrt so den grundgesetzlich garantierten effektiven Rechtsschutz.
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Entsprechendes  gilt  für  die  Anordnung  einer  Auflage  oder  Befristung  nach  §  86b  Abs.  1  Satz  3  SGG  durch  das
Gericht.  Hierbei  handelt  es  sich  um  Nebenbestimmungen  zur  Schaffung  eines  Interessenausgleichs  zwischen
effektivem Rechtsschutz und staatlichem Vollzugsinteresse (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9.
Aufl. 2008, § 86b Rn. 12h). Soweit solche vom Gericht verfügten Nebenbestimmungen ihrerseits den Betroffenen in
grundrechtlich  geschützten  Belangen  beeinträchtigen,  bedarf  es  auch  für  ihre  Anordnung  eines  öffentlichen
Interesses,  das  die  Belange  des  Betroffenen  überwiegt.  Stellt  das  Gericht  ein  entsprechendes  Bedürfnis  für  die
Nebenbestimmung  im  Rahmen  der  Abwägung  nicht  fest,  so  ist  dem  Begehren  des  Betroffenen  auf  Anordnung  der
aufschiebenden Wirkung umfassend zu entsprechen.
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cc)  Vorliegend  stellt  das  Landessozialgericht  seiner  Entscheidung  zwar  einen  Maßstab  für  die  gerichtliche
Überprüfung behördlicher Vollziehungsanordnungen von in die Berufsfreiheit eingreifenden Maßnahmen voran, der mit
Blick  auf  Art.  19  Abs.  4  und  Art.  12  Abs.  1  GG  nicht  zu  beanstanden  ist.  Auch  die  anschließende  Prüfung  der
Erfolgsaussichten  des  Hauptsacheverfahrens  begegnet  keinen  verfassungsrechtlichen  Bedenken.  Ebenso  wenig  zu
beanstanden  ist  die  Prüfung,  ob  die  Anordnung  der  sofortigen  Vollziehung  von  der  Antragsgegnerin  in  einer  den
Anforderungen  des  §  86a  Abs.  2  Nr.  5  SGG  genügenden  Weise  begründet  wurde.  In  diesem  Zusammenhang  wird
zudem  zutreffend  betont,  dass  die  Auswirkungen  des  Widerrufs  auf  die  berufliche  Tätigkeit  des  Beschwerdeführers
mit dem öffentlichen Interesse an dem Sofortvollzug hätten abgewogen werden müssen.
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(1)  Der  angegriffene  Beschluss  verstößt  gleichwohl  gegen  den  Anspruch  des  Beschwerdeführers  auf  effektiven
Rechtsschutz, weil das Landessozialgericht bei seiner Prüfung zwar ausdrücklich zu dem Ergebnis kommt, dass der
Sofortvollzug nicht aufrechterhalten werden kann und die Voraussetzungen für den Sofortvollzug auch aus formellen
Gründen  derzeit  nicht  dargetan  sind,  diese  Feststellungen  jedoch  nicht  durch  die  uneingeschränkte  Anordnung  der
aufschiebenden  Wirkung  der  Klage  gegen  den  Widerruf  der  Genehmigung  umsetzt.  Für  die  verfassungsrechtliche
Beurteilung  kann  dabei  dahinstehen,  ob  das  Landessozialgericht  die  Maßgabe,  dass  die  vom  Beschwerdeführer
vertragsärztlich durchzuführenden Substitutionsbehandlungen auf 50 Behandlungsfälle begrenzt werden, als teilweise
Aufrechterhaltung der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs oder als Nebenbestimmung zur Anordnung
der  aufschiebenden  Wirkung  der  Klage  verstanden  hat.  Der  Sache  nach  setzt  sich  in  der  Begrenzung  auf  50
Behandlungsfälle der in der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Genehmigungswiderrufs liegende Eingriff in die
Berufsausübungsfreiheit  des  Beschwerdeführers  teilweise  fort.  Wäre  die  aufschiebende  Wirkung  der  Klage
uneingeschränkt angeordnet worden, so dürfte der Beschwerdeführer von der widerrufenen Genehmigung während des
Hauptsacheverfahrens weiterhin Gebrauch machen und bis zu 100 Patienten vertragsärztlich mit Substitutionsmitteln
behandeln.  Das  ist  ihm  nach  der  gerichtlichen  Maßgabe  nicht  möglich.  Stellt  ein  Gericht  wie  hier  ausdrücklich  fest,
dass die Voraussetzungen der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht vorliegen, so verwehrt es dem Betroffenen
den  grundgesetzlich  garantierten  effektiven  Rechtsschutz,  wenn  es  den  präventiven  Eingriff  in  seine  Grundrechte
dennoch teilweise aufrechterhält.
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(2)  Überdies  wird  der  angegriffene  Beschluss  noch  aus  einem  weiteren  Grund  weder  den  aus  Art.  12  Abs.  1  GG
folgenden Voraussetzungen für Maßnahmen, die die Berufsfreiheit präventiv beschränken, noch den aus Art. 19 Abs.
4  GG  folgenden  Anforderungen  an  deren  gerichtliche  Überprüfung  gerecht.  Es  lassen  sich  dem  Beschluss  keine
Anhaltspunkte  dafür  entnehmen,  dass  die  Maßgabe  einer  Beschränkung  auf  50  Behandlungsfälle  das  Ergebnis  der
gebotenen  Gesamtwürdigung  der  konkreten  Umstände  unter  Abwägung  zwischen  dem  grundrechtlich  geschützten
Interesse  des  Beschwerdeführers  an  einer  weiteren  Ausübung  seiner  beruflichen  Tätigkeit  im  genehmigten  Umfang
und  dem  öffentlichen  Interesse  an  einer  sofortigen  Vollziehung  des  verfügten  Widerrufs  der  Genehmigung  ist  (vgl.
BVerfGK  2,  89  <94>).  Das  Gericht  hat  hierzu  lediglich  ausgeführt,  die  Begrenzung  erscheine  vorerst  geboten,  und
dabei  auf  §  10  Abs.  4  Satz  2  der  Substitutionsrichtlinie  verwiesen.  Jede  weitere  Begründung  fehlt.  Es  wurde  weder
dargelegt, ob und gegebenenfalls welche Gefahren durch die vertragsärztliche Substitutionsbehandlung von mehr als
50 Patienten durch den Beschwerdeführer während des Hauptsacheverfahrens drohen, noch wurde erörtert, wie sich
der  in  der  Begrenzung  liegende  Eingriff  auf  die  berufliche  Tätigkeit  des  Beschwerdeführers  auswirkt.  Für  eine
Interessenabwägung lässt sich dem Beschluss nichts entnehmen.
20
Der  bloße  Hinweis  auf  §  10  Abs.  4  Satz  2  der  Substitutionsrichtlinie  genügt  als  Begründung  nicht.  Das  gilt  schon
deshalb,  weil  die  Substitutionsrichtlinie  eine  Erweiterung  des  Genehmigungsumfangs  in  §  10  Abs.  4  Satz  3  selbst
vorsieht. Demgemäß war dem Beschwerdeführer die Substitution von bis zu 100 Patienten durch die Antragsgegnerin
unbefristet  genehmigt  worden.  In  Anbetracht  dieser  Erweiterungsmöglichkeit  kann  aus  §  10  Abs.  4  Satz  2  der
Substitutionsrichtlinie nicht gefolgert werden, dass der Richtlinie die Überlegung zugrunde liegt, jede vertragsärztliche
Substitutionsbehandlung von mehr als 50 Patienten werde unabhängig von den Umständen des Einzelfalls konkrete
Gefahren  für  öffentliche  Belange  hervorrufen.  Scheidet  diese  Folgerung  aus,  so  erübrigt  sich  die
verfassungsrechtliche  Prüfung,  ob  unter  Berücksichtigung  der  Grundrechte  des  Beschwerdeführers  eine
entsprechende  Gefahreneinschätzung  ausreichend  wäre,  um  die  durch  das  Gericht  angeordnete  Begrenzung  der
Substitutionsbehandlungen auf 50 Fälle auch ohne Abwägung der gegenläufigen Interessen zu rechtfertigen. Lässt der
Beschluss  des  Landessozialgerichts  somit  nicht  erkennen,  ob  öffentliche  Belange  es  rechtfertigen,  den
Rechtsschutzanspruch  des  Beschwerdeführers  gegen  den  in  seine  Berufsfreiheit  eingreifenden  Widerruf  der
Substitutionsgenehmigung  einstweilen  durch  die  Maßgabe  einer  Beschränkung  auf  50  Substitutionsbehandlungen
teilweise zurückzustellen (vgl. BVerfGE 35, 382 <402>; 44, 105 <120 f.>), so verletzt dies den Beschwerdeführer in
seinen Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 12 Abs. 1 GG.
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2.  Die  im  Beschluss  des  Landessozialgerichts  enthaltene  Maßgabe  einer  Beschränkung  auf  50  Fälle
vertragsärztlicher  Substitutionsbehandlungen  beruht  auf  den  festgestellten  Grundrechtsverletzungen.  Es  kann  daher
offen bleiben, ob auch die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Grundrechtsrügen durchgreifen.
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3.  Der  Beschluss  ist  im  angegriffenen  Umfang  gemäß  §  93c  Abs.  2  in  Verbindung  mit  §  95  Abs.  2  BVerfGG
aufzuheben. Die Sache ist insoweit an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
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4. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof