Urteil des BVerfG vom 17.03.2005

BVerfG: faires verfahren, verfassungsbeschwerde, schriftliche form, zivilprozessordnung, rechtsstaatsprinzip, rechtssicherheit, papier, prozessbeteiligter, verzicht, rüge

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 308/05 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
der FF ... GmbH, gesetzlich vertreten durch den Geschäftsführer F ...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Dr. Christoph Klaas,
Pforzheimer Straße 15, 76227 Karlsruhe -
gegen den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22. Dezember 2004 - XII ZR 107/02 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier
und die Richter Steiner,
Gaier
gemäß § 93 b in Verbindung mit § 93 a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 17. März 2005 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Anwendung des neuen § 552 a der Zivilprozessordnung (im
Folgenden: ZPO) auf eine bereits zuvor zugelassene Revision.
I.
2
1. In einem zum Nachteil der Beschwerdeführerin im Mai 2002 ergangenen Berufungsurteil hatte das
Oberlandesgericht die Revision zugelassen. Die Beschwerdeführerin legte Revision zum Bundesgerichtshof ein und
begründete sie im November 2002.
3
Durch das Erste Gesetz zur Modernisierung der Justiz (1. Justizmodernisierungsgesetz) vom 24. August 2004
(BGBl I S. 2198) wurde mit Wirkung ab 1. September 2004 unter anderem § 552 a in die Zivilprozessordnung
eingefügt. Nach dieser Vorschrift weist das Revisionsgericht nach vorherigem Hinweis die von dem Berufungsgericht
zugelassene Revision durch einstimmigen Beschluss zurück, wenn es davon überzeugt ist, dass die
Voraussetzungen für die Zulassung der Revision nicht vorliegen und die Revision keine Aussicht auf Erfolg hat. Eine
Übergangsvorschrift zu § 552 a ZPO wurde nicht erlassen (vgl. § 29 des Gesetzes betreffend die Einführung der
Zivilprozessordnung).
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Durch Beschluss vom November 2004 wies der Bundesgerichtshof die Beschwerdeführerin darauf hin, dass
beabsichtigt sei, die Revision gemäß § 552 a ZPO zurückzuweisen. Die Voraussetzungen für die Zulassung der
Revision lägen nicht vor. Die Revision habe auch keine Aussicht auf Erfolg; denn gegen die Ausführungen des
Berufungsgerichts sei "revisionsrechtlich nichts zu erinnern". Entsprechend der Ankündigung wies der
Bundesgerichtshof im Dezember 2004 die Revision mit dem angegriffenen Beschluss zurück, wobei er unter anderem
ausführte, § 552 a ZPO sei mangels entgegenstehender Übergangsregelung im vorliegenden Fall anwendbar.
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2. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung von Art. 2
Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG, jeweils in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, außerdem von Art. 103 Abs. 1 GG. Aus
dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folge der Schutz des Vertrauens auf die Beständigkeit von Gesetzen.
Bei der Aufhebung geschützter Rechtspositionen müsse der Gesetzgeber daher eine angemessene
Übergangsregelung treffen. Sie, die Beschwerdeführerin, habe nicht damit rechnen können, dass der
Bundesgerichtshof durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz die Möglichkeit erhalten werde, eine vom
Berufungsgericht zugelassene Revision zurückzuweisen. Anderenfalls hätte sie die Zulassungsfrage nach den
Maßstäben des späteren 1. Justizmodernisierungsgesetzes überprüft. Sie habe stattdessen darauf vertrauen dürfen,
dass ihr Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip)
nicht durch eine in das laufende Rechtsmittelverfahren eingreifende Gesetzesnovelle beeinträchtigt werde. Der
Gesetzgeber habe daher in das Gesetz für § 552 a ZPO eine Überleitungsvorschrift des Inhalts aufnehmen müssen,
dass die Vorschrift erst für Revisionen gelte, die ab In-Kraft-Treten des Gesetzes eingelegt worden seien. Im Übrigen
habe der Bundesgerichtshof auch ohne Übergangsvorschrift bei der Auslegung des § 552 a ZPO berücksichtigen
müssen, dass er an die Zulassung der Revision durch das Berufungsgericht gebunden gewesen sei. Zudem sei
Art. 103 Abs. 1 GG verletzt, weil die Möglichkeit zu Rechtsausführungen in der mündlichen Verhandlung weggefallen
sei. Da der Bundesgerichtshof das Ausgangsverfahren im Vergleich zu anderen Verfahren verzögert bearbeitet habe,
seien schließlich auch Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip sowie das Recht auf ein faires
Verfahren verletzt.
II.
6
Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93 a
Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Der Verfassungsbeschwerde kommt weder eine grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zu, noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin
angezeigt.
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1. Einer grundsätzlichen Bedeutung steht insbesondere entgegen, dass die Anforderungen, die aus dem
Rechtsstaatsprinzip für Änderungen des Prozessrechts während laufender Verfahren auch im Hinblick auf
Rechtsmittel folgen, geklärt sind (vgl. BVerfGE 87, 48 <62 ff.>).
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2. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin
angezeigt; denn die Verfassungsbeschwerde hat keine Aussicht auf Erfolg.
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a) Die Vorschrift des § 552 a ZPO selbst greift die Beschwerdeführerin nur insoweit an, als sie rügt, dass hiermit
eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ermöglicht wird (vgl. § 553 ZPO).
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Aus Art. 103 Abs. 1 GG ergibt sich indessen grundsätzlich kein Anspruch auf mündliche Verhandlung. Vielmehr ist
es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise das rechtliche Gehör gewährt werden soll (vgl.
BVerfGE 89, 381 <391>). Insoweit hat der Gesetzgeber für § 552 a ZPO die schriftliche Form gewählt (vgl. § 552 a
Satz 2 i.V.m. § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
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Diese schriftliche Anhörung hat im Ausgangsverfahren auch stattgefunden. Zwar mag zweifelhaft sein, ob die
hinsichtlich der fehlenden Erfolgsaussichten der Revision nur formelhafte Begründung des Hinweisbeschlusses des
Bundesgerichtshofs für die Sicherstellung rechtlichen Gehörs ausreichen konnte (offen gelassen hinsichtlich der
parallelen Frage bei § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO von BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom
21. November 2002 - 1 BvR 2015/02 -). Dies kann jedoch auf sich beruhen, weil der Verfassungsbeschwerde zu einer
Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG keine ausreichende Begründung zu entnehmen ist.
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b) Auch die Rüge, der Gesetzgeber habe keine Übergangsvorschrift für die Einführung von § 552 a ZPO geschaffen,
geht fehl.
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(1) Die rechtsstaatlichen Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20
Abs. 3 GG) sind als verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe auch dann heranzuziehen, wenn der Gesetzgeber auf
eine bislang gegebene verfahrensrechtliche Lage, in der ein Prozessbeteiligter sich befindet, einwirkt. Das Vertrauen
in den Fortbestand verfahrensrechtlicher Regelungen ist von Verfassungs wegen zwar weniger geschützt als das
Vertrauen in die Aufrechterhaltung materieller Rechtspositionen, im Einzelfall aber können verfahrensrechtliche
Regelungen ihrer Bedeutung und ihres Gewichts wegen in gleichem Maße schutzwürdig sein wie Positionen des
materiellen Rechts (vgl. BVerfGE 87, 48 <63 f.>).
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(2) Diesen Grundsätzen entsprechen sowohl der Verzicht des Gesetzgebers auf eine Übergangsregelung als auch
die Anwendung des § 552 a ZPO durch den Bundesgerichtshof.
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(a) Allerdings wird durch die Einlegung eines nach der jeweiligen Verfahrensordnung statthaften und zulässigen
Rechtsmittels eine gewichtige verfahrensrechtliche Position begründet. Dem trägt der prozessrechtliche Grundsatz
der Rechtsmittelsicherheit Rechnung, in dem auch die dem Rechtsstaatsprinzip zugehörigen Grundsätze der
Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes ihren Niederschlag gefunden haben. Fehlt es daher an einer
gesetzlichen Übergangsregelung, so ist es verfassungsrechtlich geboten, dass die Gerichte den Grundsatz des
intertemporalen Prozessrechts beachten, wonach eine nachträgliche Beschränkung von Rechtsmitteln nicht zum
Fortfall der Statthaftigkeit bereits eingelegter Rechtsmittel führt (vgl. BVerfGE 87, 48 <64 f.>).
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Einen solchen Vertrauensschutz kann die Beschwerdeführerin für sich jedoch nicht in Anspruch nehmen; denn
entgegen ihrer Auffassung ist ihre zulässig eingelegte Revision durch die Gesetzesänderung nicht nachträglich
unzulässig geworden. Auf der Grundlage des § 552 a ZPO ergeht keine Entscheidung über die Statthaftigkeit einer
Revision. Das Gesetz gibt dem Revisionsgericht vielmehr als Prüfungsmaßstab die Erfolgsaussichten der Revision
vor; nur wenn es an diesen fehlt, bleibt das Rechtsmittel ohne Erfolg. Hiernach ist entscheidend, ob die Revision nach
dem Akteninhalt unbegründet ist und weiteres Vorbringen des Revisionsklägers, das ihr zur Begründetheit verhelfen
könnte, bei prognostischer Bewertung nicht erwartet werden kann (vgl. Musielak/Ball, Zivilprozessordnung, 4. Aufl.
2005, § 552 a Rn. 2, § 522 Rn. 20; vgl. auch Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BTDrucks
15/3482, S. 19). Dementsprechend geht der Gesetzeswortlaut dahin, dass die Revision nach § 552 a ZPO
zurückzuweisen und nicht als unzulässig zu verwerfen ist. § 552 a ZPO normiert danach eine weniger aufwändige Art
der sachlichen Erledigung einer Revision.
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(b) Auch in anderer Hinsicht kann die Beschwerdeführerin ein schützenswertes Vertrauen nicht geltend machen.
Dies gilt ungeachtet der Frage, ob die Einführung des Zurückweisungsbeschlusses nach § 552 a ZPO lediglich eine
ordnungsrechtliche, technische Prozessführungsregel schafft oder ob diese Änderung der Zivilprozessordnung eine
Rechtsposition betrifft, die in ihrer Schutzwürdigkeit materiell-rechtlichen Gewährleistungen vergleichbar ist (vgl.
BVerfGE 87, 48 <63 f.>).
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Nach den Grundsätzen des Vertrauensschutzes setzt die Schutzwürdigkeit des Betroffenen in jedem Fall voraus,
dass er eine entsprechende Disposition getätigt hatte, die er in Kenntnis der bevorstehenden Änderung nicht
vorgenommen hätte. Die Beschwerdeführerin behauptet jedoch selbst nicht, dass sie, wäre ihr die Anwendbarkeit des
§ 552 a ZPO bekannt gewesen, von der Einlegung der Revision abgesehen hätte. Ihrem Vorbringen zufolge hätte sie
das beabsichtigte Rechtsmittel lediglich anhand der Voraussetzungen des § 552 a ZPO geprüft. Diese Prüfung hätte
aber zu keinem anderen Ergebnis als der Einlegung der Revision führen können. Da sie tatsächlich Revision eingelegt
hat, muss die Beschwerdeführerin dieses Rechtsmittel für erfolgversprechend gehalten haben. Eine Revision mit
Aussicht auf Erfolg kann aber durch einen Beschluss nach § 552 a ZPO selbst dann nicht zurückgewiesen werden,
wenn es an einem Zulassungsgrund fehlt. Die mit Blick auf § 552 a ZPO zusätzlich erforderliche Prüfung der
Zulassungsfrage konnte danach für die Entscheidung der Beschwerdeführerin über die Einlegung der Revision keine
Bedeutung erlangen. Anderes könnte nur gelten, wenn die Beschwerdeführerin mit der Revisionseinlegung sachfremde
und damit nicht schutzwürdige Ziele verfolgt hätte.
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c) Für die Annahme einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG aufgrund verzögerlicher Bearbeitung des
Ausgangsverfahrens gibt es ebenso wenig einen Anhaltspunkt wie für eine Verletzung des Rechts auf ein faires
Verfahren. Insbesondere gibt es keinen Hinweis für eine gezielte Verschleppung des Revisionsverfahrens durch den
Bundesgerichtshof mit Blick auf die erwartete Einfügung des späteren § 552 a ZPO.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 93 d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG).
Papier
Steiner
Gaier