Urteil des BVerfG vom 01.08.2008

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Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 2 BvR 969/08 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S .......
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Achim Depenbrock,
in Sozietät Kanzlei Katenbrink & Depenbrock
Bäckerstraße 9, 32052 Herford -
gegen a) den Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 1. April 2008 - Qs 127/08 III -,
b)
den Beschluss des Amtsgerichts Herford vom 8. November 2007 - 4 VRJs 423/06 -
und Antrag auf Beiordnung des Rechtsanwalts D.
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Vizepräsidenten Voßkuhle,
die Richterin Osterloh
und den Richter Mellinghoff
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 1. August 2008 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Antrag auf Beiordnung des Rechtsanwalts D. wird abgelehnt.
Gründe:
1
Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht
auf Erfolg; sie ist jedenfalls unbegründet.
2
1. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen
Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und
der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Nur bei einer Verletzung von spezifischem
Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde hin
eingreifen (stRspr. seit BVerfGE 1, 418 <420>). Spezifisches Verfassungsrecht ist nicht schon dann verletzt, wenn
eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist; der Fehler muss vielmehr gerade in der
Nichtbeachtung von Grundrechten liegen (BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 113, 88 <103>; stRspr.). In Betracht kommt
insoweit grundsätzlich auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG unter dem Aspekt des Willkürverbots. Nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist ein Richterspruch willkürlich, wenn er unter keinem denkbaren
rechtlichen Aspekt vertretbar ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass er auf sachfremden Erwägungen beruht.
Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen; schuldhaftes Handeln ist nicht erforderlich. Fehlerhafte Auslegung
eines Gesetzes allein macht eine Gerichtsentscheidung aber noch nicht willkürlich. Willkür liegt vielmehr erst vor,
wenn die Rechtslage in krasser Weise verkannt wird (vgl. BVerfGE 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13 f.>).
3
2. Anhaltspunkte dafür, dass die Gerichte den Bedeutungsgehalt des Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit
(Art. 2 Abs. 1 GG) bei der Sachaufklärung oder der Auslegung und Anwendung der §§ 7 JGG, 68f StGB grundsätzlich
verkannt hätten oder ihre Entscheidung willkürlich sei, zeigt der Beschwerdeführer jedoch nicht auf. Die von den
Fachgerichten implizit zugrunde gelegte Auslegung des § 68f Abs. 1 StGB, wonach dessen Tatbestandsmerkmale
„Freiheitsstrafe“ bzw. „Gesamtfreiheitsstrafe“ auch die Jugendstrafe gemäß § 17 Abs. 1 JGG erfassen, ist jedenfalls
nach verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht zu beanstanden.
4
a) Diese Auslegung der §§ 7 JGG, 68f Abs. 1 StGB entspricht der herrschenden Meinung in der Literatur (Eisenberg,
in: JGG, 12. Aufl. 2007, § 7 JGG Rn. 32; Fischer, in: StGB, 55. Aufl. 2008, § 68f StGB Rn. 5 a.E.). Sie kann sich
zudem auf zwei systematische Argumente stützen. Zum einen verweist § 7 JGG für das jugendgerichtliche Verfahren
ausdrücklich auch auf die Führungsaufsicht als mögliche Maßregel der Besserung und Sicherung. Diese Verweisung
liefe weitgehend leer, wenn Jugendstrafe den Tatbestand des § 68f Abs. 1 StGB nicht erfüllen würde, da gegen
Jugendliche keine Freiheitsstrafe im engeren Sinne verhängt werden kann (vgl. §§ 9 bis 19 JGG), sodass sich die
Verweisung des § 7 JGG im Ergebnis ausschließlich auf die Verhängung von Freiheitsstrafe nach allgemeinem
Strafrecht gegen Heranwachsende bezöge. Dies wäre jedoch mit dem Wortlaut des § 105 Abs. 1 JGG kaum in
Einklang zu bringen, wonach der Richter bei Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende gerade „die für
einen Jugendlichen geltenden Vorschriften“ unter anderem des § 7 JGG anzuwenden hat. Zum anderen hätte - wenn
der Gesetzgeber eine Geltung des Rechts der Führungsaufsicht allein für die Verhängung von Freiheitsstrafe nach
allgemeinem Strafrecht durch Jugendgerichte beabsichtigt hätte - eine Verweisung in § 106 JGG weitaus näher
gelegen als die Gesetz gewordene Verweisung in § 7 JGG und damit im allgemeinen Jugendstrafrecht, denn § 106
JGG enthält die übrigen allein für das Verfahren gegen Heranwachsende geltenden Maßgaben für die Anwendung des
allgemeinen Strafrechts. Auch dies weist darauf hin, dass nach der Vorstellung des Gesetzgebers § 7 JGG und das
dort in Bezug genommene Recht der Führungsaufsicht auch auf die Jugendstrafe Anwendung finden soll.
5
b) Vor diesem Hintergrund ist die Anwendung der §§ 7 JGG, 68f Abs. 1 StGB nach Verbüßung einer zweijährigen
Jugendstrafe zumindest vertretbar. Die Fachgerichte haben daher die einfachrechtliche Lage jedenfalls nicht in einer
Weise verkannt, dass das Einschreiten des Bundesverfassungsgerichts gerechtfertigt wäre.
6
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Voßkuhle
Osterloh
Mellinghoff