Urteil des BVerfG vom 24.09.2002

BVerfG: einstellung des verfahrens, verfassungsbeschwerde, strafverfahren, grundrechtseingriff, rechtsschutzinteresse, ermittlungsverfahren, wiederholungsgefahr, beschleunigungsgebot, freispruch

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 66/01 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn O...,
- bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Christoph Miseré
Graf-Geßler-Straße 4, 50679 Köln -
gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 25. Oktober 2000 - 2 StR 232/00 -
hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Hassemer,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 24. September 2002 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2
BVerfGG nicht vorliegt. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind entschieden (§ 93a Abs. 2 Buchstabe
a BVerfGG). Die Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt (§ 93a Abs.
2 Buchstabe b BVerfGG); denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 90, 22
<24 ff.>). Sie ist unzulässig, da dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzinteresse fehlt.
I.
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Der Beschwerdeführer ist rechtskräftig vom Vorwurf des Betrugs in 60 Fällen und versuchten Betrugs in sieben
Fällen freigesprochen worden. Der Verfahrensablauf gestaltete sich wie folgt:
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1. Ab November 1986 gingen bei verschiedenen Staatsanwaltschaften im Bundesgebiet Strafanzeigen u.a. gegen
den Beschwerdeführer wegen des Vorwurfs ein, im Zeitraum von Oktober 1984 bis November 1986 den Verkauf einer
Vielzahl von Eigentumswohnungen in Wohnanlagen des sozialen Wohnungsbaus im sogenannten "Erwerbermodell"
zwischen privaten Anlegern und mehreren von ihm beherrschten Gesellschaften, die die Immobilien zuvor gekauft
hatten, betrügerisch vermittelt zu haben. Der Beschwerdeführer erhielt durch Ladung vom 19. Februar 1987 zur
polizeilichen Vernehmung erstmals Kenntnis von dem gegen ihn gerichteten Verfahren. Am 1. August 1994 erhob die
Staatsanwaltschaft Anklage zur Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Köln. Das Hauptverfahren wurde durch
Beschluss vom 21. November 1994 eröffnet. Am 11. Dezember 1998 wurde die Hauptverhandlung auf (vorerst) 126
Sitzungstage vom 13. Januar bis 29. Dezember 1999 terminiert. Tatsächlich verhandelte die Kammer bis zum 30.
September 1999 an insgesamt 44 Verhandlungstagen und stellte das Verfahren wegen überlanger Verfahrensdauer als
Prozesshindernis nach § 260 Abs. 3 StPO durch Urteil ein.
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2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hob der Bundesgerichtshof das erstinstanzliche Urteil auf und verwies
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Bonn. Zur
Begründung führte der Strafsenat aus:
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Ein Verfahrenshindernis ergebe sich zunächst nicht aus dem Eintritt der Verfolgungsverjährung. Ob aus der
Verletzung des Beschleunigungsgebots ein zur Einstellung zwingendes Verfahrenshindernis folge, könne der Senat
nicht abschließend prüfen.
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Grundsätzlich sei das in ganz außergewöhnlichen Sonderfällen aus der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK in
Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Verbot einer weiteren Strafverfolgung als Verfahrenshindernis
zu behandeln und vom Tatrichter als auch vom Revisionsgericht in diesen Fällen von Amts wegen zu
berücksichtigen. Der Senat könne hier auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen und des ihm zugänglichen
Akteninhalts feststellen, dass ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK auf Grund einer vom Angeklagten nicht zu
vertretenden überlangen Verfahrensdauer vorliege. Ob dieser Verstoß aber so gewichtig sei, dass eine Kompensation
im Rahmen einer Sachentscheidung nicht mehr in Betracht komme und er daher der Weiterführung des Verfahrens
insgesamt entgegenstehe, könne regelmäßig nicht ohne tatsächliche Feststellungen zur Tatschuld des Angeklagten
beurteilt werden.
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Das Landgericht habe hierzu keine für das Revisionsgericht nachprüfbaren Feststellungen getroffen. Die
Urteilsgründe erschöpften sich in einer Darstellung der Verfahrensgeschichte sowie rechtlichen Ausführungen einer
rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung. Dem Senat sei es auf Grund des gänzlichen Fehlens tatsächlicher
Feststellungen nicht möglich zu beurteilen, ob die Umstände des Einzelfalls angesichts der überlangen
Verfahrensdauer und des vom Angeklagten nicht zu vertretenden Verstoßes gegen das Beschleunigungsgebot hier
einen Extremfall begründeten, in welchem der Verstoß weder durch eine Berücksichtigung im Rahmen der
Strafzumessung noch etwa durch Einstellung nach § 153a oder § 153 StPO hinreichend ausgeglichen werden könne.
Der rechtsfehlerhafte Verzicht auf nachprüfbare Tatsachenfeststellungen müsse daher zur Aufhebung des Urteils
führen. Denn nach dem Akteninhalt komme vorliegend bei der gebotenen zügigen Sachbehandlung eine
Berücksichtigung des Verstoßes im Rahmen einer Rechtsfolgeentscheidung durchaus noch in Betracht.
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3. Das Landgericht Bonn terminierte das Verfahren neu ab dem 3. Mai 2001. Verhandelt wurde an 43
Verhandlungstagen bis zum 30. November 2001. An diesem Terminstag wurde der Beschwerdeführer freigesprochen.
Das Urteil ist, da die Staatsanwaltschaft ihr ursprünglich eingelegtes Rechtsmittel zurückgenommen hat, seit dem 4.
Februar 2002 rechtskräftig.
II.
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1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs. Mit ihr wird ein Verstoß gegen
die Grundsätze fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), gegen die Unschuldsvermutung (Art. 2
Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) sowie gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG)
geltend gemacht.
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Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, die Voraussetzungen für eine Einstellung des Verfahrens wegen
bestehenden Verfahrenshindernisses hätten entgegen den Ausführungen des Bundesgerichtshofs vorgelegen. Die in
der angegriffenen Entscheidung aufgestellten Anforderungen an die Darlegungspflicht der ersten Instanz seien nicht
nur überzogen, sondern gingen ausschließlich auf Kosten des Angeklagten, der die mangelnden Feststellungen des
Landgerichts nicht zu vertreten habe.
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Zudem sei es dem Landgericht von Verfassungs wegen verwehrt gewesen, in einem Prozessurteil Ausführungen
zum Schuldumfang zu machen. Diese seien allein einem Sachurteil bei Abschluss der Hauptverhandlung und
Schuldspruchreife vorbehalten. Ansonsten liege ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor. Der Umstand, dass
der Bundesgerichtshof nicht selbst das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses geprüft habe, stelle weiterhin einen
Verstoß gegen den gesetzlichen Richter dar.
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2. Um den Ausgang des Verfahrens vor dem Landgericht Bonn abzuwarten und einer etwaigen freisprechenden
Entscheidung nicht vorzugreifen, beantragte der Beschwerdeführer am 5. Oktober 2001, das Ruhen des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens anzuordnen. Diesem Antrag hat die Kammer durch Beschluss vom 22. November
2001 entsprochen.
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3. Nach Rechtskraft des freisprechenden Urteils hat der Beschwerdeführer beantragt, das Verfahren fortzusetzen
und festzustellen, dass die Entscheidung des Bundesgerichtshofs verfassungswidrig gewesen sei. Zur Begründung
seiner
Behauptung,
nach
wie
vor
ein
Rechtsschutzinteresse
an
der
Durchführung
des
Verfassungsbeschwerdeverfahrens zu haben, hat er vorgetragen, trotz des Freispruchs durch das Revisionsurteil
beschwert zu sein.
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Das Strafverfahren und die mediale Berichterstattung hierüber hätten zu erheblichen Beeinträchtigungen persönlicher
und wirtschaftlicher Art geführt. Eine wirtschaftliche Fortentwicklung der von ihm geführten Unternehmen sei nicht
möglich gewesen. Diese Beeinträchtigungen wirkten bis heute fort. Die ihm entstandenen Verluste ließen sich durch
das Entschädigungsrecht nicht angemessen ausgleichen.
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Es bestehe Wiederholungsgefahr. Denn bei der Staatsanwaltschaft Köln sei ein weiteres Verfahren aus demselben
Tatzeitraum anhängig, und bislang sei - nach 14 Jahren - noch keine abschließende Entscheidung getroffen worden.
Es stehe daher zu befürchten, dass sich der massive Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot wiederhole.
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Durch das Urteil des Landgerichts Bonn sei keine prozessuale Überholung eingetreten, da die Rechtmäßigkeit der
Ausführungen des Bundesgerichtshofs nicht geprüft worden sei.
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Das langjährige, in seiner zeitlichen Dauer nicht gerechtfertigte Verfahren stelle einen intensiven Grundrechtseingriff
dar und betreffe eine verfassungsrechtlich bedeutsame Fragestellung. Die angestrebte Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts diene auch der Rechtswegerschöpfung vor einer Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte.
III.
18
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da der Beschwerdeführer kein Rechtsschutzinteresse an der
Feststellung der Verfassungswidrigkeit der revisionsgerichtlichen Entscheidung mehr hat.
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1. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung
des angegriffenen Hoheitsakts oder - in bestimmten Fällen wie dem vorliegenden - jedenfalls für die Feststellung
seiner Verfassungswidrigkeit besteht. Dieses Rechtsschutzbedürfnis muss noch im Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts gegeben sein (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>; 30, 54 <58>; 56, 99 <106>; 72, 1 <5>;
stRspr). Im Falle der Erledigung des mit der Verfassungsbeschwerde verfolgten Begehrens sind die entscheidenden
Kriterien für das Fortbestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses darin zu sehen, dass entweder die Klärung einer
verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung andernfalls unterbliebe und der gerügte
Grundrechtseingriff besonders belastend erscheint, eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist
oder die aufgehobene oder gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer noch weiterhin
beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 33, 247 <257 f.>; 69, 161 <168>).
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2. Das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren des Beschwerdeführers hat sich unabhängig
von der Frage, ob das Landgericht die Revisionsentscheidung überprüft hat, erledigt, weil das Strafverfahren nicht
mehr andauert und durch einen rechtskräftigen Freispruch beendet worden ist. Eine Aufhebung der Entscheidung des
Bundesgerichtshofs und die zugleich begehrte endgültige Einstellung des Verfahrens würden den Beschwerdeführer
schlechter stellen, da mit einer derartigen Entscheidung keine materiell-rechtliche Rehabilitierung einherginge, der
Schuldvorwurf vielmehr im Raum bliebe. Sinnvoll ist daher nur noch ein Feststellungsantrag, den der
Beschwerdeführer konkludent gestellt hat.
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Die Voraussetzungen, unter denen das Rechtsschutzbedürfnis trotz Erledigung des verfolgten Begehrens
fortbesteht, liegen nicht vor.
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a) Sollte die Verfassungsbeschwerde begründet sein, läge in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs kein
Grundrechtseingriff, der in seinen Auswirkungen für den Beschwerdeführer besonders belastend erscheint.
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Ein Verstoß gegen grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Beschwerdeführers liegt hier in erster Linie in
der Verfahrensdauer bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Aus der mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 und 2 i.V.m.
Art. 20 Abs. 3 GG gerügten Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs folgte für den Beschwerdeführer zwar, dass er
sich einer weiteren, über ein halbes Jahr andauernden Hauptverhandlung stellen musste. Diese endete aber mit einem
rechtskräftigen Freispruch, durch den der Beschwerdeführer eine materiell-rechtliche Rehabilitierung erreicht hat.
Zudem hat der Bundesgerichtshof in der angegriffenen Entscheidung in aller Deutlichkeit festgestellt, dass die Dauer
des gegen den Beschwerdeführer durchgeführten Strafverfahrens einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
darstellt; der Strafsenat sah sich lediglich nicht in der Lage, allein auf Grund der ihm zur Verfügung stehenden
Aufklärungsmöglichkeiten und wegen der mangelnden Feststellungen des Landgerichts die zuvor erstmalig in dieser
Schärfe aufgezeigte Konsequenz aus dem Verstoß - von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis - zu
ziehen; auch verfahrensrechtlich ist dem Anliegen des Beschwerdeführers daher im Wesentlichen Genüge getan,
zumal er auf die sofortige Durchführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens parallel zum Strafverfahren durch
seinen Antrag, das Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss ruhen zu lassen, verzichtet hat, um sich die Option
eines Freispruchs offen zu halten.
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Unter diesen Umständen bedarf es keiner Prüfung, ob die Verfassungsbeschwerde Anlass zur Klärung einer
verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung geben könnte (BVerfGE 81, 138 <141>).
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b) Ein Rechtsschutzbedürfnis ist weiterhin nicht unter dem Gesichtspunkt der Wiederholungsgefahr begründet. Der
Beschwerdeführer hat zwar vorgetragen, es sei noch ein ebenso altes Ermittlungsverfahren bei der
Staatsanwaltschaft Köln anhängig. Unabhängig davon, ob dieses Verfahren zu einer Anklage führt, würde der
Durchführung des Verfahrens eine inhaltliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im vorliegenden Fall aber
nicht entgegen stehen. Denn aus der Feststellung, es gebe ein von Verfassungs wegen zu berücksichtigendes
Verfahrenshindernis der überlangen Verfahrensdauer und dessen Voraussetzungen lägen auch im konkreten Fall vor,
könnte nicht der Schluss gezogen werden, dies gelte auch für das weitere Ermittlungsverfahren. Vielmehr wäre der
Beschwerdeführer insoweit erneut auf den fachgerichtlichen Rechtsweg verwiesen und könnte erneut eine
Verfassungsbeschwerde einlegen.
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Kann
der
Beschwerdeführer
somit
seine
Rechte
in
vollem
Umfang
in
einem
späteren
Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen eine etwa in einem neuen Strafverfahren ergangene gerichtliche
Entscheidung wahren, so besteht kein Anlass, im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren trotz Erledigung des
mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgten Begehrens weiterhin ein Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen
(BVerfGE 50, 244 <252>).
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Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG.
28
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hassemer
Osterloh
Mellinghoff