Urteil des BVerfG vom 05.02.2003
BVerfG: gerichtshof für menschenrechte, faires verfahren, beschleunigtes verfahren, egmr, verfassungsbeschwerde, rechtsstaatsprinzip, belastung, erlass, beschleunigungsgebot, strafzumessung
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 29/03 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn M ...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Ulrich Sommer,
Zülpicher Straße 83, 50937 Köln -
gegen a) den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7. November 2002 - 3 StR 285/02 -,
b)
das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 18. Dezember 2001 - 4 KLs 26/00 -
und Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 5. Februar 2003 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.
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Die Rüge des Beschwerdeführers, das Landgericht habe die übermäßige Länge des Ausgangsverfahrens unter
Verstoß gegen die vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip
hierzu entwickelten Grundsätze nur unzureichend berücksichtigt, ist unbegründet.
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1. Das Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes fordert - nicht zuletzt im Interesse des Beschuldigten - die
angemessene Beschleunigung des Strafverfahrens. Eine von den Justizbehörden zu verantwortende erhebliche
Verzögerung des Verfahrens verletzt den Beschuldigten in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG
auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren (vgl. BVerfGE 46, 17 <28 f.>; Beschluss des Vorprüfungsausschusses des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 - 2 BvR 121/83 -, EuGRZ 1984, S. 94 f.).
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Ob die Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden (vgl.
Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -,
NJW 1992, S. 2472 <2473>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom
19. April 1993 - 2 BvR 1487/90 -, NJW 1993, S. 3254 <3255>). Dabei sind zunächst jene Verfahrensverlängerungen,
die durch Verzögerungen der Justizorgane verursacht worden sind, zu berücksichtigen, sodann die Gesamtdauer des
Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeiten des Verfahrensgegenstandes sowie
das Ausmaß der mit dem Andauern des Verfahrens verbundenen Belastung des Beschuldigten.
Verfahrensverzögerungen, die der Beschuldigte selbst verursacht hat, werden in aller Regel nicht geeignet sein, die
Feststellung einer seine Rechte verletzenden überlangen Verfahrensdauer zu begründen (vgl. Beschluss der
2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992,
S. 2472 <2473>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 -
2 BvR 1487/90 -, NJW 1993, S. 3254 <3255>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgericht vom 14. Juli 1994 - 2 BvR 1072/94 -, NJW 1995, S. 1277 f.; jeweils unter Hinweis auf den
Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November
1983 - 2 BvR 121/83 -, EuGRZ 1984, S. 94 f.).
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Ein Strafverfahren von überlanger Dauer kann den Beschuldigten - zumal, wenn die Dauer durch vermeidbare
Verzögerungen der Justizorgane bedingt ist - zusätzlichen fühlbaren Belastungen aussetzen (vgl. BVerfGE 46, 17
<29>). Diese Belastungen, die in ihren Auswirkungen der Sanktion selbst gleichkommen können, treten mit
zunehmender Verzögerung des Verfahrens in Widerstreit zu dem aus dem Rechtsstaatsgebot abgeleiteten Grundsatz,
wonach die Strafe verhältnismäßig sein und in einem gerechten Verhältnis zum Verschulden des Täters stehen muss
(vgl. BVerfGE 6, 389 <439>; 20, 323 <331>; 50, 5 <12>; 54, 100 <108 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992, S. 2472 <2473>; Beschluss
der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 - 2 BvR 1487/90 -, NJW
1993, S. 2354 <2355>). So wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dazu anhält, in jeder Lage des
Verfahrens zu prüfen, ob die eingesetzten Mittel der Strafverfolgung und der Bestrafung unter Berücksichtigung der
davon ausgehenden Grundrechtsbeschränkungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zum
dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen (vgl. BVerfGE 92, 277 <326>; vgl. schon BVerfGE 46, 17 <29>; im
Zusammenhang mit einem Ordnungswidrigkeitenverfahren siehe auch Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats
des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992, S. 2472 <2473>; ferner Beschluss der
2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. April 1993 - 2 BvR 1487/90 -, NJW 1993, S. 3254 <3255>), verpflichtet er im
Falle eines mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht in Einklang stehenden überlangen Verfahrens zu sorgfältiger Prüfung,
ob und mit welchen Mitteln der Staat gegen den Betroffenen (noch) strafrechtlich vorgehen kann.
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Aus diesem Grund muss sich eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bei der Strafzumessung auswirken,
wenn sie nicht im Ausnahmefall zur Einstellung oder einem unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des
Grundgesetzes herzuleitenden Verfahrenshindernis führt (vgl. Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November 1983 - 2 BvR 121/83 -, EuGRZ 1984, S. 94; Beschluss
der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992,
S. 2472 <2473>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 -
2 BvR 1487/90 -, NJW 1993, S. 3254 <3255>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1994 - 2 BvR 1072/94, NJW 1995, S. 1277 <1278>; Beschluss der
2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 7. März 1997 - 2 BvR 2173/96 -, NStZ 1997,
S. 591). Dabei liegt es schon mit Rücksicht auf das in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK normierte Beschleunigungsgebot und
dessen Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) nahe, ist aber
auch im Blick auf die Bedeutung der vom Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes geforderten
Verfahrensbeschleunigung angezeigt, dass die Fachgerichte, wenn sie in Anwendung des Straf- und
Strafverfahrensrechts die gebotenen Folgen aus einer Verfahrensverzögerung ziehen, dabei die Verletzung des
Beschleunigungsgebots ausdrücklich feststellen und das Ausmaß der Berücksichtigung dieses Umstands näher
bestimmen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 -
2 BvR 1487/90 -, NJW 1993, S. 3254 <3255>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts vom 7. März 1997 - 2 BvR 2173/96 -, NStZ 1997, S. 591, jeweils unter Hinweis auf den
Beschluss des Vorprüfungsausschusses des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. November
1983 - 2 BvR 121/83 -, EuGRZ 1984, S. 94, der seinerseits auf den Beschluss des EGMR vom 15. Juli 1982, EuGRZ
1983, S. 371 ff. <380 ff.> verweist).
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2. Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung gerecht. Ausweislich der Gründe seines Urteils vom
18. Dezember 2001 hat das Landgericht Art und Ausmaß der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung im
Einzelnen festgestellt. Dabei hat es den Verfahrensbeginn zutreffend bereits in der förmlichen Mitteilung von der
Einleitung eines Ermittlungsverfahrens an den Beschwerdeführer gesehen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des
Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. April 1993 - 2 BvR 1487/90 -, NJW 1993, S. 3254 <3256>
unter Hinweis auf das Urteil des EGMR vom 15. Juli 1982, EuGRZ 1983, S. 371 ff. <379>) und sämtliche
Verfahrensteile bis zur abschließenden Gesamtstrafenbildung in den Blick genommen (vgl. Urteil des EGMR vom 15.
Juli 1982, EuGRZ 1983, S. 371 <380>).
8
Die in den Urteilsgründen dokumentierten Erwägungen, welche Zeiträume die Justizorgane für die in den
verschiedenen Stadien des Ausgangsverfahrens jeweils zu veranlassenden Verfahrenshandlungen unter
Berücksichtigung ihres Umfangs und ihrer Schwierigkeiten höchstens in Anspruch nehmen durften, sind zumindest
vertretbar und lassen nicht befürchten, dass das Landgericht Bedeutung oder Tragweite des dem Beschwerdeführer
gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG zustehenden Anspruchs auf ein angemessen
beschleunigtes Verfahren verkannt haben könnte (zum Prüfungsumfang vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten
Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 1992 - 2 BvR 1/91 -, NJW 1992, S. 2472 <2473> m.w.N.).
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Dies gilt zunächst für die Auffassung des Landgerichts, die anfangs auf den Haupttäter konzentrierte
Ermittlungstaktik der Staatsanwaltschaft sei angesichts der Komplexität des aufzuklärenden Sachverhalts sachlich
gerechtfertigt gewesen. Dass das Landgericht den Ablauf der anschließend vor seiner 5. Großen Strafkammer
durchgeführten Hauptverhandlung nicht als unangemessen zögerlich angesehen hat, ist ebenfalls vertretbar. Die vom
Beschwerdeführer angeführte Anzahl kurzer Verhandlungstermine ist bei einem derart umfangreichen
Wirtschaftsstrafverfahren mit insgesamt über 100 Hauptverhandlungstagen nicht außergewöhnlich. Im
Ausgangsverfahren erklärte sie sich - wie der Beschwerdeführer selbst ausführt - zum Teil daraus, dass die
Strafkammer die Beweisaufnahme - auch auf Beanstandung der Verteidigung - auf zahlreiche Beiakten erstreckte.
Schließlich ist es von Verfassungs wegen auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht die infolge der
Durchführung eines Revisionsverfahrens verstrichene Zeit der ermittelten Überlänge nicht hinzugerechnet hat. Denn
dieser Zeitbedarf folgt aus einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Rechtsmittelsystems (vgl. BGH, Beschluss vom
19. Juli 2000 - 3 StR 259/00 -, BGHR, StGB, § 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 15).
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Die vom Landgericht festgestellte rechtsstaatswidrige Überlänge des Verfahrens von insgesamt 26 Monaten ist in
dem angegriffenen Urteil neben dem erheblichen zeitlichen Abstand zwischen Tatbegehung und Aburteilung und der
Belastung des Beschwerdeführers durch die lange Gesamtdauer des Strafverfahrens als eigenständiger
Strafmilderungsgrund berücksichtigt worden (zur Selbständigkeit dieser Strafmilderungsgründe vgl. auch BGH,
Beschluss vom 21. Dezember 1998 - 3 StR 561/98 -, BGHR, StGB § 46 Abs. 2, Verfahrensverzögerung 13).
Außerdem hat das Landgericht das Ausmaß der Herabsetzung der Strafe durch einen Vergleich der mit und ohne
Berücksichtigung des Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot angemessenen Strafe (Gesamtfreiheitsstrafe von
vier Jahren und sechs Monaten gegenüber einer fiktiven Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und neun Monaten)
exakt bestimmt. Die gegen den Beschwerdeführer verhängte Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs
Monaten ist im Hinblick auf die Schwere der vom Landgericht abgeurteilten sieben Betrugsstraftaten auch unter
Berücksichtigung der rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung und der damit für den Beschwerdeführer
verbundenen persönlichen und wirtschaftlichen Nachteile nicht unverhältnismäßig.
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Von einer weiter gehenden Begründung der Entscheidung wird gemäß § 93 d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff