Urteil des BVerfG vom 23.06.2004

BVerfG: wiedereinsetzung in den vorigen stand, anspruch auf rechtliches gehör, verfassungsbeschwerde, rechtsstaatsprinzip, grundrecht, papier, offenkundig, verschulden, kontrolle, prozess

Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 496/00 -
Im Namen des Volkes
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn B...
- Bevollmächtigter:
Rechtsanwalt Bernd-Michael Jetter,
Rotebühlplatz 37, 70178 Stuttgart -
gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 3. Februar 2000 - 21 S 387/99 -
hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
den Präsidenten Papier,
den Richter Steiner
und die Richterin Hohmann-Dennhardt
am 23. Juni 2004 einstimmig beschlossen:
1. Das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 3. Februar 2000 - 21 S 387/99 - verletzt den Beschwerdeführer in
seinem Grundrecht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil wird - soweit es die Berufung des
Beschwerdeführers als unzulässig verwirft - aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Düsseldorf
zurückverwiesen.
2. Das Land Nordrhein-Westfalen hat dem Beschwerdeführer seine notwendigen Auslagen zu erstatten.
3. Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 8.000
€ (in Worten: achttausend Euro) festgesetzt.
Gründe:
I.
1
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung eines Wiedereinsetzungsantrages und die Verwerfung einer
Berufung als unzulässig. Die fristgerecht per Telefax beim Landgericht eingegangene, insgesamt neun Seiten
umfassende Berufungsbegründung war auf Seite fünf nur zur Hälfte lesbar, die Seite sechs fehlte gänzlich. Der
Originalschriftsatz ging nach Fristablauf bei dem Gericht ein.
2
Mit dem angegriffenen Urteil wies das Landgericht Düsseldorf die Berufung als unzulässig zurück. Die
Berufungsbegründung sei nicht formgerecht innerhalb der Frist des § 519 Abs. 2 ZPO eingegangen. Die Berufung sei
unzulässig, da der Prozessbevollmächtigte des Beschwerdeführers die fehlerhafte Übertragung hätte erkennen und
den fristgerechten Eingang durch Einwurf des Originals in den Gerichtsbriefkasten hätte sicherstellen können. Wegen
originären Anwaltsverschuldens komme auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht.
II.
3
Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde die Verletzung von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit
dem Rechtsstaatsprinzip sowie Art. 103 Abs. 1 GG.
III.
4
Der Landesregierung Nordrhein-Westfalen sowie den Beteiligten des Ausgangsverfahrens wurde Gelegenheit zur
Stellungnahme gegeben.
IV.
5
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr nach § 93 c Abs. 1 Satz 1 in
Verbindung mit § 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG statt.
6
1. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus
Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende
Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Die für die Beurteilung maßgeblichen verfassungsrechtlichen
Fragen zur Gewährung rechtlichen Gehörs sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
beantwortet (vgl. BVerfGE 60, 305 <310 f.>; 69, 145 <148 f.>; 74, 228 <233 f.>; 75, 302 <312>).
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2. Die angefochtene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 103 Abs. 1 GG. Die
Verwerfung seiner Berufung als unzulässig verstößt gegen den in Art. 103 Abs. 1 GG verankerten Anspruch auf
rechtliches Gehör.
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a) Art. 103 Abs. 1 GG gebietet es, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das
gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Ausmaß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in
bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 54, 277, <291>) folgenden Erfordernis
eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im
Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten. Die nähere Ausgestaltung des rechtlichen
Gehörs muss aber den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen bleiben (vgl. BVerfGE 67, 208 <211>; 74, 228
<233 f.>). Die Verletzung solcher Bestimmungen stellt nicht generell zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1
GG dar. Eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts liegt erst dann vor, wenn das Gericht bei der Auslegung
oder Anwendung der Verfahrensvorschriften die Bedeutung oder Tragweite des Anspruchs auf rechtliches Gehör
verkannt hat (vgl. BVerfGE 60, 305 <310 f.>; 74, 228 <233>; 75, 302 <312>). Da die das rechtliche Gehör in
verfassungsrechtlich zulässiger Weise einschränkenden Formvorschriften in gleicher Weise wie Fristvorschriften
einschneidende Folgen für die Parteien nach sich ziehen und sich regelmäßig im grundrechtsrelevanten Bereich
bewegen, ist die Auslegung und Anwendung dieser, das rechtliche Gehör beschränkenden Vorschriften durch die
Fachgerichte einer strengeren verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen als dies üblicherweise bei der
Anwendung einfachen Rechts geschieht (vgl. BVerfGE 75, 302 <312>). Art. 103 Abs. 1 GG ist daher nicht nur dann
verletzt, wenn die Entscheidung einer bloßen Willkürkontrolle nicht standhält, sondern auch dann, wenn die
Rechtsanwendung offenkundig unrichtig ist (vgl. BVerfGE 75, 302 <312>).
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b) Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die angegriffene Entscheidung den verfassungsrechtlich
gewährleisteten Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör. Die von dem Landgericht vertretene
Auffassung, die Berufung sei aufgrund der auf einem Verschulden des Anwaltes beruhenden unvollständigen
Übersendung der Berufungsbegründung unzulässig, ist offenkundig rechtsfehlerhaft. Sie findet in den Vorschriften der
§§ 519 b, 519 Abs. 2 und 3 ZPO a.F. keine Stütze, nach denen sich die Zulässigkeit der Berufung
verschuldensunabhängig danach bestimmt, ob neben den sonstigen Frist- und Formvoraussetzungen die
Berufungsbegründung den in § 519 Abs. 3 ZPO a.F. abschließend bestimmten Inhalt aufweist. Ohne jegliche
Überprüfung der fristgerecht per Telefax eingegangenen Berufungsbegründung auf den - vorliegend enthaltenen -
Mindestinhalt hat das Landgericht die Unzulässigkeit allein aus einem von der Partei verschuldeten, generellen Fehlen
einzelner Passagen des Berufungsbegründungschriftsatzes geschlossen. Die Entscheidung entbehrt damit jeder
rechtlichen Grundlage.
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c) Die angegriffene Entscheidung des Landgerichts Düsseldorf beruht auf dem dargelegten Grundrechtsverstoß. Es
ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht bei Beachtung des Art. 103 Abs. 1 GG zu einem anderen Ergebnis
gekommen wäre. Es bedarf daher auch keiner Prüfung, ob die darüber hinaus gerügten Grundrechtsverletzungen
vorliegen.
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3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2
BVerfGG. Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswertes folgt aus § 113 Abs. 2 Satz 2 BRAGO
(vgl. auch BVerfGE 79, 365 <366>).
12
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Papier
Steiner
Hohmann-Dennhardt