Urteil des BVerfG vom 10.03.2008
BVerfG: verfassungsbeschwerde, körperliche unversehrtheit, hauptsache, sozialhilfe, rechtsschutz, nahrung, körperpflege, subsidiarität, wiedergabe, krankenpflege
Entscheidungen
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
- 1 BvR 2925/07 -
In dem Verfahren
über
die Verfassungsbeschwerde
des Herrn S…
- Bevollmächtigte:
LWB Rechtsanwälte, Steffen Lehmann & Jenny Werner-Buhl,
Bürgerheimstraße 5, 10365 Berlin -
gegen
a)
den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 1. Oktober 2007 - L
24 B 507/07 KR ER -,
b)
den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 13. Juni 2007 - S 3 KR 230/06 ER -
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
die Richterin Hohmann-Dennhardt
und die Richter Gaier,
Kirchhof
gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S.
1473) am 10. März 2008 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Gründe:
1
Die  Verfassungsbeschwerde  ist  nicht  zur  Entscheidung  anzunehmen.  Ihr  kommt  weder  grundsätzliche
verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten
Rechte angezeigt (vgl. BVerfGE 90, 22 <24>; 96, 245 <248>). Sie hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, denn
sie ist unzulässig. Der Beschwerdeführer hat entgegen § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG den Rechtsweg nicht erschöpft.
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1.  Die  Verfassungsbeschwerde  richtet  sich  gegen  Entscheidungen  im  einstweiligen  Rechtsschutz.  Grundsätzlich
muss nach Abschluss des Eilrechtsverfahrens auch der Rechtsweg in der Hauptsache erschöpft sein, wenn dort nach
der Art des gerügten Grundrechtsverstoßes die Gelegenheit besteht, der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen
(v gl . BVerfGE  104,  65  <70  f.>).  Das  ist  regelmäßig  anzunehmen,  wenn  mit  der  Verfassungsbeschwerde
Grundrechtsverletzungen gerügt werden, die sich auf die Hauptsache beziehen, außer dies ist unzumutbar, etwa weil
die  Durchführung  des  Verfahrens  von  vorneherein  und  offensichtlich  aussichtslos  erscheinen  muss.  Beruht  eine  im
Eilrechtsverfahren ergangene fachgerichtliche Entscheidung auf der Beurteilung schwieriger rechtlicher Fragen, die in
der  fachgerichtlichen  Rechtsprechung  noch  nicht  höchstrichterlich  entschieden  sind,  und  bietet  das
Hauptsacheverfahren  die  Möglichkeit  weiterer  Klärung,  so  steht  es  der  Zumutbarkeit  einer  Verweisung  auf  den
Rechtsschutz in der Hauptsache jedoch nicht entgegen, dass bereits im Eilverfahren eine mehr als nur summarische
Prüfung der für die Beurteilung maßgeblichen Rechtsfragen erfolgt ist (vgl. BVerfGE 104, 65 <71>).
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2.  Hier  liegen  die  Voraussetzungen,  unter  denen  vom  Erfordernis  der  Rechtswegerschöpfung  in  der  Hauptsache
abgesehen  werden  kann,  nicht  vor.  Die  Beschreitung  des  Rechtswegs  in  der  Hauptsache  ist  nicht  von  vorneherein
aussichtslos.  Denn  der  Beschwerdeführer  hat  im  fachgerichtlichen  Verfahren  und  mit  der  Verfassungsbeschwerde
Fragen  aufgeworfen,  die  auch  im  Hinblick  auf  die  gerügten  Grundrechtsverletzungen  einer  weiteren  Klärung  im
Hauptsacheverfahren bedürfen und den Zugang zur Revisionsinstanz eröffnen können.
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a)  Nach  den  Feststellungen  der  Sozialgerichte  hat  der  Beschwerdeführer  Anspruch  auf  Sachleistungen  der
gesetzlichen Krankenversicherung gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V in Form der Sicherstellungspflege rund um die
Uhr,  also  für  24  Stunden.  Für  diese  Zeit  ist  durchgehend  die  Anwesenheit  einer  qualifizierten  Pflegeperson
erforderlich, welche seine Atmung beobachtet und in regelmäßigen Abständen Sekret absaugt. Die Krankenkasse des
Beschwerdeführers  erbringt  diese  Leistung  jedoch  nur  im  Umfang  von  19  Stunden  am  Tag.  Für  die  verbleibenden  5
Stunden  wird  der  Beschwerdeführer  auf  die  Leistungen  der  Pflegeversicherung,  erforderlichenfalls  auf  ergänzende
Leistungen der Sozialhilfe, verwiesen.
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Die  angegriffenen  Entscheidungen  haben  dies  unter  Berufung  auf  die  Rechtsprechung  des  Bundessozialgerichts
(Urteil  vom  28.  Januar  1999  -  B  3  KR  4/98  R  -,  BSGE  83,  254  <264>;  Urteil  vom  10.  November  2005  -
B 3 KR 38/04 R -, SozR 4-2500 § 37 Nr. 6) für zutreffend gehalten, da für die Zeiten, welche in die Leistungspflicht
der  Pflegekasse  fielen,  kein  Anspruch  auf  Leistungen  der  Sicherstellungspflege  bestehe.  Ein  derartiger,  allgemein
geltender  Rechtssatz  kann  der  Rechtsprechung  des  Bundessozialgerichts  indes  nicht  entnommen  werden.  Denn  in
den entschiedenen Fällen wurde stets sowohl die rund um die Uhr erforderliche medizinische Behandlungspflege nach
§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V als auch die Grundpflege im Sinne des SGB XI durch ein und dieselbe Pflegeperson bzw.
den Pflegedienst zusammen erbracht. Das ist im Fall des Beschwerdeführers anders. Der Pflegedienst ist 24 Stunden
am  Tag  ausschließlich  für  die  Behandlungspflege,  also  die  Atmungsbeobachtung,  das  Absaugen  von  Sekret  und
weitere medizinische Hilfen zuständig. Die Grundpflege des Beschwerdeführers - also die Hilfe bei der Körperpflege,
bei der Aufnahme von Nahrung und bei der Mobilität - wird hingegen im Wesentlichen von seiner Mutter übernommen.
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Es ist offen und bedarf der rechtlichen Klärung, ob diese Situation, in der nach den bisher getroffenen Feststellungen
medizinische  Behandlungspflege  und  Grundpflege  im  Sinne  des  SGB  XI  von  verschiedenen  Pflegepersonen
nebeneinander erbracht werden, einen Fall darstellt, bei dem im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts
die  Behandlungspflege  hinter  die  Grundpflege  zurücktritt.  Mit  dieser  Frage  beschäftigen  sich  die  angegriffenen
Entscheidungen jedoch nicht. Sowohl das Sozialgericht als auch das Landessozialgericht beschränken sich in ihren
Entscheidungsgründen  auf  eine  Wiedergabe  der  Entscheidungen  des  Bundessozialgerichts,  ohne  die  konkreten
Umstände des Sachverhalts in den Blick zu nehmen. Auch eine nähere Erörterung des Konkurrenzverhältnisses von
Sicherstellungspflege nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V und Grundpflege nach dem SGB XI fehlt. Nach § 13 Abs. 2
SGB XI bleiben die Leistungen der häuslichen Krankenpflege von den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung
„unberührt“. Die Auffassung der Sozialgerichte, eine rund um die Uhr erforderliche Sicherstellungspflege trete für die
Zeit  der  Grundpflege  hinter  die  Leistungen  nach  dem  SGB  XI  zurück,  bedarf  vor  dem  Hintergrund  dieser  Vorschrift
aber einer näheren, die Umstände des konkreten Falles einbeziehenden rechtlichen Erörterung.
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b)  Gleiches  gilt  für  die  mit  der  Verfassungsbeschwerde  geltend  gemachten  Grundrechtsverletzungen.  Der
Beschwerdeführer  macht  -  gestützt  auf  die  Entscheidung  des  Bundesverfassungsgerichts  vom  6.  Dezember  2005
(1 BvR 347/98; BVerfGE 115, 25 ff.) - geltend, die Auslegung des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V durch die Sozialgerichte
führe dazu, dass der Staat fünf Stunden am Tag seiner Schutzpflicht gegenüber dem Recht des Beschwerdeführers
auf  Leben  und  körperliche  Unversehrtheit  nicht  nachkomme.  Damit  sind  Fragen  zur  Reichweite  der  Grundrechte,
insbesondere  zum  verfassungsrechtlichen  Anspruch  auf  Bereitstellung  spezieller  Gesundheitsleistungen,
angesprochen.  Hierzu  hat  der  Beschwerdeführer  erstmals  mit  der  Verfassungsbeschwerde  vorgetragen.  Der
Grundsatz  der  Subsidiarität  der  Verfassungsbeschwerde  bedingt  aber  eine  vorherige  Überprüfung  der
verfassungsrechtlichen Fragen im fachgerichtlichen Verfahren (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats
vom 17. Januar 2008 - 1 BvR 2964/07 - m.w.N.).
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3.  Dem  Beschwerdeführer  entsteht  durch  den  Verweis  auf  den  Rechtsweg  in  der  Hauptsache  kein  schwerer  und
unabwendbarer  Nachteil  im  Sinne  von  §  90  Abs.  2  Satz  2  BVerfGG,  der  ein  Absehen  von  dem  Erfordernis  der
Erschöpfung  des  Hauptsacherechtswegs  rechtfertigen  könnte.  In  der  Vergangenheit  ist  der  Beschwerdeführer  durch
den  Pflegedienst  24  Stunden  am  Tag  fachpflegerisch  versorgt  worden.  Er  trägt  weder  vor,  dass  sich  hieran  etwas
geändert  hat,  noch  dass  eine  solche  Veränderung  droht.  Zur  Abwendung  einer  aktuell  bestehenden
Finanzierungslücke  hätte  der  Beschwerdeführer  zunächst  die  Möglichkeit,  statt  des  bisher  bezogenen  Pflegegeldes
von  665  €  Pflegesachleistungen  gemäß  §  36  Abs.  1  SGB  XI  zu  beantragen,  aus  der  Pflegeeinsätze  bis  zu  einem
Gesamtwert von 1.432 € gezahlt werden können. Ansonsten ist der Beschwerdeführer auf Leistungen der Sozialhilfe
zu verweisen. Nach Lage der Akten sind derartige Leistungen bereits im September 2006 beantragt worden und nach
den Erklärungen des Landkreises Teltow-Fläming im Erörterungstermin vor dem Sozialgericht vom 13. Juni 2007 sind
die  wirtschaftlichen  Voraussetzungen  für  einen  entsprechenden  Anspruch  bei  summarischer  Prüfung  gegeben.  Der
Beschwerdeführer  hat  nicht  vorgetragen,  dass  solche  Leistungen  nicht  gewährt  werden,  sondern  lediglich  geltend
gemacht,  er  dürfe  auf  Leistungen  der  Sozialhilfe  nicht  verwiesen  werden.  Es  ist  aber  nicht  ersichtlich,  dass  dem
Beschwerdeführer die Inanspruchnahme von ergänzenden Leistungen der Sozialhilfe unzumutbar wäre.
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Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Hohmann-Dennhardt
Gaier
Kirchhof